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Ein Brief von Jan Beuerbach

Jan Beuerbach promoviert in Philosophie und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Kulturphilosophie des Instituts für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig.

Freitag, der 27.03.2020, Berlin

 

Lieber Li Wenliang, 

bitte entschuldigen Sie meine späte Antwort, ich hätte Sie beinahe vergessen... eigentlich sollte ich gerade die Arendt-Hausarbeiten meiner Student*innen korrigieren, aber ich unterbreche nun diese Tätigkeit, um Ihnen endlich einen Brief zu schreiben – so wie wir alle in unserem blinden Alltagstun unterbrochen worden sind, durch Ihre Nachricht an die Welt. 

Es ist nun zwei Monate her, dass ich zum ersten Mal ein verpixeltes Bild von Ihnen gesehen habe und die Nachricht um den Globus ging, dass Sie einen neuen viralen Erreger entdeckt haben, den wir nun als SARS-CoV-2 kennen. Seitdem ist die Welt eine andere. 

Diesen Wandel konnten Sie aber kaum mehr mitverfolgen, denn als einer der ersten Ärzte in Kontakt mit dem Virus, sind auch Sie infiziert worden und erlagen am 7. Februar mit 33 Jahren der Krankheit. Ihr Tod hat nicht nur Ihre Familie getroffen, von der Sie sich vorsorglich in einem Hotelzimmer distanziert hatten, Wochen bevor der Rest der Welt über ›Social Distancing‹ nachdachte. (Ihrer Familie geht es gut!) Ihr Tod wurde auch von Ihren Mitbürger*innen mit großer Trauer und Achtung verfolgt. Tausende Eingeschlossene wehklagten in der Nacht Ihres Ablebens aus den Fenstern der Hochhäuser Wuhans.

Es war nicht nur ein Wehklagen über die Tragik des Boten, der Sie uns allen geworden sind. Es war auch ein Wehklagen über die Verhältnisse in einem Land, dessen Regierung Sie anfangs der Falschnachricht und Aufhetzung verdächtigte, und von Ihnen forderte, Ihre Ergebnisse zu widerrufen, da sie die »gesellschaftliche Ordnung ernsthaft gestört« hätten. Und doch haben Sie sich vom Krankenbett aus entschieden, sich dem kontrollversessenen Staatsapparat zu widersetzen und die Welt zu informieren, um uns allen wichtige Wochen zu schenken. 

Diese Ihre Initiative, so wünsche ich mir, sollte unvergessen bleiben, was heißt: auf immer unsere Antwort erwarten zu können - unsere Verantwortung als Nachlebende anmahnen zu können. Anfangs wurde hier in Europa der Kontrollverlust mit westlicher Arroganz als ostasiatisches Problem gedanklich eingedämmt, ohne jedoch den realen Infektionsverlauf stoppen zu können. Heute schreiben wir auch in Europa unsere Briefe und Emails, unsere Abhandlungen und Tweets aus den Homeoffices, zumindest diejenigen, die so privilegiert sind, in Berufen zu arbeiten, die bezahlte Heimarbeit in großen Wohnungen ermöglichen. Die Welt, die Sie und wir vor Ihrer Nachricht kannten, ist eine andere geworden, denn wir »Menschen sind offenbar schlechterdings unfähig, die Prozesse, die sie durch Handeln in die Welt loslassen, wieder rückgängig zu machen oder auch nur eine verläßliche Kontrolle über sie zu gewinnen.« – so ein Zitat der Philosophin Hannah Arendt in ihrer Schrift Vita activa (München 2002, S. 296). Also können wir nur gemeinsam versuchen, mit dieser neuen Situation umzugehen, ohne uns zu verlieren. 

Dabei müssen wir sehr aufmerksam sein, was heißt, nicht nur gegenwartsbezogen und reaktiv zu agieren. Wir dürfen auch nicht vergessen! Wir können Ausnahmezustände ausrufen, dürfen aber nicht vergessen, welche Freiheiten wir dadurch beschränken. Wir können drastische Maßnahmen bejubeln, dürfen aber nicht vergessen, welchem Kontrollzwang sie erwachsen. Wir können Kassierer*innen, Paketliefer*innen und Pfleger*innen von unseren Balkonen beklatschen, dürfen aber nicht vergessen, sie besser zu bezahlen. Wir können angesichts der Todeszahlen in Italien und Spanien erschrecken, dürfen aber nicht vergessen, dass die von der Troika geforderten Sparmaßnahmen zur Schließung vieler Krankenhäuser geführt hatten. Wir können uns wieder Normalität wünschen, dürfen aber nicht vergessen, dass die frühere Normalität schon das Problem war – so ein Graffiti in Hong Kong, das auch eine Sendung an Sie und uns alle ist. 

So hoffe ich, dass unser aller Anstrengung irgendwann eine adäquate Antwort auf Ihre mutige Botschaft hervorgebracht haben wird. 

Ich danke Ihnen und werde versuchen, mich stets zu erinnern.
Mit besten Grüßen
Ihr Jan Beuerbach

 

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