»Laufendes Verfahren« ist ein Roman über den NSU-Prozess. Die Urteile wurden 2018 gesprochen. Warum jetzt, fünf Jahre später, ein Roman?
Der NSU-Prozess war ein historischer Prozess, dessen Bedeutung nicht nur in den Urteilen besteht. Er steht für die Frage nach der Aufarbeitung rechtsextremer Morde, wie es sie seither weiterhin gegeben hat und vermutlich weiter geben wird, aber auch für die Normalisierung rechtsextremer Haltungen, für strukturellen Rassismus, für Behördenfehler, nicht nur im Verfassungsschutz, auch in der behördlichen Zusammenarbeit. Dieser Prozess stellte uns alle vor die heute brennende Frage nach dem Funktionieren demokratischer Instanzen und zeigte eine Nachwendegeschichte, wie wir sie gerne verdrängen. Für den Roman war die Erkenntnis, dass das uns alle betrifft, nicht nur die Prozessbeteiligten, zentral. Das ideologisch motivierte Ermorden einiger führt immer zum gezielten Ermorden vieler. Davon abgesehen ist das Gericht ein faszinierender Ort, der in den letzten Jahren gesellschaftlich mehr Gewicht bekommen hat, ein durchaus auch theatraler Ort voller spannender Prozeduren der Wahrheitsfindung. Ich finde es wichtig zu sehen, dass mein Text kein Dokument des vergangenen Prozesses ist, sondern eine ästhetische Untersuchung seiner gesellschaftlichen Wahrnehmung und seiner Ausrichtung auf Zukünftiges.
Deinem Schreiben geht immer eine intensive Recherchearbeit voraus. Das Sammeln von Stimmen, Perspektiven und rhetorischen Mustern. Wie sahen die Recherchen beim NSU-Prozess aus? Wie genau bist Du vorgegangen?
Zunächst gab es viele Gespräche mit Rechtsanwälten und natürlich, allerdings erst ab 2017, zahlreiche Gerichtsbesuche und Gespräche mit anderen Prozesszeugen, ob Journalistinnen oder zivilgesellschaftliche Beobachter, und sehr viel Lektüre. Der Prozess wurde ja gut dokumentiert, das hat sehr geholfen, ob über das Portal von NSU-Watch oder Gerichtsreporterinnen wie Annette Ramelsberger und Wiebke Ramm. Dann habe ich noch andere Prozesse in Oberlandesgerichten besucht, auch zum Vergleich. Wenn man sich mit Justiz beschäftigt, kann man da nicht nur ein bisschen recherchieren, da gilt es tief einzutauchen, dennoch war für mich literarisch die Expertenperspektive nicht sehr interessant. Zu behaupten, man wüsste es besser, gehört ja zum Besteck jedes Anwalts und jeder Anwältin. Gerade den Zustand des nicht ausreichend Informiertseins zu untersuchen, schien mir dem Prozess viel angemessener. Das Schweigen der Zeugen wie der Behörden war lauter als alles, was rausgefunden wurde.
Dein Text denkt ja immer wieder über die (vermeintliche) Notwendigkeit des »Hier & Jetzt« nach. Schon die Schreibweise mit dem »&«-Zeichen zeigt an, dass so ein unmittelbares Dabeisein, so ein Wunsch nach Gegenwärtigkeit und echter Erfahrung alles andere als unschuldig ist. Trotzdem: War das in diesem Fall besonders wichtig für Dich: vor Ort zu sein, live dabei, um darüber schreiben zu können?
Ich würde es andersherum beschreiben. Für mich war der Besuch im Verfahren eigentlich der Auslöser, darüber zu schreiben, und zwar in literarischer Form. Die starken sozialen Spannungen, das weit ausgefächerte Publikum, die verschiedenen Gesten, Ausweichmanöver, absurde Unterstellungen, die Rhetoriken zu erleben, die ich anfangs als merkwürdig versteinerte Situation in hoher emotionaler Bewegung erlebt habe – alles das war schon einzigartig. Aber auch auf Menschen zu treffen, die ohne professionellen Auftrag drinnen sitzen und kaum einen Prozesstag verpassen, das hat mich interessiert. Warum machen sie das? Natürlich ist es einerseits die Aufarbeitung des Tatgeschehens, die Verstrickungen, man sagte mir auch: »Hier findet noch eine tatsächliche Aufarbeitung statt, die wir woanders, medial, vermissen.« Aber das stimmt nur zur Hälfte. Es ist eben auch die Gegenwärtigkeit des Sprechens, der Ritus, die Ernsthaftigkeit, die Theatralität, die viele anzieht. In einem Verfahren, in dem das Schweigen überwog, die Angeklagten schwiegen, die Zeugen schwiegen und Behörden alles mögliche schwärzten und nicht bekanntgaben, bekam das eine Bedeutung.
