Lieber Thomas
Ich schreibe Dir diesen Brief in einer verlernten Sprache. Das Leben hat mich aus dem Deutsch meiner Kindheit entlassen, ich schreibe meine Bücher auf Französisch. Adresse habe ich auch keine. Früher hätte man gesagt: Flaschenpost. Ein Online-Magazin ist wahrscheinlich aber viel besser. Wer weiss, vielleicht bist Du ja ein grosser Leser.
Seit dreissig Jahren hatten wir keinen Kontakt, und heute Nacht habe ich von Dir geträumt. Ich glaube, daran ist die Ausgangssperre schuld. Sie hat mich auf einer kleinen Insel im Atlantik getroffen, dort lebe ich, Teilzeit. Seit ich hier glücklich bin, habe ich den Sinn des Wortes « Privileg » erfasst.
Und als die Ausgangssperre von Präsident Macron angekündigt wurde, war ich eben hier. Seither scheint die Sonne. Wir haben einen Garten, eine kleine Raute Rasen, und eine schöne Terrasse, aus Holz. Also doppelt privilegiert. In Paris wohne ich in 35 Quadratmetern, Mansarde. Da werden andere gerade verrückt, meine Nachbarn und Freunde. Eingesperrt, für ihr eigenes Überleben.
Eingesperrt, oder ausgesperrt, ist die Hälfte der Weltbevölkerung, sagte man gestern im Radio. Also dann besser hier als anderswo, sagte ich mir. Eine schöne Terrasse aus Holz, mit einer kleinen Palme (hier am Meer ist ja nie Frost), das kann doch nicht so schlimm sein.
Morgens, wenn ich zum Bäcker möchte, muss ich erst meine Erklärung ausfüllen. Name, Geburtsdatum, Adresse, Uhrzeit, und der Grund meines Draussen-Seins. Nur vier oder fünf Motive sind legitim: Lebensmitteleinkäufe, ein Arztbesuch, die Apotheke, eine Stunde sportliche Aktivität (im Umkreis von maximal einem Kilometer), oder eine dringende Familienangelegenheit. Aber als dringend-zwingend gelten nur noch Todesfälle. Und selbst die: Beerdigungen sind auf 20 Trauernde begrenzt. Man stirbt alleine im Coronavirus-Zeitalter. Und in Paris haben die Bestattungsinstitute kein Platz mehr, in der Vorstadt musste ein grosse Halle gemietet werden, damit man die Särge irgendwo aufstellen kann.
Ich werde nicht sterben, habe keinen Risikofaktor, keine Diabetes und kein Übergewicht. Mein einziger Risikofaktor ist mein Lebenspartner – er ist Arzt. Wenn sein langer Tag in der Praxis zu Ende ist, zieht er sich in der Veranda ganz aus. Man möchte den Virus ja nicht mit nach Hause bringen.
Zu Hause, ja, da bin ich jetzt 24 Stunden pro Tag. Wie auf diesen Schildern, bei Tankstellen oder anderen Non-Stop-Geschäften : 24 - 7/7. Rund um die Uhr. Vom Bäcker abgesehen, und zweimal die Woche dem Fischhändler (sexy). Hinschauen darf man noch. Anfassen, davon kann man nur träumen.
Ausgangssperre hatte ich nie, als Jugendlicher. Dafür war ich zu brav, oder vielleicht war für meine Eltern Einschränkung der Bewegungsfreiheit ja ein Tabu. Ich bin mit dem eisernen Vorhang aufgewachsen. Die regelmässig verschickten Pakete für die Kusinen in Temesvar, die Geschichte vom Grossvater, der dort bis 1957 von den Kommunisten festgehalten wurde. Freiheit – oder der Mangel davon – war sehr konkret.
Jetzt beschränkt sie sich auf: Lebensmittelgeschäft, Bäcker und den Fischhändler mit Sex-Appeal. Leider gibt es kein Formular, welches mir Zugang zum Strand verschafft. (Und hier kommst Du ins Spiel, Thomas). Man kann das Meer hören, aber hin darf man nicht. In den letzten Wochen wurde die Insel sogar einige Male von Hubschraubern überflogen, um Spaziergänger von den Stränden zu verscheuchen. Baden ist verboten. Letztes Jahr hatten wir die Badesaison am 23. Februar begonnen. Wasser eiskalt, niemand ausser uns beiden in Sicht, die Badehose kann man vergessen. Das ist Freiheit. Schwimmen stand immer dafür. Ins Wasser, wann immer und wo immer es geht. Und damals, vor dreissig Jahren oder ein bisschen mehr, da warst Du Bademeister im Freibad, Thomas. Studentenjob.
Ich kam immer gerne als letzter Badegast. Oder bei schlechtem Wetter. Das Becken schon leer, oder fast. Dann hast Du es gewagt, Dich auch ins Wasser gleiten zu lassen, entgegen allen Regeln. Und ich weiss nicht, was ich mehr liebte: meine eigenen regelmässigen Bewegungen, die Choreographie von eins zwei drei links, eins zwei drei rechts, die Monotonie der Bahnen, fünfzig Meter hin, fünfzig Meter wieder zurück, bis man das Zeitgefühl verliert. Oder die Ahnung, eine Art bis daher unbekannte Harmonie mit einem anderen Körper erreicht zu haben. Eine verstörende und aufregende Vorstellung. Hast Du, parallel zu mir, genau das gleiche gespürt, nur von ein paar Kubikmetern Wasser getrennt? So stellte ich mir das jedenfalls vor.
Ja, und jetzt habe ich von Dir geträumt. Lange, lange Jahre nach diesem Sommer. Wegen Wassermangel. Schwimmmangel? Ausgangssperre. Das Meer verboten, alle Schwimmbäder schon längst geschlossen. Schwimmst Du noch? Und wo bist Du auf der Flucht von dem Virus sozial distanziert? Wenn Du diese Zeilen liest, vielleicht tröstet es Dich zu wissen, dass mir heute diese Stunden im Wasser mit Dir wieder bewusst werden. Dank des Coronavirus. Momente des sinnlichen Glücks, und einer Freiheit, von der wir jetzt nur träumen können.
Pass auf Dich auf, und sobald der Virus sich ausgehustet hat und Du wieder ein paar Bahnen ziehen kannst, dann denk an mich.
Dein
Jean