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Das eigene Gesetz in der Brust tragen

Ingvild Richardsen hat ein Buch über die Frauenbewegung Münchens, die in den 1890er Jahren enstand, geschrieben. Darin stellt sie die Protagonistinnen dieses euphorischen Aufbruchs vor. Hier beschreibt Richardsen die zentralen Ideen der Bewegung und warum wir heute noch von diesen Frauen lernen können.

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© © Atelier Elvira, München

Um 1900 präsentiert sich München als eine der bedeutendsten Kunstmetropolen Europas. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren Scharen von Künstlern und Schriftstellern beiderlei Geschlechts in die Residenzstadt gezogen, die damals den Ruf genoss, die geistig freieste und kunstsinnigste Stadt im deutschen Reich zu sein. In diesem Umfeld hatte sich seit 1886 eine einzigartige Szene der modernen Frauenbewegung herausgebildet. Schnell war es ihr gelungen, weite Teile des Bürgertums für ihre Ideale und Ziele zu begeistern und ab 1899 ihr Netzwerk über ganz Bayern zu spannen. Und so steht München um 1900 als ein Flaggschiff der modernen bürgerlichen Frauenbewegung da.
Einzigartig an der Münchner Frauenbewegung war die starke Beteiligung aus dem künstlerischen Umfeld. Anita Augspurg, Sophia Goudstikker, Ika Freudenberg, Emma Merk, Carry Brachvogel, Marie Haushofer, Emmy von Egidy, Elsa Bernstein, Helene Böhlau gehörten nicht nur zu den prägenden Gestalten der Residenzstadt, sie waren durch ihre Werke und öffentlichen Auftritte in ganz Deutschland berühmt:
Anita Augspurg als erste promovierte Juristin Deutschlands, Sophia Goudstikker als erste königliche bayerische Hoffotografin. Elsa Bernstein galt als bedeutendste Dramatikerin, während Gabriele Reuters Roman »Aus guter Familie« zum Kultbuch der modernen Frauenbewegung wurde. Carry Brachvogel ist bekannt als Münchner Salondame, als Verfasserin von Theaterstücken, Romanen, Novellen und als Feuilletonistin. Emma Merk wiederum schuf mit Evas Töchter ein Kompendium, in dem nochmals die herkömmliche Rolle der bürgerlichen Frau im Find Siècle beleuchtet wurde, Marie Haushofer verfasste das Festspiel für den ersten bayerischen Frauentag und Helene Böhlau veröffentlichte mit »Halbtier« einen der radikalsten und provozierendsten Roman der Frauenbewegung.  Emmy von Egidy schließlich entfaltete sich als Schriftstellerin und Künstlerin und galt um 1900 als einzigartige Persönlichkeit im deutschen Kunstgewerbe.
Sie alle waren Mitglied im Verein für Fraueninteressen, der 1894 zuerst unter dem Namen Gesellschaft zur Förderung der geistigen Interessen der Frau gegründet wurde und die Ziele der modernen Frauenbewegung verfolgte. Sie alle begriffen sich damals als moderne Frauen.
Am Ende des 19. Jahrhunderts hat nicht nur eine Vervielfältigung der Frauenbilder, Frauenleben und Frauenrollen stattgefunden, festzustellen ist auch, dass sich durch die Biographien dieser Frauen, durch ihrer aller Leben ein roter Faden zieht: »Modern sein« ist das Schlagwort, mit dem sich Carry Brachvogel 1912 so eindringlich in einem programmatischen Vortrag auseinandersetzt.  »Modern sein heißt für die Frau ja nicht etwa, nur einen Beruf haben, promovieren oder an Wahltagen einen Stimmzettel abgeben wollen, nein, modern sein heißt für die Frau, ihr Leben nicht ausschließlich auf die Liebe festlegen, heißt, dem Manne nicht die Gewalt zu binden und zu lösen zugestehn. Modern sein heißt für die Frau ein eigenes Gesetz in der Brust tragen, dessen Erfüllung ihr vielleicht nicht banales Glück, gewiß aber das höchste Glück der Erdenkinder gewährt: die Persönlichkeit. Modern sein heißt für die Frau wohl lieben bis zum höchsten Opfermut, nicht aber bis zur Selbstvernichtung, heißt sich nur fürstlich, nie aber närrisch verschwenden, heißt ein Unlösbares in sich tragen, das nie zerstört werden kann, sozusagen ein Fideikommiß der Seele, das ewig unveräußerlich bleibt.«[1]  
