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Ein Brief von Miku Sophie Kühmel

Miku Sophie Kühmel wurde 1992 in Gotha geboren. Sie hat an der Humboldt-Universität zu Berlin und der New York University studiert, unter anderem bei Roger Willemsen und Daniel Kehlmann. Seit 2013 erscheint ihre Kurzprosa regelmäßig in Zeitschriften und Anthologien. Seit kurz davor erzählt sie Geschichten auch in Radiostücken und Podcasts, die sie produziert. »Kintsugi« ist ihr erster Roman.

EINE WOCHE VOLLER NICHT-TAGE

Sonntag
Darf bei Viral lesen, dem digitalen Literaturfestival mit dem witzigsten Namen. Zum Zeitpunkt meiner Zusage vergessen: Besitze keinen Schreibtisch. Stelle den Wohnzimmersessel in mein Bett, um irgendeine Ablage zu haben, ein wackeliges Freischwingerstativ, unfreiwilliger Steadycam-Effekt. Trage obenrum Abendgarderobe, hüftabwärts Jogginghose. Trinke Wein. Blinzle kurz in die zwei Linsenaugen von Laptop und Telefon. Meine Backen hängen ein bisschen wie bei einer Bulldogge, wenn ich vorlese. Man lernt nie aus.

Montag
Habe heute eine mehrstündige Videokonferenz vor mir. Habe noch immer keinen Schreibtisch. Klappe den Futon zusammen, lege ein Kissen für den unteren Rücken zurecht, stelle eine Kanne Kaffee bereit, Nüsse und Trockenobst (nur Mango, bin Trockenobstpuristin) und andere Dinge, auf denen man unauffällig kauen kann. Überlege, die Haare zu waschen, mache es aber nicht, schiebe mir die Kopfhörer wie einen Haarreif in die Frisur. Ziehe mich weiterhin nur vom Bauchnabel aufwärts schick an, drunter Frottee, Jersey und bedruckte Pokémonsocken – zur Beschwörung meiner jeweiligen Tagesform: zum Klettern und Lösen schwerer Aufgaben Bisasam, wenn’s schnell gehen muss Pikachu, wenn ich entspannen will Relaxo, wenn Leichtfüßigkeit gefragt ist Pummeluff.

Dienstag
7:30 Robyns Gesicht im Telefon. Wir sind beide verquollen und kreidegesichtig, aber wir tragen Sportsachen und hocken auf unseren Yogamatten: kann losgehn. Eine halbe Stunde springen, boxen, kicken, hampeln wir in zwei getrennten Wohnungen mit drei Kilometern zwischen uns, aber im gleichen Tempo, einer agilen Trainerin auf YouTube hinterher. Ich versuche, leise zu hüpfen, um die Mitbewohner*innen nicht zu stören, glitsche über die Matte. Auf dem Balkon zu meiner Rechten argwöhnt eine Taube. Nach einer halben Stunde sehen Robyn und ich immer noch fertig aus, aber rotgesichtiger und zufriedener und der Körper sagt leider: Es tut weh, aber es tut so gut! Vor lauter Zufriedenheit krieche ich nach der Dusche wieder ins Bett. 

Mittwoch
»Ist viel zu ruhig«, sagt der Makalimann mit rauer Stimme und legt das Sandwich in die kleine gezackte Plastikhalterung in der Luke. Er tritt einen Schritt zurück, ich rücke, wie eine Schachfigur, genau so weit nach vorn, lege Bargeld ab, nehme mein Mittagessen entgegen, nicke ihm zu. Der Regen plitscht über uns auf die Markise, auf der anderen Straßenseite kommt jemand vom Bäcker. Man muss täglich einmal raus. Auf Boden gehen. Wetter abkriegen. Auch wenn’s einstweilen gespenstisch ist.

Donnerstag
Um 00:01 habe ich die Briefe aufgerissen, die meine Familie mir geschickt hat. Die Geburtstagskarten rund um mein Bett aufgestellt. Was ich mir schenke: einen Schreibtisch, Lieferdatum Mitte Mai. Am nächsten Morgen um 8 Uhr steht, kontaktlos übergeben, ein Blumenstrauß im Flur. Gesang auf der Mailbox und in den Sprachnachrichten, die meisten Glückwünsche sind auch halbe Kondolenz: »Alles Gute und ach, muss ja blöd sein …« – ich bin 28 und die Sonne scheint, ich schaukle auf meinem Balkon, geh zur Mittagszeit ein Eis essen – auf Abstand versteht sich. Und finde: Es geht.

Freitag
Den Vormittag gekrümmt an die Heizung gelehnt gearbeitet. Es geht so nicht. Mittags auf eingeschlafenen Beinen und mit steifem Nacken zum nächsten Baumarkt. Nur noch 100 Leute dürfen gleichzeitig hinein. Auf der Rolltreppe sehe ich mich um, zähle. Komme nur auf 7. Die meisten müssen versteckt sein hinter Blumentöpfen und Gartenmöbeln, Bauschaum und Glaswolle. Eine halbe Stunde schleppe ich zwei Böcke durch den Markt, begleitet von der gebieterischen Durchsage, nur die absolut nötige Einkaufszeit in Anspruch zu nehmen, und suche nach einer passenden Tischplatte. Dielen, Regalböden, meinetwegen eine Tür. Als ich im Restholz finde, wonach ich suche, stelle ich fest: Das bekomme ich niemals allein fort. Ich bin zu schwach. Weil ich müde bin und kraftlos und weil ich nicht mehr zum Sport darf – nicht, dass ich ständig gegangen wäre, als ich es noch durfte. Mit leeren Händen und hängenden Schultern zieh ich fort, halte mit Mühe Abstand zu Passagier*innen in der U-Bahn, schaffe es kaum die Treppe rauf. Schaue mich keuchend im Zimmer um. Probiere verschiedene Ersatztische aus: das Historische Wörterbuch der Philosophie hat die richtige Regalmeterlänge, ist aber nicht tief genug und von oben auch eine schlechte Schreibunterlage. Mein Bett ist mein Bett und soll es bleiben. Und wenn ich noch einmal meinen Laptop auf diesen Sessel stellen und mich davor kauern muss, schmeiße ich beides hochkant aus dem Fenster. Schließlich zerre ich die Umzugskartons herein: Flurleichen, seit ich sie vor ein paar Monaten ausgepackt habe. Falte sie auf, stelle sie mit dem Boden an die Wand und der Öffnung nach vorn hin, stelle Blumen drauf und eine Lampe, stelle das Wörterbuch rein für die Stabilität, setze mich schnaubend davor und sage: SO!

Samstag
Sophie, mit der ich heute Vormittag videotelefoniere, staunt nicht schlecht über meine Kartonkonstruktion. Stellt ihr Telefon auf dem Sofa ab. Sie wackelt ein bisschen, aber das geht schon. Ich lese. Sie liest. Und manchmal gucken wir uns zu, lachen, winken, seufzen, erzählen etwas, lesen eine Stelle vor. Sind gemeinsam allein.

 

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