Liebe Mama,
du bist tot und das ist vielleicht im Moment ganz gut, denn du würdest sonst möglicherweise eine Panikattacke bekommen, angesichts dessen, was die Welt gerade in ihrem Innersten bedroht. Ein Virus ist es, der hier alle und alles im Griff hält. Einer, den keiner kennt, der Angst macht, weil Menschen vor dem Unbekannten Angst haben. Einer, der eine Kettenreaktion der Ereignisse hervorgerufen hat, wie fallende Dominosteine, einmal um den Globus herum. Einer, der uns unsere Empfindlichkeit und Verletzbarkeit zeigt, der sichtbar macht, wie schnell alles zusammenbrechen kann. Wir Menschen befanden uns auf der Überholspur und haben immer schneller gelebt, gearbeitet, gedacht, gefühlt, reagiert, sind immer globaler und mobiler geworden und durch die Länder gebraust, wie du es nicht mehr erlebt hast, da du dich verabschieden musstest, noch bevor der 11. September die Erdengemeinschaft durchrüttelte mit nie geahnten Konsequenzen. Als du und ich und mein Kind miteinander das Leben verbrachten, drei Generationen, da gab es noch kein Smartphone und es war auch noch nicht üblich, dass Künstler wie ich täglich Stunden vor ihrem Computer saßen, um die eingehende Emailflut abzuarbeiten, zum größten Teil bestehend aus Terminen, die sich stündlich oder täglich ändern, mit kurzen Fragen und sinnentleerten Informationen, fyi. Seitdem sind wir immer schneller geworden – und ängstlicher. Und daher sozusagen sicherer. Die Kriminalitätsrate in Deutschland, das habe ich gestern im Radio gehört (24.3.20), hat im Jahr 2019 drastisch abgenommen, dafür ist die cyber-Kriminalität und die Kinderpornographie im Netz angestiegen. Was sagt uns das?
Wir rennen und wirbeln dabei viel Staub auf. Der Staub ist toxisch, wenn er aus Fortbewegungsmitteln kommt, wie kleinstadtgroße Kreuzfahrtschiffe oder Flugzeuge. Du hattest Angst vor Flugzeugen und Fahrstühlen, der Generation geschuldet, die viel Zeit in Bombenkellern verbringen musste, so stellte sich bei dir Klaustrophobie ein, die ich offensichtlich vererbt bekommen habe.
Wir sind alle so schnell gerannt und haben getan, als sei dem nicht so, denn wir sahen dabei gut aus in unserer Mobilität, mit Steckern in den Ohren, die nicht einmal mehr Kabel benötigten.
Doch jetzt haben alle eine Vollbremsung gemacht. Auf der geschwindigkeitsunbegrenzten Autobahn des Lebens. Sozusagen. Wir haben gemeinschaftlich gebremst, nein, wir sind richtig in die Eisen gestiegen. Wir sind stehen geblieben, mit blinkenden Warnlampen, kreuz und quer, stell es dir von oben vor. Viele sind in den Graben gefahren, ob sie da jemals wieder rauskommen, bleibt derzeit unbeantwortet. Schweigend stiegen wir schließlich aus den solistischen Vehikeln aus und sind in einer großen Meute über das Feld nach Hause gelaufen, zu Fuß. Da war es ganz still, denn der Straßenlärm war ausgeschaltet worden. Die Autos blieben allein zurück, wie in einem dystopischen Film. Das Erstaunliche dabei ist und ich bin sicher, das würde dir gefallen, dass man sich auf dem Weg nach Hause in Gruppen zusammengefunden hat, Kinder huckepack nahm, den Älteren einen Arm reichte oder deren Tasche trug. Schweigend gingen wir über die Felder, wie Geflüchtete auf der ehemaligen Balkanroute, nur mit dem Unterschied, dass wir wussten wohin: nach Hause. Die, die eines haben und das sind hier die allermeisten. Dort sitzen wir nun, während die Erde nicht den Atem anhält, sondern kräftig durchatmet. Du solltest die Kanäle in Venedig sehen … die du aus den 60er Jahren kennst, als sie wohl so kristallklar waren, wie sie es jetzt wieder in der allerkürzesten Kürze der Zeit geworden sind. Die Menschheit hält den Atem an und bekommt Atembeschwerden, während die Natur frei atmet.
Mein Zuhause ist auf dem Land, ich hab es gut, dass ich auf dem Land sein kann, das ist mir vollkommen klar und ich bin dankbar dafür, dass ich hier mit Freunden eine Solidar-, Not- oder Corona-Wohngemeinschaft bilden konnte. Wärst du noch hier, wärst du bei uns, das ist klar.
