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Der Sturm auf das Kapitol – politische Blasphemie?

Mit Blick auf die Ereignisse in Washington am 6. Januar 2021 stellt sich unser Autor Gerd Schwerhoff die Frage, inwieweit Blasphemie auch heutzutage eine Rolle spielt und welche Aspekte es dabei zu beachten gilt.

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© Robert Jentzsch

Die Rede von der »Gotteslästerung« mutet heute altmodisch an. In aktuellen Debatten wird meist von »Blasphemie« gesprochen, wie es auch international gängig ist. Tatsächlich ist der Tatbestand, der sich hinter dem deutschen Begriff verbirgt, im christlichen Abendland seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr obsolet geworden. Die Vorstellung, ein Mensch könne Gott persönlich lästern, ihn also verspotten und in seiner Ehre beleidigen, erschien selbst gläubigen Christen mehr und mehr absurd. Und dass der Schöpfer in seinem Zorn über eine solche Verspottung die Menschen mit Unwettern, Pest und Hunger bedrohe, passte so gar nicht in ein modernes Gottesbild.

Viele Beobachter hat es deshalb überrascht, dass die Blasphemie in der Moderne nicht völlig verschwunden ist, ja, dass sie in der Gegenwart sogar eine erneute Konjunktur erlebt. Das hängt unter anderem mit den interkulturellen Konfliktlagen der globalen Welt zusammen, als deren Menetekel die Fatwa des iranischen Religionsführers Khomeini gegen den Schriftsteller Salman Rushdie im Jahr 1989 erschien. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum die Blasphemie bis heute bedeutsam bleibt. Entsprechende Gesetze gibt es ja nach wie vor auch in westlichen Ländern: Sie bewahren nicht mehr einen Schöpfergott vor menschlichem Spott, sondern sie sollen die Anhänger einer Religionsgemeinschaft vor der Verletzung ihrer Gefühle schützen. Oder sie sollen – wie in der Bundesrepublik – den öffentlichen Frieden bewahren, der durch eine Lästerung bedroht sein könnte.

Blasphemie im modernen Sinn lässt sich daher definieren als eine Handlung, mit der Werte und Symbole herabgewürdigt werden, die einer Gesellschaft bzw. bestimmten Teilgruppen dieser Gesellschaft als besonders schützenswert, eben als »heilig« gelten – weshalb sie besondere Empörung auslöst. »Heilig« beschränkt sich dabei keineswegs auf den Bereich des Religiösen im engeren Sinn. Auch und gerade in der Gegenwart gibt es viele »Heiligtümer«, deren Schmähung starke Empörung und heftige Reaktionen hervorrufen kann. »Volk« und »Nation« gehören sicher dazu. Stark umkämpft ist oftmals die Verspottung von Symbolen, die mit diesen Begriffen verbunden sind. Ein solches Symbol ist z.B. das »Star-spangled Banner«: Seit rund 150 Jahren gab es immer neue Anläufe, die Profanierung und Herabwürdigung der amerikanischen Nationalflagge zu kriminalisieren. Das Wechselspiel zwischen blasphemischer Herabwürdigung und empörter Reaktion zeigt sich aber auch in weit trivialeren Zusammenhängen, etwa wenn Fußballfans einer verfeindeten »Ultra«-Gruppe ihr Banner entwenden und es verhöhnen. Was »heilig« ist, liegt bis zu einem gewissen Grad im Auge der Betroffenen. Die Blasphemie oder das Begehen eines Sakrilegs (die Schändung »heiliger« Räume) zeigen sich auch dort, wo man sie zunächst nicht vermutet.

Die Ereignisse am 6. Januar 2021, als das Kapitol in Washington D.C. vorübergehend von einem aufgewühlten Mob okkupiert wurde, sind dafür ein eindrückliches Beispiel. Häufig wird der Sitz des Kongresses als die Herzkammer der Demokratie in den USA beschrieben. Diese Metapher deutet darauf hin, dass Demokratie mehr ist als ein bloßes Geflecht von Institutionen und Mechanismen, die den Rechtsstaat schützen und die Partizipation von Wählern sicherstellen sollen. Seit ihrem Bestehen gelten die USA ihren Bewohnern als von Gott besonders ausgezeichnetes Volk (»God’s own Nation«). Der Bezug auf die Auserwählung des Volkes Israel durch den Gott des Alten Testaments ist nicht zufällig: Die politische Rhetorik der USA ist durchdrungen von biblischen Bezügen. Dabei handelt es sich – nach der klassischen Analyse von Robert N. Bellah – nicht einfach um »Religion«, sondern um eine »civil religion« mit ganz eigenen heiligen Gütern. Zu ihnen gehören die Unabhängigkeitserklärung ebenso wie die Verfassung samt der »Bill of Rights« als »heilige Texte«, welche die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ebenso garantieren wie das (oft mit heiligem Zorn gegen Kritiker verteidigte) Recht auf Waffentragen. Zu ihnen gehören aber auch das bereits erwähnte Sternenbanner und die Nationalhymne samt dem Motto »In God we trust«, das – trotz der grundrechtlich garantierten Religionsfreiheit – nicht nur bei offiziellen Anlässen gesungen wird, sondern auch die Dollarnoten ziert. Auch das Kapitol gehört als eine Art heiliger Tempel zu den Gütern der amerikanischen Zivilreligion, was dadurch unterstrichen wird, dass das Gebäude mit Bildern aus der amerikanischen Geschichte und Skulpturen ihrer politischen Protagonisten vollgestopft ist. Bezeichnend ist, dass die Kuppel der zentralen Rotunde von einem 1865 entstandenen Fresko mit der Apotheose George Washingtons geschmückt wird, das antike und christlich-barocke Bezüge mischt. Der zum Gott gewordene erste Präsident thront im Himmel, umgeben von römischen Gottheiten, und betrachtet im Herrschergestus das Gewimmel unter ihm.

