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Nachruf auf Milan Kundera von Adam Thirlwell

Nachruf auf Milan Kundera

Milan Kunderas Anderswo

Am 11. Juli 2023 starb Milan Kundera mit 94 Jahren in Paris. Mit „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ hat der Protagonist des Prager Frühlings ganze Generationen von Lesern geprägt und eine Vision von Mitteleuropa entwickelt, die darauf beharrte, dass Prag und Brünn näher an Paris und Berlin liegen als an Moskau. Doch nicht nur seine Romane, auch seine Poetik des Romans und deren fortgesetzte Innovation begeisterten den jungen britischen Romancier Adam Thirlwell. In Paris und einem kleinen Küstenort an der Nordsee hat ihn der immer wieder besucht – hier sein Nachruf, natürlich mit einem der Hunde, in denen Milan Kundera die Führer ins Paradies vermutete.

In vielerlei Hinsicht hat Milan Kundera mein Denken über Romane geprägt. Erstmals stieß ich auf ihn, als ich mit etwa 17 Jahren seinen Essay Die Kunst des Romans las, gefolgt von seinem Roman Die Langsamkeit, der gerade erschienen war. (Ein Buch, das ich letztlich aus der Wohnung eines Freundes stahl, weil ich es so sehr liebte.) Er war in den 1980er Jahren ungeheuer berühmt geworden, und so gehörte er in meinen Gedanken in die Bücherregale der Generation meiner Eltern, doch diese beiden beinahe schmächtigen Bücher waren so witzig und glasklar und experimentell und weltgewandt, dass sie mich völlig in ihren Bann zogen. Und dieser Eindruck des Aufregenden und Zeitgenössischen hat mich nie wieder losgelassen.

Doch wie würde ich diesen Eindruck des Aufregenden definieren? Kundera! Solch eine Klarheit und Autorität! Natürlich entstammte er einem bestimmten historischen Moment. Als junger Mann in den 1950er Jahren war er Mitglied der Kommunistischen Partei in Prag gewesen, doch der Schrecken des russischen Einmarsches in die Tschechoslowakei 1968 und die Erkenntnis, dass das utopische Gesellschaftsideal, das ihm vorschwebte, niemals zu verwirklichen sein würde, führten dazu, dass er zunächst von jeglicher Form von Arbeit ausgeschlossen wurde – die totalitären kommunistischen Behörden erklärten ihn zur Persona non Grata erklärt, und schließlich war er gezwungen, lange Zeit in einem Wald zu leben –, bis man ihn von seinem Land ausschloss. 1975 verließ er die Tschechoslowakei und ging nach Frankreich, wo er seither mit seiner Frau Vera lebte und zu einem französisch-tschechischen Hybrid wurde: ein grenzüberschreitendes Phänomen.

In Frankreich schrieb er schließlich zwei Romane – Das Buch vom Lachen und Vergessen sowie Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins -, die ihn berühmt machten, aber vor allem neue Formen des Romans entwarfen: einen Fluss des romanhaften Denkens, der sich den Grenzen von Erzählen und Beschreiben oder Fiktion und Essays verweigerte. Diese befreite Intelligenz war es, was mich zuallererst verführte – sein Schreiben war immer von einer einzigartigen Klarheit geprägt. Nun aber frage ich mich, ob diese Klarheit – zusammen mit seinem Ruhm als Dissident im Exil – nicht eine merkwürdige Unsichtbarkeit zur Folge hatte. Das öffentliche Bild seiner Sprachgewandtheit verhüllte allmählich die Unrast, die Leidenschaftlichkeit und die Fragilität seines Schreibens.

