Die Erinnerung an den Holocaust steht vor einer entscheidenden Wende: Bald wird es keine Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mehr geben, die aus eigener Anschauung von der Vernichtung der Jüdinnen und Juden erzählen können. Dann wird man sich auf Bücher, Filme und archiviertes Material stützen müssen, um die Verbrechen des Nationalsozialismus zu begreifen. Es stellt sich somit die Frage, wie die bundesrepublikanische Gesellschaft die Lehren, die aus der Geschichte zu ziehen sind, weiter wachhält und an eine jüngere Generation weitergibt – gerade vor dem Hintergrund, dass Antisemitismus, Nationalismus, Rassismus, Antidemokratische Tendenzen, Rechtsextremismus immer mehr an Einfluss gewinnen.
Als Verlag, der von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen worden ist und der viele damals verbotene Autorinnen und Autoren verlegt hat, ist der S. Fischer Verlag dieser Aufgabe in besonderer Weise verpflichtet. Ihren vielleicht deutlichsten Widerhall hat sie in der Publikation der Reihe »Die Zeit des Nationalsozialismus« gefunden: jene Buchreihe, die sich seit den siebziger Jahren der historischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft gewidmet hat und wegen ihres Designs auch »Schwarze Reihe« genannt wurde. Maßgeblich initiiert und unterstützt von der S. Fischer- Verlegerin Monika Schoeller, hat sie der Lektor und Historiker Walter H. Pehle seit 1977 konzipiert, aufgebaut und bis 2011 auch betreut. Über 200 Titel sind erschienen, die sich zentralen Aspekten des Nationalsozialismus und der Shoah widmen, darunter etliche Zeugnisse von Überlebenden.
Auch wenn die wissenschaftliche Erforschung der Zeit von 1933 bis 1945 noch nicht abgeschlossen ist, so liegen alle wichtigen und zentralen Forschungsergebnisse vor. Um nun das Thema weiter und wieder in die Gesellschaft zu transportieren, aufzuklären und das Bewusstsein wachzuhalten, möchte der S. Fischer Verlag die Initiative »Wissen Erinnern Fragen« starten und den Fokus auf diejenigen Aspekte des Themas legen, die heute weiterwirken und deren Einfluss aktuell wieder zugenommen hat: Antisemitismus, Nationalismus, Rassismus, Antidemokratische Tendenzen, Rechtsextremismus. Dazu möchten wir eine Reihe von Tagungen und Veranstaltungen über die nächsten Jahre initiieren. Ausgangspunkt ist jeweils ein Jahrestag, der ein bestimmtes Thema in den Blickpunkt rückt, das in seinem Fortwirken bis in unsere Gegenwart befragt werden soll. Begleitend werden Klassiker der Buchreihe »Die Zeit des Nationalsozialismus« neu aufgelegt und mit aktuellen Vorworten versehen. Den Auftakt Ende Mai 2023 macht die Neuausgabe von Raul Hilbergs »Die Vernichtung der europäischen Juden«, ergänzt um neue und aktualisierte Kapitel, ein Vorwort von René Schlott sowie ein Nachwort von Christian Seeger. Parallel wird einmal im Monat der Podcast »Trauer & Turnschuh« mit der Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Buchautorin Hadija Haruna-Oelker und dem Publizisten Max Czollek gesendet. In dem Podcast blicken die beiden auf die Leerstellen bei der Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus, stellen Fragen und tragen die Perspektiven anderer zusammen, um herauszufinden, was unsichtbar und noch zu bearbeiten ist. Die erste Folge startet Ende Januar 2023.
So schafft »Wissen Erinnern Fragen« eine Klammer von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft.