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Trauerfeier Roger Willemsen: Auf dem Schweigen einen Fleck hinterlassen

»Sich und seine Leser aussetzen, um der Welt nicht ausgesetzt zu sein.« Oliver Vogel, Programmleiter im S. Fischer Verlag, erkundet in seiner Trauerrede den hippokratischen Eid von Roger Willemsens Schreiben – und stößt auf die »Isla Rogers«, die noch hinter dem Ende der Welt liegt.

Liebe Frau Willemsen,
liebe Eva, liebe Emma, lieber Jan,
liebe Freunde von Roger,

am sechzigsten Geburtstag von Roger wollte ich eine Rede halten. Das Fest fiel aus und auch die Rede. Ich weiß nicht, ob ich damals die richtigen Worte gefunden hätte, aber ich hätte gewusst: Roger ist dabei, es kann mir nichts passieren.

1994 hat Roger ein Buch veröffentlicht, es hieß ›An der Grenze‹. Es enthielt Gespräche mit Mördern, Gewaltopfern und Todeskandidaten. ›An der Grenze‹ ist eine mögliche Überschrift für all das, was er getan hat in Schrift und Tat. Er ging den Weg an die Grenze. Als ich überlegte, was das heißt – ›An der Grenze‹ – fiel mir ein Disput ein, ein Disput, wie er immer wieder vorkommt, zwischen Autoren und Verlag, wie er aber in der Arbeit mit Roger eher selten war. Es ging um einen Buchtitel.

Roger wollte das Begegnungsbuch ›Gute Tage‹ ›Die Menschenmöglichen‹ nennen. Wir wollten diesen Titel damals nicht. Später haben wir das anders gesehen. Denn genau das, das Menschenmögliche, zeichnete Roger und sein Schreiben aus: Er ist stets an seine Grenzen gegangen, und es waren immer die Grenzen dessen, was menschenmöglich ist. Dass er die Menschen, mit denen er sprach, in all ihren Möglichkeiten zu verstehen, zu erfassen suchte, ja dass er im Zuge dessen in schönster Wechselwirkung auch die vielfältigen Möglichkeiten dieser Menschen erweitert hat, weiß jeder, der ihn einmal erlebt hat.

Roger hörte nicht auf, auch nicht vor der größten Schönheit. Er kehrte nicht um, auch nicht vor dem größten Schrecken. Er setzte sich aus, als wäre die Welt, auch an ihren Enden, ein immer lohnender Ort, als wären Kamtschatka, der Nordpol, selbst die äußersten und traurigsten Ränder noch Orte, an denen das Leben lebenswert ist.

Aber mir kommt es so vor, als bezeugten diese Grenzabschreitungen noch etwas anderes. Ich glaube, dass diese nie erlahmende Aufmerksamkeit und die Entschlossenheit, auch noch das scheinbar Unmögliche zu ermöglichen, der Kern dessen ist, was ihn auszeichnete. In jenem Gesprächsband ›An der Grenze‹ interviewt Roger einen (vermutlich unschuldig) zum Tode Verurteilten. Der im Todestrakt einsitzende Roger Keith Coleman sagt auf Rogers Frage, welche Bedeutung das Wort Freiheit für ihn habe, folgendes: »Für mich ist die Freiheit etwas, das es so (in der Todeszelle), rein praktisch, nicht mehr gibt. Aber eigentlich kann Ihnen kein Mensch die Freiheit nehmen (...). Die Freiheit ist (...) ein Geisteszustand (...). Ich habe hier erfahren, was Freiheit bedeutet, obwohl ich Tag für Tag in meiner winzigen Zelle bin. Vielleicht bin ich freier als neunzig Prozent der Menschen draußen, in der sogenannten freien Welt.« (AdG 47)

Die Wirklichkeit ist schwach, sie kann sich nicht ausdrücken. Die Freiheit, die Coleman beschreibt, erreichte Roger im Sprechen, Denken und Schreiben. Roger sah die Wirklichkeit mit der Brille des Vorstellbaren. Er erfand Blickweisen – wie das Ende der Welt, wie den Knacks – und setzte dahinter einen Doppelpunkt. So verwandelte er die Ausschnitte der Welt in das, was sie sein könnten.

