Liebe Freiheit,
bitte entschuldige. Seit Monaten sitzt du im Keller. Wir wissen alle, dass es dir nicht gut geht und ich wusste schon vorher, wie es schmerzt, wenn Du fehlst. Aber vorbeugen ist besser als heilen und darum akzeptieren wir jetzt deine Einschränkung.
Oft wird die Frage gestellt, wie man seine Zeit sinnvoll verbringen kann. »Lektüre« ist dabei ein Schlüsselwort. Ich muss an Liesel Meminger denken, die neunjährige Protagonistin von Markus Zusaks »Bücherdiebin«. Der Roman erzählt von der Zeit im Zweiten Weltkrieg, Liesel war eingeschränkt und sie hing an den Büchern, sie floh in sie hinein, suchte in der Lektüre einen Ort, an dem ihr Geist sich verstecken konnte. Vor Jahren habe ich den Film gesehen, den Roman aber erst neulich gelesen, weil die arabische Übersetzung erst 2018 erschien. In der Quarantäne musste ich wieder daran denken – nicht nur an die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, sondern auch an die Freundschaft und die Liebe und wie die Lektüre und die Sprache wichtige Ausdrucksmittel der Freiheit sind.
Wenn wir unsere Freunde sehen, schlagen unsere Herzen schneller. Ich spreche viel mit Freunden, die mittlerweile, nach der Vertreibung aus Syrien, in vielen unterschiedlichen Ländern wohnen. Heute, wenn unsere alltäglichen Besuche, das Arbeiten, das Sitzen im Café ihre Selbstverständlichkeit verloren haben, denken wir an ein arabisches Sprichwort: Weit vom Auge, weit vom Herz.
Kann während einer solchen Zeit die Lektüre die Freiheit ersetzen?
Als Liesel ihren Bruder verliert und auch ihre Mutter verschwindet, erkennt sie ihre Welt nicht mehr. Liesel hat Bücher gestohlen, damit sie wieder atmen konnte. Und Alberto Manguel hat einmal erwähnt: »Wir lesen, um zu verstehen. Lesen ist wie Atmen«. Mit Hilfe ihrer Liebe zur Sprache hat Liesel ihre Seele gerettet und in der Lektüre ihren Ort gefunden.
Diese Pandemie ist kein Krieg. Aber in diesen Tagen zeigen wir mit unserer Begeisterung für das Lesen, dass wir die Freiheit und die Orte vermissen. Ohne Bücher, Musik, das Internet und das Essen verzweifeln wir.
Das Lesen ist keine Alternative zur Freiheit. Aber es kann Grundlage sein für Geist und Seele.
Liebe Freiheit, bitte bleib gesund.
Dein Nather