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Ein Brief von Monika Maron

Monika Maron ist Schriftstellerin und hat zahlreiche Romane und Essays veröffentlicht. Zuletzt erschien »Munin oder Chaos im Kopf«. Ihr neuer Roman »Artur Lanz« ist in Vorbereitung.

Lieber H.,

aus unserem Besuch wird ja nun nichts, Du darfst nicht nach Vorpommern, und ich dürfte zwar noch nach Berlin, käme aber mit meiner Berliner Autonummer nicht mehr zurück in mein Haus. Natürlich könnten wir telefonieren, aber jetzt ist es zu spät, um Dich anzurufen, und so besinne ich mich in unseren ungewohnten Lebensumständen auf die schöne alte Sitte des Briefeschreibens. Dabei gibt es wenig zu erzählen, was Du nicht sowieso weißt, die täglichen Berichte über Kranke, Tote und ungewisse Aussichten. Im eigenen Leben passiert ja nicht viel, letzte Änderungen am Buch, Spaziergänge mit dem Hund, Gespräche und ein Glas Wein mit den Nachbarn (ist das eigentlich erlaubt?), ein bisschen Rumzupfen und Harken im Garten, mehr lohnt noch nicht wegen der Nachtfröste. Nur dass der Tod einem so nahe gerückt ist. Natürlich hält man in unserem Alter einen plötzlichen schweren Einbruch sowieso für möglich, aber eigentlich habe ich nach kurzem Befragen meiner Befindlichkeit den Tod doch immer in eine mittlere Zukunft verwiesen. Aber wenn ich jetzt lese, dass in Italien Menschen unseres Alters von vornherein aussortiert werden, weil die medizinischen Kapazitäten nicht ausreichen, bedaure ich, dass ich die sehr ausführliche Patientenverfügung, die jetzt unerreichbar in Berlin auf meinem Schreibtisch liegt, immer noch nicht unterschrieben habe. Auch die Erbschaftsangelegenheiten sind nicht geklärt, sogar eine Grundbuchsache hätte ich seit Jahren regeln müssen. Also hoffe ich, dass die Vorpommersche Einsamkeit mich vor einem vorzeitigen Ableben bewahrt. Dabei standen vor einigen Tagen mitten in der Nacht zwei Polizisten vor meiner Tür und erklärten unter Androhung drastischer Maßnahmen, ich hätte mein Haus, in dem ich seit vierzig Jahren die wärmere Jahreszeit verbringe, am nächsten Tag zu verlassen. Ich habe sofort meine Verbündeten auf Facebook um Rat gebeten und war nach fünf Minuten mit guten Wünschen, vor allem aber mit einem Link zu dem rettenden Paragraphen in der Corona-Verordnung der Landesregierung bedacht. Und wie Du siehst, bin ich noch hier. Wenn ich hier ohne Nachrichten leben müsste, könnte ich glauben, in der Welt ginge es zu wie immer. Aber so befinde ich mich in einem gespenstischen Zustand zwischen meinem fast normalen Alltag und der völlig veränderten Welt, in der die Gesetze von gestern nicht mehr gelten und niemand weiß, ob sie je wieder gelten werden. Ich weiß, Du bist da optimistischer als ich, und geb’s Gott, dass Du recht hast.

Eigentlich wollte ich über das C-Thema kein einziges Wort verlieren und schreibe bis jetzt von nichts anderem.

Gestern habe ich eine Umzugskiste geöffnet, die seit neun Jahren, seit dem Tod meiner Mutter, ungeöffnet in der Kammer steht. Berge von Fotos, die wir beim Ausräumen der Wohnung unbesehen in den Karton gepackt oder aus Schubfächern reingeschüttet haben, diese kleinen Schwarzweißfotos mit den gezackten Rändern. Auch ein paar große von einem Fotografen darunter. Meine junge Mutter, meine Tante als junge Frau in eleganter Pose, die ich später an ihr nie gesehen habe. Ein Foto von dem schönen, großen Hund meiner Kindheit, Babybilder von mir. Nur Tote begegneten mir auf den Bildern, und nur ich lebte noch. Und wie normal das Sterben mir vorkam, das Sein und Vergehen, während ich mich an die Lebenden erinnerte. Meine Mutter wäre jetzt 104 Jahre alt und meine Tante 110. Es hat sie gegeben, und jetzt sind sie nicht mehr da, wie ich, die ich einmal dieses dicke Baby auf dem Foto war, bald nicht mehr da sein werde. In dieser Stunde, allein mit einer Vergangenheit, deren Zeuge ich gewesen war, hatte der Tod, das Verschwinden von dieser Welt, das Unfassbare verloren. In dieser Stunde, nur in dieser Stunde, war ich in einer sehr ruhigen, wie aus dem Jenseits entliehenen Stimmung mit meinem Sterben einverstanden. Jetzt, da ich Dir davon schreibe, ist dieser Glücksmoment schon wieder vorbei und der Tod wie immer für einen nicht gottgläubigen Menschen wie mich eine Zumutung.

Also lieber noch ein paar Sätze über die sehr lebendige Bonnie Propeller, die in der weiten Landschaft hier noch kleiner wirkt, als sie ohnehin ist. Sie hat die Schafe gegenüber auf der Koppel als ihre Gegner ausgemacht und rennt, sobald wir das Grundstück verlassen, bellend am Zaun entlang, was die Schafe aber wenig beeindruckt. Sie gucken nur verwundert auf dieses kleine Gehopse und kauen weiter ihr Gras. Vor Momo sind sie geflüchtet, wenn sie ihn nur gesehen haben, obwohl er nicht einmal gebellt hat. Ohne den Hund würde ich mich wohl wirklich einsam fühlen. Aber so habe ich am Abend das Gefühl, ich hätte mich den ganzen Tag gut unterhalten. Komisch, ich weiß. 

So, lieber H., jetzt gehe ich ins Bett, lese zum dritten Mal den »Menschlichen Makel« von Philip Roth und werde mich wieder winden zwischen demütiger Bewunderung und Verzweiflung ob der eigenen Unzulänglichkeit.

Morgen soll es warm werden, und die Sonne soll scheinen.

Sei herzlich gegrüßt und aus der Ferne ganz ungefährlich umarmt. Und bleib gesund, dieser neue Gruß darf nicht fehlen. Deine M.

 

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