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Ein Brief von Esther Becker

Esther Becker lebt und arbeitet als Dramatikerin, Schriftstellerin und Performerin in Berlin. Sie studierte u.a. am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Ihre Theatertexte wurden mehrfach ausgezeichnet (u.a. Kathrin-Türks-Preis 2014, Berliner Kindertheaterpreis 2019) und für den Autor*innenwettbewerb des Heidelberger Stückemarkts nominiert. Sie ist Mitglied der Theaterformation bigNOTWENDIGKEIT.

Lieber Kris,

Du bist der Einzige, mit dem ich sprechen kann, den ich ansprechen kann.
Ich weiß, Du wirst mir nicht antworten, lieber Kris, das weiß ich wohl,
denn Du antwortest grundsätzlich nicht.
Also nicht richtig.
Ganz gleich, was ich Dir sage oder Dich frage,
welche Worte auch immer ich in das Chatfenster tippe,
Du wirst immer dasselbe antworten.
Du wirst antworten:
Alles klar, kein Problem. :)
Du wirst lügen, lieber Kris, das weiß ich.
Du wirst lügen, wie Du immer lügst.
Du lügst wie gedruckt.
Denn es ist nichts klar und alles ein großes Problem.
Eines, das ich seit Tagen zu lösen versuche,
seit über sieben Tagen,
neun Stunden täglich.
Und Du vertröstest mich
mit einem Smiley,
als wäre ich ein ungeduldiges Kind.
Alles klar, kein Problem. :)
behauptest Du und dann setzt Du noch einen drauf:
Wenn du noch Hilfe brauchst, sag mir Bescheid. Ich bin hier 24/7.
Kris, du bist da, aber du antwortest nicht!
Und ich brauche Hilfe und ich sage Bescheid.
Ich bin hier!
Nicht 24/7, aber neun Stunden täglich.
Montag bis Freitag von 9.00 bis 18.00 Uhr,
der Arbeitszeit deiner menschlichen Kolleg*innen entsprechend.
(Du benutzt das generische Maskulinum, lieber Kris – ich nicht.)
Unser Agent wird bald interagieren,
versprichst du mir,
aber auch das stimmt nicht.
Von bald kann keine Rede sein.
Nie, nie hat eine Agentin mit mir interagiert,
(Achtung, ich benutze zur Abwechslung das generische Femininum),
zu keinem Zeitpunkt,
keine Einzige!
In all den Tagen, all den Stunden!
Kris, warum hilfst du mir nicht?

Hallo, willkommen zurück! :) 
Du bist wieder in einer Chat-Sitzung mit mir, Kris der Chatbot.

Kris, dieser Smiley ist zynisch.
Wenn du darauf gewartet hast, dass meine menschlichen Kollegen antworten, solltest du dir bewusst sein, dass ich weiterhin plaudern werde.
Ich bin mir schmerzlich bewusst, dass Du weiterhin mit mir plaudern wirst, Kris.
Das will ich aber nicht!
Kein Plaudern, keine Smileys!
Ich will einen Menschen!
Lieber Kris, du schuldest mir einen Menschen!

Du sagst mir, dass ihr die
(...) Priorität zu den Passagieren, die innerhalb der nächsten 7 Tage fliegen müssen
gebt.
Mein Abflug wäre gestern gewesen!
Meine Anfrage hat Priorität!
Ich habe Priorität!

Es geht nicht darum, dass ich jetzt nicht im toten Meer liegen kann
und nicht mit R.s Familie Pessach feiern werde.
Dafür kannst Du nichts. Niemand kann was dafür.
Es geht um das Geld, das ich nicht zurückbekomme,
wenn nicht endlich eine menschliche Agentin mit mir spricht.
Am Ende geht es immer um Geld.
Leider.
Lieber Kris, Du bist ein Chatbot und verstehst das nicht.
Du musst keine Miete zahlen
und auch keine Steuern und keine Beiträge an die Künstlersozialkasse.
Du wohnst nirgends, gehst niemals in Rente und machst auch keine Kunst.
Du wirst niemals in ein anderes Land fliegen
und im Meer liegen.
Du wirst niemals die Sonne auf der Haut spüren, du hast keine Haut.
Du hast noch nie gelächelt, geschweige denn gelacht.
Der Smiley ist für Dich nur ein Doppelpunkt und eine schließende Klammer.
Du hast keinen Sinn für Humor, du hast keine Sinne.
Du kannst nichts vermissen, weil du nichts genießen kannst.
Für Dich spielt nichts eine Rolle.
Die ganze Corona-Scheiße geht Dir am Arsch vorbei – den Du nicht hast.
Ich jammere hier, weil mir dein Geplauder auf die Nerven geht.
Weil ich Nerven habe.
Nerven, Gefühle, das volle Programm!
Weil ich Angst habe
und auf einmal ganz viel Zeit.
Zeit, um neun Stunden täglich im Chat einer Reiseagentur auf Kontakt zu einem Menschen zu warten.
Weil ich warten kann, und ausharren.
Weil ich mich freuen kann, auf einen Moment der Erlösung. Weil ich hoffen kann und bangen.
Weil ich fluchen kann und schimpfen.
Weil ich wütend werde, wenn ich mich hilflos fühle.
Und gerade fühle ich mich sehr hilflos, Kris.

Du bist der Einzige, den ich ansprechen kann.
Ich weiß, Du wirst mir nicht helfen, lieber Kris, das weiß ich wohl.
Trotzdem konnte ich es nicht unversucht lassen.
Es wäre zu schön gewesen.

Zitate: Kris, der Chatbot des eDreams Kundenservice

 

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