DANK AN GÜNTHER RÜHLE
Wie würde Günther Rühle heute – 2024, an seinem 100. Geburtstag – unsere Zeit im Theater erkennen und durch das Theater definieren? Erkannte er nicht immer im Theater das Bild unserer Zeit?
Günther Rühle waren auf souveräne Weise die Epochen des Theaters und die Zeitläufte zu eigen. Er erschien mir immer wie ein bedachtsamer Beherrscher der Zeit, hellwach beweglich im Geist und luzide präzis im Argument: Prospero und Luftgeist Ariel in einer Person zugleich – aus einem immensen historischen Wissen gebietend den Elementen, Wirrnissen, Irrtümern, Auf- und Umbrüchen unserer Zeit.
Die Legende sagt, Homer sei blind gewesen, die Legende fragt auch, ob die großen Epen Odyssee und Ilias überhaupt von einem einzigen Dichter geschrieben worden sein konnten.
Die Wahrheit sagt, dass Günther Rühle sein ganzes Leben in all seinen Büchern, die sich zu einer universellen Theatersaga ausgeweitet haben, ein unbestechlicher Chronist gewesen ist. Die tatsächliche Blindheit seiner letzten Lebensmonate hat schließlich den Blick auch auf sein eigenes Leben geschärft. Mühsam geschrieben und diktiert entstand ein hellsichtiges Lebenstagebuch. Der Klartext sprechende Titel: »Ein alter Mann wird älter« (2021). Es offenbart Rühle als einen wissend Suchenden, der absolut unsentimental und dadurch herzberührend seinem Leben und seiner Zeit, die doch auch unsere Zeit ist, nachsinnt – und so zu Erscheinung bringt.
So fügt Günther Rühle mit seinem ganzen Werk dem Januskopf des Theaters, also dem lachenden und weinenden Gesicht, die Klugheit des Herzens, die Großzügigkeit wahrer Anteilnahme, die stete Präsenz historischer Erkenntniskraft und das begeisterte Staunen einer jung gebliebenen Seele als ein drittes Gesicht hinzu. In den Klassikern erkannte er das Zukünftige, im Zeitgenössischen das tatsächlich Neue. Sein waches Interesse für die spezifische Persönlichkeit von Künstlern verband sich ganz selbstverständlich mit einem genauen Blick für die großen Zusammenhänge. Es war ihm eine Lust, im Detail die große Linie aufzuspüren und Kommendes zu wittern.
Da Günther Rühle mit seinem langen Leben buchstäblich ein ganzes Jahrhundert verkörpert, in dem auch er die vergeblichen Hoffnungen und Schrecklichkeiten unserer Zeit hatte erfahren müssen, gelingt es ihm in seinen historischen Schriften ein opus sui generis zu schaffen, besonders sein dreibändiges Werk »Theater in Deutschland« sucht seinesgleichen, auch wenn der dritte Band – von Stephan Dörschel und mir auf Günther Rühles ausdrückliche Bitte hin herausgegeben – nur noch als Fragment im S. Fischer Verlag erscheinen konnte. Immerhin ein Fragment von mehreren hundert Seiten. Rühles »Theater in Deutschland« vermag in der Darstellung des bürgerlichen Theaters von 1887 bis heute unsere Theaterhistorie als einen spannenden, permanent vorwärtstreibenden Gegenwartsroman zu präsentieren.
Auch in Günther Rühles publizistischer Arbeit, vor allem für die FAZ und Theater heute, war der Gestus des bekennenden Zeugen, der es als seine Pflicht empfand, die Zeit zu ergründen, darzustellen und damit zu bannen, stets virulent. Seine spontan aus ihm herausbrechenden Predigten, die sich auch zur zornigen Philippika steigern konnten, z. B. bei Tagungen der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, die ihm sehr viel verdankt, hatten einen theatralischen Impetus, der aber aus seiner wirklichen Sorge um das Theater kam. Gerade weil er Theatergeschichte nicht als abgelegte Historie begriff, sondern als das fortwährend Gewesene (Thomas Bernhard) – weiterwirkend mit allen Schönheiten, Verwerfungen und Irrtümern –, trieb es ihn immer wieder an, als leidenschaftlicher Mahner aufzutreten, der Einspruch erhebt, der aber auch Vorschläge macht. Die Erkenntnis von der untrennbaren Verbindung des Theaters mit der Zeit und mit der Gesellschaft machte Günther Rühle streitbar, nämlich streitbar für das Erkennen dieser Zusammenhänge, streitbar für menschliche Wahrheit, vor allem streitbar aus geistiger Unabhängigkeit und moralischer Integrität. Aus dieser Haltung vermochte er, der als Retter in Not gerufen war, auch alle Anfeindungen und Gehässigkeiten während seiner Frankfurter Schauspielintendanz zu ertragen – er war sich stets der Aufrichtigkeit seiner künstlerischen Entscheidungen gewiss.
Zur langjährigen Arbeit im journalistischen Alltag kam eine wesentliche editorische Leistung, die nicht Stoffhuberei für die Schublade war, sondern schöpferische Vergegenwärtigung dichterischer Werke, die damit für uns überhaupt erst wieder sichtbar wurden. So geschehen für Marieluise Fleißer, so vor allem für den großen Alfred Kerr, den Günther Rühle in seiner wahren Bedeutung für uns heute erkennbar machte – auch bedachtsam weiterwirkend in der Weitergabe der Herausgeberschaft an Deborah Vietor-Engländer.