Auffällig an Deinem Roman ist die Perspektive des »Wir«, das oben auf der Empore sitzt. Wer ist dieses »Wir«?
Das Wir ist strittig. Es ist eine in Frage gestellte Angelegenheit. Natürlich könnte man sagen, es ist das »Wir« der Prozessöffentlichkeit, das würde es aber überhaupt nicht treffen, denn es gibt ja auch »die anderen« vor Ort, die dieses Wir nicht enthält, und zugleich geht es als Erzählinstanz weit über den Gerichtssaal hinaus. Das Wir ist die Frage, die sich in diesem Prozess sehr deutlich gestellt hat, immer wieder auf immer wieder andere Weise. Es steht nicht fest, und so wandelt es sich auch im Lauf des Romans, es hat seine eigene Geschichte und entwickelt sich. Keinesfalls dürfen wir es aus dem Blick verlieren. Es besteht in einer solidarischen Seite, demokratietechnisch betrachtet, aber auch in einer ausschließenden. Letzteres sind wir stärker gewohnt zu sehen, Ersteres müsste mehr betont werden.
Die von Dir eben benannte Ambivalenz, dieser Widerspruch zwischen Solidarität und Ausschluss, überhaupt Dein Versuch, so einen Text mal nicht aus der üblichen Zentralperspektive zu erzählen – also etwa klassisch auktorial, mit klarer Ich-Erzählerin oder aus der Richter-, Täter- oder Opferperspektive inklusive Psychologie und Biographie –, macht es uns Leser/innen zunächst einmal nicht so leicht. Ging es Dir auch darum: um die Reflexion ›unserer‹ üblichen Erwartungen, wie man so einen schockierenden, empörenden Stoff zu erzählen hat? Also auch um das ›Wir‹ der Leser/innen?
Ich fände nichts abwegiger, als einen Text zu schreiben, der den NSU-Prozess zum Material hat, mit einer zentralen Richterfigur (unter dem Motto: Das Gericht ist der Richter), die ich noch dazu biographisch unterfüttere, um die Abstraktionen, die eine Rolle spielen, erträglich zu machen. Es wäre eine Ohrfeige für alle, die überlebt haben, oder die Angehörigen der Opfer. Es geht hier nicht mehr um Psychologie, es geht um strukturelle Probleme, vom strukturellen Rassismus bis zur gerichtlichen Problematik, es mit einer krassen Überkomplexität zu tun zu haben. 1 Million Akten, wer soll das noch verarbeiten können? In diesem Prozess stellte sich auch die Frage nach dem Kollektiv, ein Irrgarten, durch den man nicht alleine laufen kann. Mich hat zentral umgetrieben, wie man so etwas beobachten kann als Gesellschaft und ob darin nicht etwas liegt, was auch für andere Fragen sprechend ist. Die Krise in diesem Prozess war eben nicht nur die Krise in der Aufarbeitung eines klar abgezirkelten Tatgeschehens.
Erstaunlich ist auch, dass Du nicht die übliche Vergangenheitsform verwendest, sondern im Präsens und Futur erzählst. Bewusst also kein raunendes Beschwören des Imperfekts, um mit Thomas Mann zu sprechen. Warum nicht das übliche Imperfekt?
Es ist ganz einfach der Gedanke, dass man einen faktisch revisionsfest abgeschlossenen Prozess, der so viele Fragen offengelassen hat, nicht als abgeschlossenen erzählen kann. Das Futur macht aus ihm einen Möglichkeitsraum. Aber das Futur gibt dem erzählenden »Wir« auch eine prophetische Macht, die interessant ist und zugleich auch attackierbar, denn das Futur steht in einer sehr gereizten Spannung zum Präsens des Geschehens. Es entsteht ein ganz eigener Raum, der klar macht, dass Zukunft etwas ist, das wir gemeinsam herstellen.
Du hast auch ein Hörspiel und ein Theaterstück über den NSU-Prozess geschrieben. Warum dieses Ausprobieren unterschiedlicher Formen beim NSU-Prozess?
