Liebe Hilma af Klint,
als Sie Stockholm verließen, um Ihre Stadtwohnung gegen ein zugiges Sommerhaus auf der Insel Munsö zu tauschen, tobte in Schweden die Spanische Grippe. Ihre blinde Mutter nahmen Sie mit, außerdem die Krankenschwester Thomasine Andersson, Ihre Freundin und Lebensgefährtin, die während des Krieges beim Roten Kreuz arbeitete. Mit dem ersten Frühling begannen Sie ein Buch, dem Sie den deutschen Titel »Blumen, Moose und Flechten« gaben. Es beginnt am 22. April 1919 mit einem Eintrag zum Leberblümchen.
Am 22. April hätte ich, mehr als hundert Jahre später, einen Termin für eine Lesung gehabt, um über Ihr Leben und Werk zu erzählen. Stattdessen kam Covid-19 und ich fuhr mit meiner Familie auf’s Land, um das Leberblümchen zu suchen. Als wir es im Wald an einem See fanden, fühlte ich mich, als hätten Sie es uns persönlich geschenkt. In Ihrem Notizbuch steht:
»Hinter der sprudelnden Kraft der Pflanze verbirgt sich die Wärme des Fühlens, hinter der Beweglichkeit des Tiers liegt die Kraft des Denkens. In dem Ernst des Steines werden Denken und Fühlen vereinigt.«
Diese Zeilen fielen mir ein, als ich mich auf den Boden neben das Leberblümchen setzte, um es besser ansehen zu können. Seit einigen Monate brauche ich eine Brille.
Sie glaubten fest an Wiedergeburt. Also versuche ich es. Wo auch immer Sie jetzt sind: Mit diesem Brief will ich mich bedanken. Danke, Hilma af Klint.
Ihre Julia Voss