Ein paar Tage später werde ich in Omsk auf einem Volksfest einen Mann mittleren Alters sehen, der ein Stalin-T-Shirt trägt. Aber bevor es weitergeht nach Omsk, besuche ich noch einen großen Buchladen in Moskau. Ich ärgere mich, dass mein Russisch noch zu schlecht ist, um meine Lieblingsautoren, vor allem Vladimir Sorokin und Viktor Pelewin, im Original zu lesen. Sie schreiben radikale, kritische Texte, spielen mit der Sprache und verwenden ziemlich viel Slang. Sorokin und Pelewin sind als literarische Größen anerkannt und gleichzeitig verpönt bei Moralwächtern und Putinfans. Die Bücher gibt es nur eingeschweißt und mit »18+«-Aufklebern zu kaufen, die Jugend muss geschützt werden vor Schimpfwörtern, Sex und Politik.
Gleich in der Nähe des Eingangs befindet sich ein Sondertisch mit den Büchern von Vladimir Medinski, dem Kulturminister – oder »Propagandaminister«, wie mein befreundeter Moskauer sagt. Ein kurzer Blick auf die Titel und Klappentexte seiner Bücher zeigt: Sie beschäftigen sich hauptsächlich mit glorreichen Kriegen, der russischen Seele und der Widerlegung von »Mythen« über Russland, wie sie im »Westen« verbreitet würden. Zum Beispiel der Mythos, dass Russland gar keine richtige Demokratie sei. Ich frage mich, ob sich diese Bücher gut verkaufen. Bei einem Online-Buchhändler hat der Minister jedenfalls unterirdisch schlechte Bewertungen.
Ich fliege weiter nach Omsk, wo ich an der »Sommerschule der russischen Sprache und sibirischen Kultur« teilnehmen werde. Der Flug dauert noch mal so lange wie von Frankfurt nach Moskau, dreieinhalb Stunden. Zum ersten Mal bin ich im asiatischen Teil von Russland, in Sibirien sogar, dem Inbegriff von ganz weit weg. Teilt man Russland in zwei Hälften, ist Omsk allerdings noch im westlichen Teil. Es fällt mir immer noch schwer, zu begreifen, wie groß dieses Land ist.
Sibirien also. Man denkt, es würde sich irgendwie anders anfühlen. Aber Omsk sieht einfach aus, wie die meisten russischen Städte aussehen, wenn sie nicht Moskau oder Sankt Petersburg heißen. Die Straßen sind kaputt und vollgestopft mit Autos und Bussen, die schon bessere Tage gesehen haben. Was noch fahren kann, fährt auch. Außerhalb des Stadtzentrums sieht alles ein wenig heruntergekommen aus – und vor allem unordentlicher, als man es in Deutschland gewohnt ist. Hier stehen Dinge herum, die keine Funktion haben und für die sich niemand interessiert und die deshalb auch niemand wegräumt. Das mag ich an Russland: Dass nicht alles effizient, funktional, ordentlich und einheitlich sein muss. Die Plattenbauten sind längst nicht so grau, wie man sie sich vorstellt, denn von standardisierten Fassaden hat man hier noch nichts gehört. Die kleinen Vorgärten sind oft liebevoll dekoriert, und sei es mit bemalten Autoreifen.
Über eine Million Menschen leben in Omsk, es ist nach Nowosibirsk die zweitgrößte Stadt Sibiriens. Eine Metro gibt es nicht, nun ja, fast nicht. Es gibt eine Metrostation, hübsch mit großem »M« am Eingang und auch sonst komplett ausgestattet. Allerdings ist den Verantwortlichen nach Fertigstellung der Station (und nachdem auch schon eine Brücke aufwendig für den Bahnverkehr umgebaut wurde) aufgefallen, dass sie eigentlich doch kein Geld haben und Omsk außerdem auf Sumpfland steht. Man ist geneigt, kopfschüttelnd »Russland …« zu kommentieren, bevor einem der Berliner Flughafen wieder einfällt und man lieber doch ruhig ist.
Das Zentrum der Stadt ist schön, es gibt eine Kathedrale mit goldenen Kuppeln, idyllische Flussufer und ein Militärmuseum mit Panzer-Freiluftausstellung. Panzer sehe ich ohnehin einige auf meiner Reise, wenn auch in harmloseren Varianten: Im Einkaufszentrum gibt es Luftballons in Panzerform zu kaufen, »Für die Heimat« steht drauf, und in einem kleinen Museum steht zur Dekoration ein Panzer aus Korbflechte in der Ecke.
In hippen Restaurants gibt es moderne Varianten der klassischen russischen Küche, zum Beispiel schwarzgefärbte Pelmeni mit Garnelenfüllung in Kaviar-Soße, in die ich mich sofort verliebe. Der Rubelkurs steht so schlecht, dass ich mir problemlos jeden Tag solche Leckereien leisten kann – die meisten Leute aus Omsk allerdings nicht. Das durchschnittliche Monatsgehalt beträgt 40.000 Rubel, etwa 560 Euro.
Ein Name, den man in Omsk immer wieder hört, ist Dostojewski. Nicht nur die Universität, wo die Sommerschule stattfindet, ist nach ihm benannt. Man ist stolz auf den großen Schriftsteller. Nicht etwa, weil er in Omsk geboren wäre oder die Stadt zu seiner Wahlheimat gemacht hätte. Dostojewski wurde im Alter von 28 Jahren in die Verbannung geschickt, da er an politisch-revolutionären Treffen teilgenommen hatte. Als politischer Gefangener musste er vier Jahre Zwangsarbeit in der Omsker Festung leisten. An seinen Bruder schrieb er: »Omsk ist eine hässliche kleine Stadt. Es gibt fast keine Bäume. Hitze und Sandsturm im Sommer, Schneesturm im Winter. Von der Natur habe ich nichts gesehen. Die Stadt ist schmutzig, militärisch und im höchsten Maße verdorben.« Dieses Zitat steht auf einer Tafel im Dostojewski-Museum, wo der große unfreiwillige Einwohner der Stadt geehrt wird.