Ein Gerichtsprozess wird auch durch mediale Momente getragen. So ist das Gericht mit dem Theater historisch lange verbunden, in der griechischen Tragödie kann man ihren gemeinsamen Ursprung orten, Rechtsanwälte bilden durchaus auch ihre schauspielerischen Techniken aus, der Moment des Hier und Jetzt, des Präsentischen. Aber es gibt auch akustisch interessante Momente. Von der Mikrofonanlage bis zu dem Hin und Her zwischen dem Mündlichen und Schriftlichen, wie es im Gericht Usus ist und für die Wahrheitsfindung essentiell. Das ist etwas direkt Sinnliches, was komplexe Fragestellungen sehr konkret fassen lässt. Aber eben je nach Medium sehr unterschiedlich. Ich arbeite oft zwischen diesen Medien, diesmal würde ich sagen, sind die drei literarischen Formen sehr unterschiedlich ausgefallen. Ich musste mich so stark wie nie mit medialen Fragen auseinandersetzen, aber das ist ja das Spannende. Wahrheitsprozeduren benötigen eben auch sinnliche, mediale und rituelle Momente.
Bei aller Kritik zeigt Dein Text auch, dass so ein Gericht ein lebendiger Ort der Demokratie sein kann. Worin genau besteht diese Lebendigkeit für Dich?
Das Hier und Jetzt des Prozesses, all die Verfahrensmomente, die nicht wie sonst überall der Effizienz und Ökonomie unterworfen sind. Die Autonomie des Gerichts bei gleichzeitig politischer Rahmung und das Sichtbarmachen von Kausalitäten, die wir anderswo gar nicht mehr gestatten. Sein Öffentlichkeitsgrundsatz. Das Hauptverfahren ist ein unglaublich spannender Ort, der nicht nur dazu dient, Täter und Täterinnen zu verurteilen, sondern auch den Rechtsfrieden herzustellen. Es hat sich in den letzten Jahren immer mehr gezeigt, dass gewisse politische Fragen auch von den Gerichten, vor allem in Karlsruhe, entschieden werden. Und man sieht, dass überall da, wo autokratische Systeme entstehen, Rechtspopulismus an die Macht kommt, die Gerichte bedroht sind. Es sieht so aus, als sei es in seiner Gründlichkeit und verfahrenstechnischen Vielstimmigkeit der Gegenspieler zu populistischer Politik. Das Gericht ist leider durch viele Momente oft sozial asymmetrisch, aber dennoch zu verteidigen.
Auch Dein Roman lebt von der Vielstimmigkeit, von der Du eben gesprochen hast. Dein Roman steht also, um Dein Wort aufzugreifen, verfahrenstechnisch auf der Seite der Demokratie. Die Stimmen sind dabei aber überraschenderweise oft auch ziemlich komisch. Wie wichtig ist das Lachen bei so einem ernsten Thema?
Humor und Komik werden ja viele Funktionen zugeschrieben: Befreiung, Heilung, Sichtbarmachung, Selbsterkenntnis, aber auch falsche Kumpanei und Verächtlichmachung. Es ist eine ziemlich heikle Angelegenheit im permanenten Schwebezustand. Ich hoffe, dass ich mit meiner Art eine gute Mischung hinbekommen habe, in jedem Fall bin ich fest überzeugt?, dass es sich nicht anders erzählen lässt, weil die Verhältnismäßigkeiten in diesem Prozess so aus dem Lot gekommen sind, es steckt viel Realismus drin. Wenn die Realität absurd wirkt, ist es eine gute Möglichkeit, sich nicht nur dagegen zu wehren, sondern diese verkehrten Verhältnisse auch zu zeigen. Mich interessiert stets die Allianz zwischen Komik und Unheimlichem.
»Wir werden die sein, die sich wundern«, heißt es an einer Stelle in Deinem Roman. Wäre eine Aufgabe von Literatur heute vielleicht auch, dass wir uns viel mehr wundern?
Das ist schön gesagt. Ja, natürlich. Aber wundern darf niemals mit sich allein bleiben als reines Erstaunen. Wundern, das bereit ist, in etwas anderes überzugehen, das uns Türen öffnet. Das uns neugierig macht oder einen Widerstand gegen ungerechte und grausame Verhältnisse mobilisieren und stärken kann.