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Trauerfeier Roger Willemsen: »He ain’t heavy – he’s my brother«

Der Autor, Verleger und Festivalmacher Werner Köhler spricht in seiner Trauerrede von der unbändigen Aura seines Freundes Roger Willemsen; seiner unbezähmbaren Kraft, die Welt um ihn herum zu verändern.

Mein lieber Roger, Freund und Bruder.

Es war der 6. August, als du zum ersten Mal nicht mit mir sprechen wolltest. Ich kannte damals den Grund nicht und bedrängte dich mit leichter Verärgerung, schließlich wollte ich doch nur das Fest zu deinem 60. Geburtstag besprechen. Dann erfuhr ich den Grund für dein Zögern. Durch dein Schweigen wolltest du uns, deine Freunde, schützen. 
 
Danach ist viel geschehen. Du hast deine Erkrankung öffentlich gemacht und dich gleichzeitig von der Welt verabschiedetet. Durch dein Haus streifend, hast du deinen Nachlass geregelt. Du besuchtest Museen, die dich einst beeindruckt haben und unternahmst eine letzte Reise nach Norwegen, um an einem Fjord zu sitzen. Und es zog dich in den Zoo, zu deinen geliebten Affen. Du warst guter Dinge, gelassen und entschlossen, die Welt ohne Gram zu verlassen. Irgendwie schienst du dein Sterben als letztes großes Abenteuer zu begreifen. 

Zehn Tage vor deinem Tod gingen mir plötzlich die Worte aus. Ich wollte wieder schreiben, wie wertvoll mir unsere brüderliche Verbundenheit ist und wie sehr mich dein Weggang schmerzt. Und dass wir uns vom Schicksal unsere Freundschaft nicht verderben lassen werden, aber ich brachte keine Zeile zu Papier. Also habe ich dir ein letztes Mal ein Mixtape zusammengestellt. Der Titeltrack ist ein Song aus unseren Jugendtagen: He ain’t heavy – he’s my brother.

Denn das bist du mir, ein Bruder. Seelenverwandter und Kumpan gleichermaßen. Bei allem öffentlichen Wirken, bei all deinem karitativen Engagement, deiner intellektuellen Bedeutung, hast du dir doch immer auch etwas Jugendliches bewahrt, bist ein liebenswerter Kindskopf geblieben. 

Wie schön war es, diesen entgrenzten Roger erleben zu können. Den, der auf Konventionen pfiff und sich mitten in der Lobby eines 5-Sterne-Hotels unter dem Stirnrunzeln der besseren Gesellschaft in den Dreck schmiss, um seinen Kumpel gebührend zu begrüßen. 
Wie schön, dich beim Jausen zu sehen, wenn dir, dem Wortgewaltigen, bloß noch hysterische Gesten zur Verfügung standen, um deiner Verzückung über ein großartiges Mahl Ausdruck zu verleihen. 
Wie schön, nach einem Telefonat über ernste Themen den Satz zu hören: 
»Mein Köhlermann, bevor wir auflegen, müssen wir noch kurz zu den wahren Dingen des Lebens kommen. Was sagst du zur Demission von Pep Guardiola?« 

Bei dir, mein Großer, war alles Leben. Du hattest keine Angst vor Höhen, keine Angst vor Tiefen – du hattest einfach keine Angst, nicht einmal vor dem Tod. Deine Aura hat die Welt um dich herum verändert. 

Anders ist nicht zu erklären, dass Menschen, deren Wege den deinen nur einmal gekreuzt haben, von der Begegnung mit dir erzählen, als hätten sie eine Erscheinung gehabt. Anders ist nicht zu erklären, dass sie bekennen, seit der Nachricht deines Todes schwermütig zu sein. 
Du gabst jedem zufälligen Zusammentreffen den Hauch des einen Moments, der alles verändern kann.
 
Ich glaube, mein Lieber, du ahnst nicht einmal, wie viele Herzen du dadurch entflammt hast. Wir haben ungezählten Praktikantinnen mit sanfter Bestimmtheit abkühlenden Wind zugefächelt und manchem Menschen erklären müssen, dass deine Zugewandtheit ein wunderbarer Wesenszug ist, der aber nicht missverstanden oder, besser gesagt, nicht überinterpretiert werden dürfe.  
Für dich gab es keine Alternative zur Empathie. Alles an dir konnte Schwärmen sein. Diese gewaltige Energie machte dich aus und sie wird niemals von dieser Erde verschwinden. Wir alle werden sie noch lange spüren können.
 
Dieser empathische Wesenszug, der für Außenstehende wie die pure Lebensfreude wirkte, war für dich letztlich auch ein Lebensretter. Er half dir aus der Melancholie, die der Subtext all deines Wirkens gewesen ist, hinaus in die Bewegung. Bei allem Lachen und Unfugtreiben waren wir uns in der Melancholie immer besonders nah.

