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Ein Brief von Michael Lemling

Michael Lemling ist seit 2006 Geschäftsführer der Münchner Buchhandlung Lehmkuhl. Er ist einer der Sprecher der IG Meinungsfreiheit im Börsenverein des deutschen Buchhandels und gehört der Jury der Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik an.

Lieber Oliver,

 

seit 10 Tagen ist die Buchhandlung dicht, aber die Betriebsamkeit war in diesen Tagen größer als zu normalen Zeiten.

Wie ernst die Lage ist, haben wir erst kapiert, als die Tür zu war. Kein Kunde mehr, kein Gespräch, keine Empfehlung, keine Backlist, keine Novitäten, kein Umsatz. Die Stille nach einer Vollbremsung. Die vier Tage vor dem Lockdown waren wie ein Weihnachtsgeschäft zur falschen Jahreszeit. Als Söder die Schließung der Schulen verkündete, dauerte es nur wenige Stunden, bis unsere Kunden scharenweise in die Buchhandlung kamen und Stapel an Kinderbüchern, Lernmaterialien und Romanen aus dem Laden trugen. Ein Szenario, das heute schon strafbar ist und uns mindestens 5.000 € Bußgeld und jeden Kunden 150 € Strafe kosten würde. Trotz der Unvernunft aller Beteiligten in diesen Tagen, gaben sie uns gleichwohl die Zuversicht, dass Bücher auch in der größten Krisenzeit nicht überflüssig werden. Vielleicht sind sie dann wichtiger denn je. Das machte uns Mut, weiter zu machen. Auf allen möglichen Wegen, mit Handzetteln, Plakaten im Schaufenster, auf unserer Homepage und unseren bislang stiefmütterlich betriebenen Social-Media-Kanälen haben wir verbreitet, dass wir trotz Schließung des Ladens am Telefon und am Rechner erreichbar sind und liefern können, über unseren Onlineshop, über die Post, mit dem Kurier, dem Rad und zu Fuß. Als wichtigster Kontakt zu unserem Kunden hat sich das Telefon erwiesen. Deshalb haben wir lange Präsenzzeiten eingerichtet: von 10 bis 17 Uhr sind wir täglich erreichbar. Wer uns anruft, erreicht tatsächlich seine Buchhändlerin oder seinen Buchhändler, kann sich beraten lassen und wird beliefert. Wir kommen uns vor wie die Mainzelmännchen im Terrarium. 

Zwei Tage hat es gedauert bis die Nachricht, dass wir erreichbar sind, sich in Schwabing herumgesprochen hatte. Unser Umsatz wächst jetzt von Tag zu Tag. Wir haben das Gefühl, dass eine große Sympathiewelle den Sortimentsbuchhandel erreicht. Nicht nur bei uns, eigentlich bei allen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich in Kontakt stehe, klingelt ständig das Telefon und trudeln viele Bestellungen per Mail ein und die Direktbestellungen über die Onlineshops erreichen unbekannte Höhen. Natürlich fangen wir damit nicht den Umsatz auf, den wir normalerweise haben. In den ersten Tagen dachte ich, das ist alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein, jetzt glaube ich: da ist mehr drin. Es gab tatsächlich schon einen Tag, da spielten wir 60% unseres Normalumsatzes ein. Irre, oder? Nach 10 Tagen liegt der Durchschnitt bei 45%. Und dafür sind wir unendlich dankbar in diesen Zeiten. Wir Buchhändler können auf den Wegen und Kanälen, die uns geblieben sind, tatsächlich noch was reißen. Diese Möglichkeiten stehen anderen Einzelhandelsbranchen gar nicht zur Verfügung, ganz zu schweigen vom Elend in der Gastronomie oder der Hotellerie. 

Auch wir gehen jetzt gleichwohl den Weg in die Kurzarbeit, um über die Runden zu kommen. Wir sind aber sehr zuversichtlich, dass wir das zusammen mit unseren Kunden gut schaffen.  So ist die Lage hier. Auf der Verlagsseite ist das sicherlich dramatischer, seit klar ist, dass Amazon die Bücher herabgestuft hat. Die Buchläden vor Ort haben bei aller Liebe nicht annähernd die Kraft, die Amazon hätte, um Eure Bücher jetzt online zu verbreiten. Das ist mir schon klar. Aber wie verrückt ist das denn: in diesen Zeiten können die kleinen Buchhändler Ingo Schulzes famosen neuen Roman schneller liefern als Amazon Prime. Weil sie ihn im Laden noch vorrätig haben und in der Not auch persönlich in den Briefkasten liefern. Wir machen weiter. Singen können wir nicht. Aber Gedichte aufsagen. Zum Beispiel von Robert Gernhardt: »Ums Buch ist mir nicht bange ….«

 

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