Doch vielleicht besteht die Möglichkeit, dieses öffentliche Bild aus Zeiten des Kalten Kriegs und die Autorität dieses Bildes umzuschreiben. Wir befinden uns heute in einer neuen Ära der russischen kolonialen Invasion, und für Kundera war gerade die Erfahrung mit jener früheren russischen Invasion unauslöschlich, als er urplötzlich dazu gezwungen war, an die „Ewigkeit der russischen Nacht“ zu glauben. Seine Verteidigung seines kleinen Landes wurde zu einer Verteidigung eines idealen Europas als Collage oder Ökosystem kleiner Elemente, eines Europas, dem er einmal die wunderbare Definition gab: „Ein Maximum an Vielfalt in einem Minimum an Raum.“ Und die Kunst des Romans, für die er kämpfte, beruhte daher ebenfalls auf maximaler Vielfalt: eine internationale Bricolage, die wusste, Martinique und Kolumbien mit Prag oder London zu verbinden. Das hieß, dass er einen Weg fand, das Internationale zu verteidigen, ohne dabei das Lokale aufzulösen, und dass er gleichzeitig in der Lage war, die Idee zurückzuweisen, die Identität eines Schriftstellers könne nur in einer einzigen Sprache existieren. Bekanntermaßen gab er die tschechische Sprache auf und schrieb stattdessen auf Französisch. Und in einem kurzen Text über die im Exil lebende tschechische Dichterin Věra Linhartová – die ebenfalls von Prag nach Paris zog und ebenfalls begann, auf Französisch zu schreiben – beschrieb er das von ihnen entdeckte neue Territorium: „Wenn Linhartová auf Französisch schreibt, ist sie dann noch eine tschechische Schriftstellerin? Nein. Wird sie eine französische Schriftstellerin? Auch nicht. Sie ist anderswo.“

Dieses „Anderswo“ war das Territorium, in das er durch die russische Invasion gezwungen wurde und in dem sich alle Formen der Identität als potenziell fließend erwiesen. Von diesem Ort der radikalen Instabilität aus beschrieb er sich einmal als „ein Hedonist, der in einer bis zum äußersten politisierten Welt gefangen ist.“ Doch vielleicht ist das nicht ganz zutreffend. Vielmehr war seine Enttäuschung über die menschliche Fähigkeit zur Grausamkeit und zum Selbstbetrug dermaßen absolut, dass sein Ideal zu einer Definition des Vergnügens als Raum reiner Verspieltheit und Zärtlichkeit wurde, der immer auch verletzlich war, so verletzlich, dass Kunderas tiefste Treue vielleicht der nichtmenschlichen Welt der Tiere und Wälder galt.

Meine Frau und ich unternahmen einmal eine Reise mit unserem zweijährigen Hund, um ihn und Vera in ihrer Wohnung an der nordfranzösischen Küste zu besuchen. Unser Hund war ein Whippet und daher im Grunde genommen wild. Nach einem Spaziergang am nassen Strand sprang er in der Wohnung auf den eleganten Sofas und dem Couchtisch herum. Entsetzt vor Scham versuchte ich, ihn zu bändigen. Und Milan sagte fröhlich: -Aber die Sofas sind doch für ihn! Er soll rumspringen, wo er will!

Ich muss immer wieder an dieses Bild der fröhlichen Wildheit denken. Ich habe es immer geliebt, wie er in der Literatur der Vergangenheit auf neue Möglichkeiten stieß, um dem Roman wieder und wieder unerforschte Wege aufzuzeigen: des Spiels, des Traums, des Denkens, der Zeit. Die Kunst des Romans hatte für ihn kein Ende, sie war unerschöpflich. Auch sein eigenes Schreiben vibriert vor Energie. Aus einer wahnsinnigen Vergangenheit heraus, in unserer wahnsinnigen Gegenwart, bietet es neue Zukünfte.

 

Aus dem Englischen von Jan Wilm, der auch Adam Thirlwells neuestes Buch Die fernere Zukunft übersetzte, das am 30. August 2023 erscheint.

Copyright © Adam Thirlwell, 2023
First published in The Guardian.
Reproduced by permission of the author c/o Rogers, Coleridge & White Ltd., 20 Powis Mews, London W11 1JN, UK

Milan Kundera, 1929 in Brünn, ehemals Tschechoslowakei, geboren, ging 1975 ins Exil nach Frankreich, wo er seither lebte und publizierte. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nelly-Sachs-Preis (1987), dem Staatspreis für Literatur der Tschechischen Republik (2007) und dem Franz-Kafka-Preis ...

Zum Autor

Adam Thirlwell wurde 1978 in London geboren, wo er auch lebt. Seine bisher erschienenen Romane »Strategie«, »Flüchtig« und »Grell und Süß« wurden international hochgelobt, sein Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt. Er war 2003 sowie 2013 auf der »Granta’s List of Best young British Novelists« und erhielt 2008 den Somerset ...

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