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Die Klimakrise ist eine Menschenrechtskrise

Heute erscheint »WANN WENN NICHT WIR*. Ein Extinction Rebellion Handbuch.« Aus diesem Anlass teilen wir heute einen Beitrag von Jakob Nehls. Er ist Teil der Organisation »Amnesty International« und beschreibt hier, wie Menschenrechte und die Klimakrise zusammenhängen.

Die Organisation Amnesty International hat eine ganze Reihe von Jahresberichten zur Lage der Menschenrechte in der Welt herausgegeben. In meinem Bücherregal reihen sich die Exemplare der vergangenen Jahre. Jeder Band listet auf mehr als 500 Seiten Menschenrechtsverletzungen in rund 160 Staaten und Territorien auf. Die aneinandergereihten schwarzen Buchrücken versinnbildlichen, wie dunkel diese Welt sein kann: Menschen werden unterdrückt, misshandelt und gewaltsam vertrieben. Autokratinnen sind vielerorts auf dem Vormarsch, schränken Grundrechte ein, hebeln rechtsstaatliche Prinzipien aus. Jene, die sich gegen die Ungerechtigkeiten stellen, sind zunehmend in Gefahr. Alleine im Jahr 2018 wurden weltweit mindestens 321 Verteidigernnen von Menschenrechten ermordet.
Über 70 Jahre nach Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen möchte man beim Blick auf die Welt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber Aufgeben ist keine Option. Millionen von Menschen weltweit setzen sich gemeinsam für Menschenrechte ein. Alleine Amnesty International hat mehr als sieben Millionen Mitglieder und Unterstützerinnen. Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde die Grundlage für zahlreiche Menschenrechtsabkommen geschaffen. In ihr enthalten sind 30 Artikel, 30 geniale Ideen für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben auf diesem Planeten. Sie fußen auf der Grundannahme, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind, und zwar unabhängig von Geschlecht, Sprache, Herkunft, Religion, politischer Überzeugung oder rassistischen Zuschreibungen.

Ich erinnere mich an den Moment, in dem ich die Erklärung zum ersten Mal in meinen Händen hielt und die in den Artikeln verankerten Menschenrechte durchblätterte. Ich war verdutzt. Was ich da vor mir sah, war in meinen Augen eine Aufzählung von Selbstverständlichkeiten. Zum ersten Mal war mir in aller Klarheit bewusst geworden, wie wichtig es ist, sich seiner eigenen Privilegien bewusst zu werden. Mein Eindruck ging weit an der Realität vorbei – das beweisen die Berichte in meinem Bücherregal. Ein Blick in die Welt und auch auf Deutschland und Europa zeigt: Menschenrechte sind nicht selbstverständlich. Sie müssen immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden. Das reicht aber auf einem sich rasant verändernden Planeten nicht aus. Sie müssen auch immer wieder neu gedacht werden. Denn die 30 in der Erklärung verankerten Artikel haben sich in den vergangenen 70 Jahren in ihren Grundsätzen nicht verändert, dafür aber die Bedingungen, unter denen sie wirken. Die Ausgangslage ist eine Neue. Die grausamen Katastrophen des Zweiten Weltkriegs lagen nicht weit zurück, als die Vereinten Nationen die Menschenrechte 1948 verkündeten. Heute steuern wir auf die nächste Katastrophe zu, die in ihrem Charakter ganz anders ist. Jedes Hundertstelgrad Erderwärmung, jeder Millimeter Meeresspiegelanstieg und jede weitere ausgestorbene Art lassen das Fundament, auf dem die Menschenrechte verankert sind, ein Stückchen bröckeln. Denn Menschenrechte können schlussendlich nur auf einem intakten Planeten gewährleistet werden.

Das Ausmaß und die Geschwindigkeit, mit der die ökologische Krise voranschreitet, ist buchstäblich unfassbar. Wir befinden uns im sechsten großen Artensterben der Erdgeschichte, die Belastungsgrenzen des Planeten sind in grundlegenden Bereichen überschritten und die Menschheit ist zur treibenden geophysikalischen Kraft geworden. Im Mai 2018 wurde auf Hawaii ein neuer Rekordwert der atmosphärischen Kohlendioxid-Konzentration gemessen: 415 Parts per Million. Erdgeschichtlich ist das nichts Neues, vergleichbare Werte gab es bereits zuvor, das ist etwa zwei bis drei Millionen Jahre her – lange bevor die ersten Menschen die Erde betraten. Die Durchschnittstemperatur war zwei bis drei Grad und der Meeresspiegel 10 bis 20 Meter höher. Es ist ein Klima gewesen, in dem der Mensch nicht hätte überleben könnte. Deswegen leitet der Begriff Klimakrise vielleicht ein bisschen in die Irre. Nicht das Klima, sondern der Mensch leidet unter der Krise, die er selbst zu verantworten hat.