Es hat Bedeutung, derzeit hinausgehen zu können, in den eigenen Garten, in dem Platz ist, angesichts der beschränkten Mobilität, der Ausgangssperre, die konsequent durchgesetzt wird, mit Polizei und Geldstrafen. Ein Freund sagte mir, er ginge einmal am Tag mit seinen Kindern »Gassi«. Die Spielplätze sind geschlossen. Ja, richtig gehört. Du hast Städte gefürchtet, daher lebte ich als Kind auf dem Land, wovon ich nun, nachdem ich lange das Leben in der Stadt einsog, profitiere. Es ist ein Leben der Entschleunigung.
Alle Bildungsstätten sind geschlossen, auch alle Kinos, Theater, Opern, Restaurants, Cafés, Imbisse, Clubs, Bars, Fitnessstudios. Im Supermarkt wird man bereits an der Tür freundlich begrüßt, zumeist von jungen Menschen mit Handschuhen und Atemmaske, die einen bitten kurz zu warten, einen dann höflich auffordern hereinzukommen und sich die Hände zu desinfizieren, dann wünschen Sie einem einen schönen Tag und sagen »Bleiben Sie gesund«. Das Verrückte daran ist, dass der Satz ernst gemeint ist und die Antwort ebenso: »Sie auch.« Die Entschleunigung hat Respekt und Höflichkeit geboren. Vor der Kasse hält man Abstand und keiner kickt mehr seinen Einkaufswagen in die Knie des vor ihm Wartenden. Ja, ich höre dich, dass das sowieso ein Unding sei. Man schaut in offene Gesichter, begegnet Menschen, die sich den Vortritt lassen, die warten, bis man vorbei gegangen ist, die sanfter und weniger reden. Der schnelle Vorwurf, der einem sonst ins Gesicht geworfen wurde, hat sich verzogen, vielleicht ist er in Quarantäne. Ich hoffe, dass er dort bis zum Ende der Zeit verweilt.
Die Kinder machen home-schooling, das heißt: sie werden von ihren Eltern unterrichtet, auf Anweisungen der KlassenlehrerIn, die per mail verteilt werden. Was sich dabei, meines Erachtens einstellen wird, ist eine zunehmende Wertschätzung des Lehrberufs. Deines Berufs. Was Lehrer leisten, erkennen nun viele, die plötzlich diese Aufgabe für ihre eigenen Kinder übernehmen müssen. Und die Kinder realisieren möglicher Weise, dass es angenehm sein kann mit der ganzen Klasse zu lernen, weil man dann nicht immer dran ist und es Pausen gibt, die man mit den Kumpels auf dem Schulhof verbringen kann.
Die Fälle von häuslicher Gewalt sind um das Dreifache gestiegen. Weil es viele Menschen gibt, die beengt leben, deren Existenzangst sich exponentiell mit der Ausbreitung des Virus und den sich immer schneller steigernden einschränkenden Maßnahmen, als auch der Ungewissheit, wann es vorüber sei, vergrößert.
Menschen werden aus ihren Ferienorten zurückgeholt, partiell mit Flugzeugen der Regierung. Die Grenzen sind geschlossen. Die Mobilität ist erledigt. 95% der Lufthansaflüge sind gestrichen. Alle Kreuzfahrten ausgesetzt. Wir rasen nicht mehr. Wir sind stehen geblieben und wissen nicht, was mit der Zeit anzufangen.
Und so klatschen wir für das Pflegepersonal, die Ärzte und all jene, die den Laden am Laufen halten, und so telefonieren wir oder machen Videokonferenzen, ja, man kann sich jetzt während des Telefonierens ansehen, ich weiß, das wäre nichts für dich. Wir erkundigen uns nacheinander, kaufen ein für die älteren Nachbarn, die der Risikogruppe angehören und stellen die Einkäufe vor deren Tür. Rufen Freunde an, schreiben ihnen, dass wir sie lieben und vermissen. Wir sind näher aneinander herangerutscht, wie das nur bei weniger hohem Tempo geht.
Wie du dir vorstellen kannst, überschlagen sich die Nachrichten, man kommt nicht hinterher. Es wäre eine gute Gelegenheit das bedingungslose Grundeinkommen endlich einzuführen, doch stattdessen hat die Bundesregierung ein riesiges Geldpaket zusammengestellt, um die am Boden liegende Wirtschaft zu retten. Wer da gerettet wird, bleibt fraglich. Die freiberuflichen Künstler sicher nicht. Auf dem online-Portal, auf dem man sich auch als Künstler für einen Zuschuss anmelden kann, steigt man mit der Wartenummer 250.000 ein, daher wurde es vorläufig geschlossen. Das Bedingungslose Grundeinkommen wäre das Experiment der Stunde, ohne Anträge könnte es zügig über die Bühne gehen für jeden mit einer Steuernummer, aber Kapitalismus geht nicht gleichberechtigt und ohne Anträge, so ist das auch in pandemischen Zeiten. »Geld regiert die Welt«, sagtest du immer, die du keines hattest.