Begegnete die Welt Rogers emphatischer Aufmerksamkeit, entstand eine bestimmte Form von Sätzen. Es sind diese Sätze, die bei ihm eine Schreibform in eine Lebensform verwandeln, aus der auch eine Forderung an seine Leser erwächst. Das sind Sätze, die eingreifen in das Fortschreiten der Handlung, in jede automatisierte Bewegung im Text. Das sind Sätze, in denen Leben bleibt. Das Leben wird erhalten in der Freiheit solcher Sätze.

Für mich als Willemsen-Leser ist das Willemsen-Lesen eine Lebenshilfe. Nicht zuletzt war der griechische aphorismós ursprünglich ein medizinischer Lehrsatz. Für mich heißt Willemsen-Lesen das, was – so stelle ich mir das vor – für Roger, das Willemsen-Schreiben hieß: Ein Satz wird nicht geschaffen, ein Satz wird zugelassen. Ein Satz beendet nicht, fixiert nicht, er beginnt und löst etwas aus. Ein Satz beginnt, wandert und lebt ein eigenes Leben. Ein Satz heißt: etwas auswerfen, über den Punkt hinaus, auf dem man steht, also über sich selbst hinaus. Ein Satz heißt: sich der Welt und dem, was vorstellbar ist, auszusetzen. Bei Roger hieß das: sich dem aussetzen, um dem nicht ausgesetzt zu sein.

So gesehen war Roger also ein Aphoristiker, wenn auch einer, der Essays schrieb, die ja der große Bruder des Aphorismus sind. Und der Schritt, den Roger gegangen ist, war noch ein anderer: Er nutzte den kleinen Bruder Aphorismus nicht, um dort eine Idee zu haben, von der man abwinkend sagen kann, dass sei doch nur so eine Idee gewesen. Bei ihm stand dieser kleine Bruder für eine Haltung zur Welt, die Verantwortung übernimmt. Als hätten sich Augenblicke des Daseins unbemerkt in den Fluss eines Textes und des Lebens geschlichen, um dort eine eigene Bewegung zu beginnen:

Ein radikaler Wandel, ein freier Gedanke bricht mit diesen Sätzen in die Zellen des geschlossenen Textes ein, also in die schöne, scheinbare Sicherheit des Lebens.

Roger sagte über solche Sätze, sie gingen immer über Grenzen hinaus und wollten dabei weiter gedacht werden. In ihnen äußere sich der Wunsch, sagte er, die Leserschaft produktiv zu machen, seine Leserschaft in eine produktive Position im Umgang mit der eigenen Gegenwart zu bringen. Das ist der hippokratische Eid von Rogers Schreiben. Sich und seine Leser aussetzen, um der Welt nicht ausgesetzt zu sein. Das heißt: die Sprache haben, das heißt: sie nutzen. Alles kann gesagt werden. Instabil ist das Leben, das wusste Roger, und der stabile Satz ist die einzige Antwort, mit der wir in der Welt sein können.