So nah, dass wir eines Nachts beschlossen, dem schwarzen Blut zu huldigen, der Melancholie einen ganzen Abend zu widmen. Ohnehin brauchte man dich nur anzupicken und gleich hieß es, sollten wir nicht ..., man könnte doch mal ..., hast du mal daran gedacht ...? Und schon hast du in großen Bögen entworfen, alsbald kleinteilig recherchiert und schließlich zupackend konzipiert. 

Fast dreißig dieser Themenabende, neben vielen weiteren herausragenden Momenten, hast du für die lit.COLOGNE auf die Bühne gebracht, der letzte: Habe Häuschen. Da würden wir leben.
»Dieses Mal haben die Texte eine Köhlerʼsche Länge, das wirst du bemerken, sie sind in der Post«, sagtest du gerne, um mir angesichts der gewaltigen Fülle des Materials gleich mal den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn das muss man anmerken, bei der Textmenge trug dich deine Liebe zu den Worten ein ums andere Mal davon. Sahst du es zähneknirschend endlich ein, dass ein Text nicht, wie angeblich von dir mit der Uhr gestoppt, 3:30 lang war, sondern mindestens 5 Minuten 30, dann stellte sich eine Sekunde der Stille ein, ein Seufzer folgte und ein: »Ach, mein Lieber, man muss den Menschen viel mehr zumuten.« 

Das hast du getan. Abende über die Radikalität, über den Geist des Barock, das große Gelächter, die Niederlage oder über den Jazz sprengten jeden vernünftigen Rahmen. Kiss and Run hieß einer. Es ging dabei um die großen Jazzmusiker und ihre herausragenden Stücke. Daran wäre nichts Ungewöhnliches, hättest du dir nicht in den Kopf gesetzt, den Leuten die Stücke auch vorzuspielen, von denen da die Rede war. Man stelle sich die Situation vor: Roger Willemsen und Matthias Brandt, zwei wunderbare, hochbegabte Artisten sitzen auf der Bühne, starren das Publikum an und spielen vom Band Coltranes Blue Train in der 10 Minuten 43-Version. 
 
Ja, du hast Ernst gemacht, du hast dem Publikum etwas zugemutet, besser gesagt, etwas zugetraut. Deine unglaubliche Fähigkeit, Schwergängiges mit dem Schmieröl des Unterhaltsamen zu versehen, brachte uns zum Staunen. Für dich war es ein schweres Vergehen an der Intelligenz des Publikums, es beständig unter seinem Niveau unterhalten zu wollen. Dein Verständnis von Unterhaltung war ein erwachsenes und eben kein infantiles. 
Diese Haltung ist mir Vorbild und soll es für die Jahre sein, die wir nun ohne dich gehen müssen. 

Aber davon fängt man besser gar nicht erst an, wofür du alles Vorbild sein kannst. Ein Vorbild an Menschlichkeit, an Ernst wie an Albernheit, an Großzügigkeit und Mut, an Radikalität und moralischer Integrität. 
Und weil du so unglaublich viele Talente und Fähigkeiten hast – verzeih mir bitte, Roger – werde ich nun auch über die wenigen – nicht schwerwiegenden – Unzulänglichkeiten sprechen: 
Wie scheußlich-schön etwa, wenn du in völliger Entgrenzung deine Sextanerwitze erzähltest. Sie gehören zum Schlechtesten, was du je performt hast. 
Welch ein zweifelhaftes Vergnügen, ein ganzes Fußballspiel – 90 Minuten lang – an deiner Seite zu verbringen. Gegen dich war Werner Hansch ein großer Schweiger. Kein Steilpass blieb unkommentiert, jede taktische Maßnahme wurde analysiert, nicht einmal das Outfit eines Trainers schaffte es ohne hämischen Kommentar zurück in die Kabine. 
Und als kleine Dreingabe gab es in der Pause auch noch den neuesten Klatsch, denn auch das warst du: der Weltmeister des Gossips. 
Ja, deine Witze waren grausam, deine Fußballkommentare eine Bewährungsprobe für den Organismus, deine Kenntnisse aus der Welt der Schönen und Reichen verstörend. Aber das alles fehlt mir schon jetzt so sehr. 

Du hast immer von mir verlangt, dass ich dich auf der Bühne ansage, obwohl du wusstest, dass ich die Bühne lieber anderen bereite als selbst dort zu stehen. Am Ende war es mir immer eine Freude. 
Nun hast du dir gewünscht, dass ich auch diese letzte Ansage für dich mache. Du siehst, ich bin deiner letzten Bitte gefolgt, sogar eine Krawatte trage ich dir zu Ehren. Aber mit einem Strahlen im Gesicht sagen, »Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie den wunderbaren Roger Willemsen«, das kann ich heute nicht, das kann ich nun nie wieder.
 
Wenige Tage vor deinem Tod schriebst du mir zum letzten Mal mit eigener Hand. Die so innigen Worte sind sicher in meinem Herzen verschlossen. Die Unterschrift unter den Zeilen: 
Dein Immerwährender.

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den ...

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