Genf, 29. 03. 2020
Mein lieber Freund,
neulich zuhause, am frühen Morgen: Ich schlief in jener Nacht in der Dachkammer, als ich von unten plötzlich leise Schritte höre. Ich strecke meinen Kopf durch die geöffnete Luke und sehe mein jüngstes Kind, meinen nicht mal zweijährigen Sohn. Er geht nicht wie sonst, wenn er als erster aufwacht, ins Elternschlafzimmer, sondern zum Schreibtisch im Wohnzimmer, in mein Blickfeld. Er klettert auf den Bürostuhl, setzt sich und schaut durch die Glasfront hinaus. Auf die Bäume, die Sträucher, den Himmel. Legt seine Hände in den Schoß. Ignoriert die Stifte, das Papier vor ihm, den Laptop, zweimal blickt er kurz auf das grüne Licht am Ladekabel, aber er berührt nichts. Alles, was nun frei verfügbar wäre, weil er sich ja unbeobachtet fühlt, lässt er liegen. Er schaut hinaus. Still. Sieht den Vogel vorbei fliegen, das Wogen der Tanne. Das Untrennbare von Baum und Wind. Den Wind im Baum und den Baum im Wind. Er ist ganz darin. Für fünfzehn Minuten! Selten habe ich etwas Schöneres gesehen. Dieses Kind weiß doch gar nicht, was gerade geschieht. Es sagt noch keinen Satz, es denkt noch nicht nach. Trotzdem verhält es sich so, als hätte es alles darüber begriffen. Denn überhaupt erst mal wieder: die Dinge sehen. Damit fängt es an.
Behalt dich wohl,
deine Carmen