Es ist diese Forderung, die wir als seine Leser erkennen: Das griechische aphorismós heißt: genaue Bestimmung, Abgrenzung. Es lässt sich ableiten von hóros, Begrenzung, Bedingung. Unser Wort Horizont kommt da her. Um die Grenzen, die Enden der Welt zu erreichen und immer wieder aufs Neue zu erreichen, ist Begrenzung durch Genauigkeit nötig. Es geht bei Roger um Abgrenzung, um Präzision, und das heißt, es geht auch darum, dem so einfach erscheinenden Wirklichen die Vielfältigkeit des Möglichen entgegenzusetzen. Das ist das größte Glück in der Literatur, denn in dieser Form erzeugt Präzision Relevanz. Die Wirklichkeit ist, wenn man sie genau betrachtet – so wie Roger das gemacht hat – niemals unglaublich, sie ist niemals unfassbar. Es kann nichts verleugnet werden. Man muss sich nur umschauen und die Sätze und das Leben zulassen. Das war es, was er tat. »Es gibt nichts, was jemals für immer überwunden ist.« (PhMag)
Auf dem Schweigen einen Fleck hinterlassen, so hat Samuel Beckett das Schreiben definiert und so hat es Roger zitiert. Diese Flecken hat er bei jedem hinterlassen, mit dem er sprach, diese Flecken auf der weißen Fläche der Verschwiegenheit hinterlassen seine Texte, seine Bücher, seine Literatur, hinterlassen seine Sätze.

Es geht an den Enden der Welt, an denen man stehen muss, um diese Sätze zu finden, immer um die Frage, was uns davon abhält, weiterzugehen. Wir nähern uns dem Horizont, kommen aber nie an eine Linie, an der alles aufhört. Wenn wir davon ausgehen, alles stehe jedem zu – und davon konnten wir mit Roger immer ausgehen –, bleibt die Frage, warum wir nicht weitergehen. Die Enden der Welt sind nur die, die wir zu solchen erklären. Beschreiben wir sie aber genauer – so wie Roger das gemacht hat, mit präziser Beobachtung und dezentraler Wahrnehmung –, so lösen sie sich auf mit jedem Schritt. Die Linie, die wir Horizont nennen, verschiebt sich mit jedem Satz.
Wir können alles wissen. Wir können das Richtige tun. Und wir dürfen hoffen.

Nicht weit von den Enden, die Roger in Patagonien gefunden hat, nur ein paar moosige Inseln weiter südlich, findet sich eine, mit einer Landspitze und einem kleinen Hafen. Dieser Hafen heißt englisch, aber spanisch ausgesprochen Overend, also Jenseits des Endes. Auch dort, am Ende der Welt, geht es also noch einen Schritt weiter. Von Overend ist es dann auch nicht mehr weit – und das stimmt wirklich, ich habe es nicht erfunden – bis zur Isla Rogers. Benannt ist sie nach einem vergessenen englischen Seemann. Aber wir werden diese Insel, die jenseits des Endes der Welt liegt, nicht umbenennen müssen, um zu wissen, warum sie so heißt.

Sie denken vielleicht, der redet ja nur über Roger als Schriftsteller, nicht als Freund, nicht als Mensch. Nun. Roger war immer so, nicht nur als Schriftsteller. In jede Zelle wurde Freiheit geworfen. Jeder, der ihn kennengelernt hat, kennt seine eigenen Zellen, in der die Freiheit zu finden ist, die Roger da hineingeworfen hat. Ein Schriftsteller ist der, der immer schreibt, auch wenn er gerade etwas anderes tut.

Wir haben von Roger gelernt: Es geht nur darum, mit Menschen zu sprechen, sie zu sehen, sie zu verstehen, ihre Möglichkeiten auszudehnen, sie zu ermöglichen. Es geht nur darum, aufmerksam zu sein, immer entgegenkommend und alles im Blick zu behalten. Es geht darum, dass Angst kein Gegner ist, der sich in den Weg stellt, sondern ein Freund, der einen an der Hand nimmt. Es geht darum, das Leben als Augenblicke der Möglichkeiten zu empfinden, die genutzt werden wollen und die genutzt werden sollen. Auch noch das Ende des Lebens. Roger sagte, wenige Tage bevor er starb: »Ich bin im Reinen.« Er sagte das zwei Mal. »Ich bin im Reinen. Ich bin im Reinen.« Und er klang beim zweiten Mal so zufrieden, als hätte er gerade wieder etwas verstanden.

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den ...

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