THIRLWELL
Ich sinne gerade darüber nach, was Sie über Menschen in einer anthropomorphen Welt gesagt haben. Manchmal fällt mir auf, wie ungeniert anthropozentrisch Romane sind. Wo sind die Tintenfische? Wo sind die Algen? Eins der Dinge, die ich an Ihren Romanen liebe, ist der Versuch, gewissermaßen nicht so menschlich provinziell zu sein. Zugleich kommt mir das paradox vor. Was sollten sie sonst sein?
KRASZNAHORKAI
Das ist sehr wichtig. Die Romanform an sich ist vielleicht zu anthropozentrisch. Es fängt schon mit dem Erzählerproblem an, und das bleibt bis in alle Ewigkeit bestehen. Wie kriegt man den Erzähler aus dem Roman? In meinem jüngsten Roman stehen auf jeder Seite nur Dialoge zwischen den Figuren – damit lässt sich der Erzähler zwar vermeiden, aber das ist nichts weiter als eine Technik. Denn ich stimme Ihnen zu: das Grundgerüst des Romans und der Welt ist anthropozentrisch. Aber wenn ich wählen müsste zwischen einem Universum ohne Grundgerüst und der Menschheit als Grundgerüst, würde ich mich für die Menschheit entscheiden.
Wir haben keine Ahnung, was das Universum ist. Kluge Leute haben uns schon immer gesagt, das sei der Beweis, dass man nicht denken sollte, weil Denken nirgendwohin führt. Man überbaut nur das Riesenkonstrukt aus Missverständnissen, das die Kultur darstellt. Die Geschichte der Kultur ist die Geschichte der Missverständnisse großer Denker. Wir müssen also immer wieder bei null anfangen und anders ansetzen. Und vielleicht hat man so die Möglichkeit, zwar nicht zu verstehen, aber zumindest weitere Missverständnisse zu vermeiden. Denn die andere Frage ist: Bin ich wirklich so mutig, sämtliche menschliche Kultur in den Wind zu schlagen? Die Schönheit dessen, was die Menschheit hervorbringt, nicht mehr zu bewundern? Es fällt sehr schwer, zu alldem nein zu sagen.
THIRLWELL
Sie schreiben dennoch Romane.
KRASZNAHORKAI
Ja, aber vielleicht ist das ein Fehler. Ich respektiere unsere Kultur. Ich respektiere jede hohe Form menschlicher Artikulation. Aber diese Kultur ist im Kern falsch. Und wenn wir nichts tun, geht alles trotzdem weiter. Das ist vielleicht das Wichtigste. Alles muss weitergehen, ohne dass man über das Wesen der Dinge nachdenkt, darüber, was etwas ist, und solcherlei Fragen.
THIRLWELL
Schreiben – und jede Kunstform – sollte also zu einem Ritual ohne Theologie werden?
KRASZNAHORKAI
Ja, vielleicht kann man sich Schreiben als Ritual denken – etwas zu Wiederholendes, Wort für Wort, Satz für Satz. Nicht im Sinne der klassischen Avantgarde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, wie beim Dadaismus etwa, der große Künstler in eine Sackgasse führte, weil sie den Inhalt vernachlässigten, darin lag – arme Genies – ihr Fehler. Aber wenn man sich Schreiben als Ritual vorstellt, bei dem man sich selber sieht, wie man dort unten auf dem Erdball hockt und Wort für Wort für Wort schreibt … und plötzlich hat man ein Buch. Man hört auf. Man klappt das Buch zu. Und man schlägt ein neues auf, mit leeren Seiten. Und dann schreibt man wieder, schreibt und schreibt und schreibt. Wort für Wort. Satz für Satz. Klappt das Buch zu. Und das nächste … Das ist ein Ritual. Es entspricht vielleicht nicht dem, was man über das eigene Schreiben denkt, aber vielleicht ist es das, was man da macht.
An diesem Punkt sollten wir uns an unsere Leser erinnern. Denn Leser brauchen hoffentlich unsere Werke. In dem kleinen Raum, in dem wir Bücher, Romane, Gedichte verfassen, gibt es auch einen Platz für unsere Leser. Dieses Mitgefühl ist sehr wichtig – einen gemeinsamen Wesenskern zu finden zwischen Schriftstellern, die Gestalt geben, und Lesern, die unser Tun brauchen. Das verleiht diesem kleinen Raum, den wir von der höheren Ebene aus als völlig unsinnig erkennen, auch einen gewissen Sinn. Vielleicht ist das Universum voll von kleinen Räumen – jeder mit einer eigenen Zeit, einem eigenen Wesen, eigenen Figuren, eigener Schöpfung, eigenen Geschehnissen und so weiter. Unterschiedliche Zeitvorstellungen für unterschiedliche Räume. Ganz so wie wir hier, im Universum, in unserem kleinen Menschenraum sind.
THIRLWELL
Wie sind Sie zu Ihrem Schreibstil gelangt – diesen gewaltigen, grandiosen Sätzen?
KRASZNAHORKAI
Einen Stil zu finden, war für mich nicht schwer, da ich nie danach gesucht habe. Ich führte ein abgeschiedenes Leben. Zwar hatte ich immer Freunde, aber nie mehr als einen gleichzeitig. Und in jeder dieser Freundschaften sprachen wir nur in Monologen miteinander. Einen Tag, einen Abend sprach ich. Am nächsten Tag oder Abend sprach er. Aber das Gespräch war jedes Mal ein anderes, denn wir wollten einander jeweils etwas sehr Wichtiges sagen; und wenn man etwas sehr Wichtiges sagen und den Gesprächspartner davon überzeugen will, dass es sehr wichtig ist, braucht man keine Punkte oder Kommas, sondern Atempausen und Rhythmus – Rhythmus, Tempo und Melodie. Das ist keine bewusste Entscheidung. Diese Art von Rhythmus, Melodie und Satzbau entstand vielmehr aus dem Wunsch, jemand anderen zu überzeugen.
Das komplette Gespräch können Sie in der »Neue Rundschau 2019/4: Lyrikosmose⁵« lesen, die am 23. Dezember 2019 erscheint.
Aus dem Englischen von Britta Waldhof.
Das Interview entstand 2016 in Berlin und erschien als The Art of Fiction No. 240 im Paris Review No. 225, Summer 2018.