Die unterschiedlich hohen Zahlen der Infizierten und Verstorbenen machen es möglich: Nationalstaatsdenken, jeder wieder für sich. Ich frage mich, was nach der Corona-Pandemie von der Europäischen Union übrigbleiben wird. Das vereinigte Europa, dessen Fan ich noch immer bin, enttäuscht in seiner Phantasielosigkeit, Unentschiedenheit und mangelnden Solidarität. Die Grenzen sind geschlossen, vielleicht belässt man es dabei und das Experiment EU ist perdu.
Auf der griechischen Insel Lesbos hat sich, wegen des Kriegs in Syrien, den es seit neun Jahren gibt, ein Geflüchtetenlager formiert, das die schlimmsten Bedingungen der Welt in sich trägt. 20.000 Menschen leben in einem Lager, das für 3000 Menschen gedacht war. Sie liegen in Olivenhainen, mangels ausreichender Unterbringungen, und die Kinder werden krank. Die Krätze ist ausgebrochen. Die Räumlichkeiten der Nichtregierungsorganisation »One happy family« (OHF) sind abgebrannt, wahrscheinlich Brandstiftung. Kurz danach ein weiterer Brand, der durch das Lager tobte. Was, frage ich mich seit über zwei Wochen, wenn der Covid-19-Virus das Lager besucht? »Dann, tja, dann können wir keine Kinder mehr in die EU holen«, wird dann wohl gesagt werden, die wochenlangen Debatten verliefen bislang im Nirgendwo. Es wird geprüft, ob 1600 unbegleitete Kinder aufgenommen werden, was in den „nächsten Wochen“ über die Bühne gehe soll, doch wer hat soviel Zeit. Corona ist schneller als politische Entscheidungen, das haben wir inzwischen verstanden. Und dann? Wartet man dann, dass alle sterben? Wird Moria dann aus Versehen ein Vernichtungslager? Wir haben einen Videobrief an den Minister des Inneren verfasst, bewirken wird er wahrscheinlich nichts, auch der Brandbrief, den ich an die Staatssekretärin für Kultur schrieb, die Dreharbeiten, die nicht der Information dienen, doch bitte mit einem Erlass seitens der Bundesebene sofort einstellen zu lassen, versandete. Und so bleiben die Produktionsfirmen auf den Kosten sitzen und die ersten Produzenten sind bereits insolvent. Die Öffentlich-Rechtlichen könnten hier einschreiten, wenn sie wollten, sie sind reich, doch sie tun es nicht, sie übernehmen die Hälfte der Kosten, warum eigentlich die Hälfte?
In Indien wird versucht mit bizarren Methoden die Menschen daran zu hindern, ihr Zuhause zu verlassen, die, die eines haben (wie man weiß, leben dort Millionen auf der Straße). Wenn der Rikschafahrer nicht Rikscha fährt, hat er keine Einnahmen und kann sich nichts zu essen kaufen, wie soll er sich also mit seiner Familie in zum Beispiel Colaba, einem Shantytown in Südmumbai, in Quarantäne begeben und die Ausgangssperre befolgen. Dort wird kein Geldpaket geschnürt für die Ärmsten, nirgendwo wird ein Geldpaket geschnürt für die Ärmsten, auch hier erhalten die Ärmeren weniger Abschlagszahlungen als die weniger Armen.
Jene Inder also, die trotz der Ausgangssperre versuchen ein paar Rupien zu machen, werden von der Polizei nicht nur mit Ohrfeigen traktiert, sondern auch zu Demutsübungen gezwungen: sie müssen sich vor die Polizisten knien und mantraartig wiederholen, dass sie das Gebot nicht mehr brechen werden. Oder sie werden aufgefordert, Kniebeugen zu machen. In Kenia bereitet man sich auf den Ansturm vor, so gut es geht, derweil in Burkina Faso vor den Toren Ouagadougous ein neues Geflüchtetenlager entstanden ist. Was, wenn die Pandemie die gesamten Subsahara-Länder erfasst?
Die Welt wird nicht mehr die sein, die sie vor der Pandemie war, das ist klar. Die Chance ist, dass sie eine humanere wird und eine offene Gesellschaft gelebt wird, die den neu erlernten Respekt und die Höflichkeit in unseren Breitengeraden auch weiterhin nicht verliert und die uns die vergessenen Werte wieder neu erkennen lassen und die Freude daran, dass wir ein Leben frei gestalten können und gesund sind.
Doch wie immer gilt das nicht für alle. Wir sind viele Menschen auf diesem Planeten, den wir systematisch ausbeuten, und deren Beute unter einigen Wenigen aufgeteilt wird. Diese biblische Katastrophe könnte uns die Augen öffnen, wie kurz unsere Lebenszeit ist und wie wir sie sinnvoll verbringen könnten.
Deine Lebenszeit war zu kurz, Mama, bleib gesund, wo auch immer du bist.
In Liebe
Katja