Die Klimakrise bedroht die Weltbevölkerung als Ganze. Extremwetterereignisse nehmen zu und Menschen verlieren ihr Obdach oder sogar ihr Leben, weil Wirbelstürme über sie hinwegfegen. Das Recht auf Nahrung oder Zugang zu sauberem Wasser kann oftmals nicht mehr gewährleistet werden, wenn der steigende Meeresspiegel die Grundwasserressourcen versalzen lässt und ganze Landstriche von Dürren heimgesucht werden. Die Ausbreitungsgebiete von Krankheitserregern verschieben sich und gefährden das Recht auf Gesundheit. Selbstbestimmungsrechte können nicht mehr wahrgenommen werden, wenn Gemeinschaften ihre Territorien und ihre Lebensgrundlagen verlieren. Die alarmierenden Prognosen der Wissenschaft werfen die Frage auf, wie wir überhaupt noch über den Schutz der Menschenrechte sprechen können, ohne die Klimakrise zu thematisieren.

Dass die geschilderten Missstände keine Zukunftsmusik sind, sondern bereits heute passieren, ist genauso unstrittig wie die Tatsache, dass sich die Auswirkungen der Klimakrise nicht auf den globalen Süden beschränken. Im Diskurs geht häufig unter, dass zum Beispiel der Hitzesommer 2018 eine ökologische Blutspur in Europa hinterlassen hat, deren soziale Auswirkungen mal mehr und mal weniger abgefedert werden konnten. Waldbrände wüteten, kosteten tragischerweise auch Menschenleben. Knappe Futtermittel zwangen Landwirt*innen, ihre gesunden Tiere verfrüht zu schlachten und tausende landwirtschaftliche Betriebe hätten die Ernteeinbußen ohne Hilfszahlungen des Bundes schlichtweg ihre Existenz gekostet.

Dennoch haben wir es mit einer extrem ungerechten Geschichte zu tun. Denn jene, die am wenigsten zu der Misere beigetragen haben, sind oftmals die, die am meisten darunter leiden. Nicht jeder Staat kann Hilfszahlungen in Milliardenhöhe leisten und wenn die Nahrungsmittel knapp sind, werden jene satt werden, die am meisten Geld auf den Tisch legen können. Der globale Norden und so auch Europa müssen sich bewusst werden, dass sie im Kampf für Klimagerechtigkeit eine im wahrsten Sinne des Wortes historische Verantwortung tragen. Die wirtschaftliche Entwicklung Europas fußt seit Beginn der Industrialisierung auf der Verbrennung fossiler Energieträger. Der historische Fußabdruck, der über die Jahrzehnte immer größer und größer wurde, ist ins Unermessliche gestiegen. Europa muss sich fragen, welche Rolle es in einer gerechten Welt einnehmen möchte.

In der Friedenspolitik kommt man heute allerdings nicht mehr um Klimapolitik herum. Emissionen machen Frieden gleichermaßen unmöglich wie Waffenexporte. Was zunächst zynisch klingt, ist aktueller der Stand der Forschung. Die Klimaveränderungen schüren bewaffnete Konflikte. Deren Gegenstand sind zum Beispiel die Verteilung natürlicher Ressourcen, die Verfügbarkeit über Lebensmittel oder klimabedingte Migration. Das lässt sich bereits heute nachweisen. Was passieren wird, wenn die Temperaturen weiterhin unkontrolliert steigen, liegt auf der Hand.