Ein Recht auf die eigene Persönlichkeit wird hier proklamiert. Ein Gedanke, an den um 1900 der österreichische Schriftsteller Karl Federn in seinem Artikel über Emmy von Egidys Romane anschließt: »Seitdem der Mensch sich selbst, das heißt seine Persönlichkeit, entdeckt hat, ringt er danach, sie zu entfalten.« Er führt die Entstehung der Frauenbewegung auf genau diesen Drang nach Entfaltung der Persönlichkeit zurück, sieht sie durch den Wunsch der Frauen nach der Entwicklung ihrer Persönlichkeit hervorgerufen. Jeder Mensch habe ein Recht darauf, seine eigenen Erfahrungen zu machen, weil nur dies der Weg zur Selbsterkenntnis sei.[2]
Die Biographien aller in diesem Buch vorgestellten Frauen zeigen: Am Ende des 19. Jahrhunderts hat sich ein neuer Frauentyp herausgebildet. Sie alle sehen sich als modern an. Sie alle haben ihr Selbst entdeckt, sie alle versuchen einem eigenen inneren Gesetz zu folgen, versuchen selbstbestimmt und sich selbst zu leben. Modern heißt für sie alle mutig zu sein, sich der Realität und der Wahrheit zu stellen, heißt wahrhaftig und authentisch zu sein, sich selbst und anderen gegenüber. Modern sein heißt aber auch, sich gesellschaftlich und politisch für das Wohl und das Recht anderer zu engagieren – nach dem von Marie Haushofer 1899 formulierten Diktum: »Wir schaffen uns selber unser Recht«.
Die Frauen, die im Mittelpunkt dieses Buches stehen, waren herausragende Frauen Deutschlands. Modern und emanzipiert in ihrer Lebensweise und als Münchner Frauenrechtlerinnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im ganzen Wilhelminischen Kaiserreich bekannt. Ihre Lebensentwürfe, Ansichten und Ideen sind von hoher Aktualität. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts haben sie so gelebt, wie es heute viele Frauen tun. Berufstätig und finanziell unabhängig, im Wechsel ledig, verheiratet, geschieden und alleinerziehend. Schon damals setzten sie auf ein Lebenskonzept, in dessen Mittelpunkt Selbstbestimmtheit, Selbstverwirklichung, Arbeit und finanzielle Unabhängigkeit standen. Schon damals forderten sie gleiche Entlohnung von Männern und Frauen. Visionär war ihr Anspruch, eine Erneuerung der Gesellschaft nur gemeinsam, nicht in Gegnerschaft zu den Männern anzustreben. Zu ihren zentralen Ideen gehörte auch die gegenseitige Unterstützung, der Zusammenschluss und der Aufbau von Netzwerken und der Gedanke, eine Erneuerung der Gesellschaft gemeinsam mit den Männern ins Werk zu setzen. Diese Themen verarbeiteten sie nicht nur in ihren künstlerischen Werken, sondern wollten sie auch im realen Leben verankert wissen. Es sind Frauen, die sich nie verloren haben, ihre Stärke und Konsequenz beeindruckt noch immer. Von ihrem Mut, ihrer Toleranz, ihrem politischen und gesellschaftlichem Engagement, von  ihrem Zusammenschluss in fruchtbaren Netzwerken lässt sich noch heute lernen.

[1] Carry Brachvogel: Hebbel und die moderne Frau, 1912, S. 11f..
[2] Karl Federn: Die Romane Emmy v. Egidys. In: Essays zur vergleichenden Literaturgeschichte. Eine Sammlung von Zeitschriftenaufsätzen des österreichischen Übersetzers und Schriftstellers Karl Federn (1868-1943). Georg Müller Verlag. München/Leipzig, S. 159-161.

Ingvild Richardsen forscht über die Frauenbewegungen und vergessenen Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts. 2018 kuratierte sie die Ausstellung »Evas Töchter« (Monacensia), die die Rolle der Schriftstellerinnen in der Münchener Frauenbewegung von 1894 bis 1933 darstellte. Sie hat in Bonn und München Literaturwissenschaften und Philosophie studiert und arbeitet als Dozentin ...

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