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Ein Brief von Marion Brasch

Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR, später fürs Radio. Bei S. Fischer erschienen die Romane »Ab jetzt ist Ruhe«, »Wunderlich fährt nach Norden« und zuletzt »Lieber woanders«.

 

Lieber J.,

bitte entschuldige, dass ich Dich neulich nicht zurückgerufen habe, aber ich hatte hier einen kleinen Notfall. Nichts Dramatisches, mir ist nur der Kühlschrank kaputtgegangen, und ich musste mir schnell einen neuen kaufen, was gar nicht so einfach war, weil ja die Geschäfte zu sind und ich solche großen Sachen noch nie im Internet gekauft habe. Keine Ahnung, warum nicht, ein Kühlschrank ist ein Kühlschrank ist ein Kühlschrank, aber trotzdem. Egal, hat alles gut geklappt, der neue ist da und arbeitet vorschriftsmäßig. Im Gegensatz zu mir, ich bin faul. Das bin ich sonst auch, nur habe ich jetzt eine bessere Ausrede, weil ich behaupten kann, gerade nicht schreiben zu können, weil ich genau wie Du den Kopf nicht frei bekomme von diesem bescheuerten Virus. Dieser kleine Bastard – erster Gedanke beim Aufwachen, letzter beim Einschlafen. Irgendwie erinnert mich das alles an das Gefühl 89/90 im Osten. Einerseits war alles unglaublich faszinierend und spannend, weil ja jeden Tag etwas anderes passiert ist, und andererseits diese existentielle Ungewissheit und Beunruhigung, wie es weitergehen würde mit uns. Aber gelernt haben wir Ostler nichts daraus, glaube ich. Im Gegenteil. Naja, andere Geschichte ...

Dennoch, ich gehöre (noch) zu den Leuten, die darauf hoffen, dass dieser Mist auf längere Sicht für irgendwas gut sein wird, und die gerne diesen Zukunftsforschern glauben würden, die das »Potential« der Krise sehen und darauf verweisen, dass jedem Ende auch ein Anfang innewohnt, dass die Welt sich neu erfinden kann und so ... Und dann fällt mir diese Szene aus »Donnie Darko« ein, wo Jake Gyllenhall sagt: »I hope that when the world comes to an end, I can breathe a sigh of relief, because there will be so much to look forward to.« 

Apropos Film, einer meiner letzten Jobs war eine Synchronsache für eine Serie, die im Herbst anlaufen soll. Ironie des Schicksals: Die Serie handelt von einer Virusepidemie, und sie 

brauchten eine Stimme, die im Hintergrund immer mal mit aktuellen Meldungen und Verlautbarungen zu hören ist. Das war total schräg, weil die Texte fast im Wortlaut gerade im wirklichen Leben über die Kanäle laufen. Völlig surreal, das alles. Und verrückt wie die Kunst mal wieder auf fatale Weise vom Leben eingeholt wird. Das einzig Tröstliche ist, dass es sich beim Serienvirus um ein sehr viel gefährlicheres handelt als bei dem kleine Miststück, mit dem wir es gerade zu tun haben. Ich glaube, man wird solche Serien oder Filme mit völlig anderen Augen sehen, wenn man ein solches Szenario selbst erlebt hat. Es wird vielleicht nicht mehr der durchaus angenehme Schauer sein, der uns sonst bei Katastrophenfilmen den Rücken runterläuft. Wir werden das Geschehen dann vermutlich eher mit lässigem Kopfnicken begleiten, weil wir Bescheid wissen. Schon witzig, was sich so alles relativiert in diesen Zeiten, oder? Die Zeit selbst zum Beispiel ... wie die sich auf einmal dehnt, weil man so viel davon hat. Naja, wem sag ich das. Wer, wenn nicht du, weiß, wie das mit zu viel freier Zeit ist ... Oder nehmen wir das Glück. Gestern wollte der Sohn eines Freundes noch unbedingt die neue Playstation haben, jetzt ist die ihm egal, und er will einfach nur noch seine Kumpels sehen. Oder mein Nachbar. Hypochonder vor dem Herrn. Er war einer der ersten, die mit Maske durch die Gegend gerannt sind. Neulich hab ich ihn auf der Treppe getroffen, er hatte einen Gipsarm. Epileptischer Anfall, gestürzt, Arm kaputt. Jetzt liegt er im Krankenhaus, Diagnose: Hirntumor. Ich kann mir vorstellen, dass er den jetzt am allerliebsten mit dem scheiß Virus tauschen würde. Ja, alles relativ ... auch die Schönheit. Als ich gestern über den fast menschenleeren Alex lief, fand ich den extrem schön in seiner melancholischen Weite und mit der einsamen Weltzeituhr, die so tat, als wäre nichts.

Naja, was soll auch schon sein, das Leben geht weiter. Tut es ja immer.

Deine M.

 

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