Alle die, die nicht länger dabei zusehen, wie eine Handvoll mächtiger Männer unseren Planeten gegen die Wand fährt, haben das Problem verstanden. Denn die Situation mag dramatisch sein, aussichtslos ist sie aber nicht. Mit einem radikalen Kurswechsel können wir die Krise noch in den Griff bekommen. Enorme Transformationsprozesse stehen bevor. Es ist irrelevant, ob wir sie Wandel, Reform oder Revolution nennen. Wichtig ist nur, dass sie jetzt geschehen und dass sie an den Menschenrechten orientiert sind. Denn Scheinlösungen gab es genug. Praktiken, wie die Beimischung von Palmöl zum sogenannten Biodiesel haben nur zu neuen Menschenrechtsverletzungen geführt. Auf der der indonesischen Insel Sumatra1 beispielsweise musste jahrtausendealter Regenwald Ölpalm-Monokulturen weichen. Und mit ihm die Menschen, die das Land seit Generationen bewirtschafteten. Was zunächst als klimapolitischer Erfolg gefeiert wurde, entpuppte sich als sozial-ökologisches Desaster. Es ist Zeit für echte Lösungen, für einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, dessen entscheidendes Kriterium die Achtung der Rechte und der Würde aller Menschen ist. Dass es unkompliziert ist, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik mal eben von Kopf bis Fuß umzukrempeln, hat niemand behauptet. Aber dass es passieren muss, ist evident. Und nicht erst seit Greta Thunberg freitags nicht mehr in die Schule geht, sondern seit Jahrzehnten. Was passiert, wenn wissenschaftliche Fakten derart lang ignoriert, die Rechte zukünftiger Generationen systematisch ausgeklammert und dramatische Folgen dieser zukunftsverweigernden Politik prognostiziert werden, sehen wir jetzt. Die Jugend rebelliert. Wir rebellieren. Wenn die Zivilisation auf dem Spiel steht, erfordert das neue Formen des Aktivismus. Wenn es jemals an der Zeit war, zivilen Ungehorsam zu betreiben und Grenzen zu überschreiten, dann jetzt. Denn mit Naturgesetzen und planetaren Grenzen lässt sich nicht verhandeln.

Die menschenrechtlichen Herausforderungen der Welt sind groß und sie beschränken sich nicht einzig allein auf die direkten Auswirkungen der Klimakrise. Weil die Folgen des Klimawandels aber in ausnahmslos jeden Bereich hineinwirken, kann sich keine gesellschaftliche Kraft, keine Organisation, kein Unternehmen, keine Institution und auch keine Privatperson aus dem Einsatz für Klimagerechtigkeit herausnehmen. Protest, Widerstand und Rebellion werden machtvoller, wenn die progressiven und menschenrechtsfreundlichen Kräfte sich zusammentun und den Kampf um einen zukunftsfähigen Planeten zu einem gemeinsamen Kampf machen. Deswegen werden wir nicht nur freitagmorgens alle Eins - die Klimabewegung, die Umweltbewegung, die Menschenrechtsbewegung und alle anderen zukunftsweisenden Kräfte. Die Frage ist doch längst nicht mehr, ob der Wandel stattfinden wird, sondern vielmehr, welche Rolle wir in ihm spielen. Während manch Zukunftsverweigerer noch auf die Bremse drückt, sehen andere nur zu. Immer mehr Menschen, vor allem junge, wollen das nicht mehr und gestalten ihn mit, jede*r mit ihrer*seiner Expertise.

Wir kämpfen dafür, dass die Amnesty-Berichte über Menschenrechtsverletzungen dünner und eines Tages nicht mehr notwendig sein werden. Dass wir stattdessen Bücher mit Erfolgsgeschichten in unsere Regale stellen können. Bücher von Menschen, die nicht tatenlos zugesehen haben, als die Temperaturkurve ins Unermessliche zu steigen drohte. Von jenen, die Schilder gebastelt haben und sich vor die Rathäuser der Welt stellten, um Wandel einzufordern. Von jenen, die sich angekettet, verweigert und friedlich rebelliert haben, weil sie wussten, dass mit jedem Kilogramm verfeuerter Kohle ein Stückchen Zukunft verbrannt wird. Bücher von denen, die Plena organisiert, Facebookseiten verwaltet und Tweets formuliert haben. Bücher von denen, die sich mit dem klimawandelleugnenden Onkel auf der Familienfeier angelegt und am Abendbrottisch ihren Eltern ins Gewissen geredet haben. Von denen, die auch an kalten Wintertagen Stände in der Innenstadt aufgebaut haben, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen und Unterschriften zu sammeln. Bücher von denen, die verhaftet worden sind, weil sie ihrer planetaren Pflicht nachgegangen sind. Von denen, die vor Gerichte gezogen sind und Regierungen sowie Konzernen bewiesen haben, dass sie nicht ohnmächtig sind. All diese Geschichten müssen erzählt werden. Es braucht sie alle.