Durch diese Räume strömten am Dreikönigstag 2021 die Anhänger Donald Trumps, auf der Suche nach den angeblichen Wahlbetrügern, die ihrem Idol seine Präsidentschaft gestohlen hätten. Viele der Aufständischen hatten offenbar eine christlich-fundamentalistische Orientierung oder verfolgten jedenfalls eine entsprechende Rhetorik. Eines der eindrücklichsten Videos des Kapitolsturms, aufgenommen vom für den New Yorker schreibenden Reporter Luke Mogelson, zeigt eine Gruppe um Jake Angeli, den »Büffel-Mann«, im Senat. Der nimmt dort zunächst selbstgerecht auf dem Stuhl des Senatsvorsitzenden Platz, um dann ein Dankgebet für die Wiedergeburt Amerikas anzustimmen, wofür er sogar seine Kopfbedeckung abnimmt. Die Szene wirkt wie eine Parodie, erst recht im Kontext jener Bilder der Unordnung, ja Verwüstung, die durch die sozialen Medien gingen: Fast ikonisch wurde jener Mann, der mit den Füßen auf dem Schreibtisch von Nancy Pelosi posiert; oder auch jener, der ein Rednerpult durch die Gegend schleppt. Das mag an die Attitüde von Bilderstürmern erinnern, die bewusst die Symbole eines Ancien Régime vernichten wollen – aber sie waren in dieser Haltung nicht konsequent, denn das wäre mit dem propagierten Ziel des »Make America Great Again« nicht vereinbar gewesen.

Und so blieben die Aufständischen in ihrer ganz eigenen Blase. Sie stellten ihre Trump-Mützen, MAGA-Shirts und Fahnen zur Schau und posteten permanent Selfies. Nachhaltige symbolische Aktionen gab es von ihnen nicht. In den ehrwürdigen Hallen des Kapitols wirkten sie wie Fremdkörper. Nicht nur wegen des Büffelmanns verglichen Spötter die Szenen deshalb schnell mit der Eroberung der Stadt Rom im Jahr 410 durch gotische »Barbaren«. Aber auch religiöse Untertöne waren seitens der Kritiker deutlich vernehmbar, etwa in der kurzen Ansprache des Senatsgeistlichen Barry Black nach den Unruhen: Noch vor der Gewalt, vor dem Blutvergießen und den Toten beklagte er »the desecration of the United States Capitol Building«, mithin die Entweihung des heiligen Tempels der amerikanischen Zivilreligion.

Blasphemie ruft stets Empörung hervor; sie provoziert Reaktionen und Gegenwehr derjenigen, deren heilige Objekte angegriffen werden. So auch in den USA. Zweifellos zielten die Aufrührer des Dreikönigstages darauf ab, demokratische Institutionen und deren angeblich korrupten und dem Volk entfremdeten Protagonisten herabzuwürdigen, angeblich im Dienste eines »wahren« Amerika. Vieles spricht aber momentan dafür, dass dieser Schuss nach hinten losging und die Erstürmer des Kapitols und ihre Hinterleute nach dem ersten Schock eine Niederlage auf dem Schlachtfeld der Symbole erlitten. Bis weit in die Reihen der Republikaner löste nicht nur das Erschrecken über die vorübergehende Wehrlosigkeit des Staates und über die offenbare Gewaltbereitschaft der Rioters eine klare Distanzierung aus. Man darf wohl getrost annehmen, dass es gerade die Entweihung des politischen Tempels war, die diese Empörung und Distanzierung wesentlich vorantrieb und dafür sorgte, dass sich viele um die Symbole der Verfassung scharten. So wurde Joe Bidens Amtseinführung am 20. Januar zu einem rituellen Akt, um die amerikanische Zivilreligion mit allem Drum und Dran zu bekräftigen, mit offizieller und inoffizieller Nationalhymne, mit Treueschwur und Familienbibel und schließlich mit der Versicherung des neuen Präsidenten in seiner Antrittsrede, sich nicht vom »sacred ground« des Kapitols vertreiben zu lassen.

Blasphemie ist, verstanden in einem weiten Sinn als Schmähung und Herabwürdigung heiliger Dinge, heute so aktuell wie jeher. Ob es eine gute Nachricht ist, dass es solcher Gefühle und Metaphern bedarf, um die Abwehrkräfte der amerikanischen Demokratie zu stärken, steht auf einem anderen Blatt.

Gerd Schwerhoff, geboren 1957, ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Technischen Universität Dresden. Seine Bücher handeln von den Randfiguren der frühneuzeitlichen Gesellschaft - Kriminellen, Hexen oder Ketzern. Mit der Blasphemie beschäftigt er sich u. a. im Rahmen des Sonderforschungsbereichs »Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung«, dessen Sprecher ...

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