Liebe Feministin in mir,
lange nichts voneinander gehört, ich weiß, meine Schuld, aber ich denke oft an dich, wirklich. Je älter ich werde, desto häufiger. Als ich jünger war, hast du kaum eine Rolle gespielt in meinem Leben. Ich wusste, dass es dich gibt, vielleicht haben wir uns mal gegrüßt hie und da, aber du warst mir ein wenig suspekt. Ich habe dir nie viel Aufmerksamkeit geschenkt, mich lieber mit der Anti-Rassistin in mir unterhalten. Sie stand mir immer näher.
Aber jetzt gerade, in dieser seltsamen, bedrückenden Zeit, denke ich beinah minütlich an dich. Ich kann ja mit den beiden Kindern zu Hause nichts Anderes tun als denken. Richtig denken kann ich eigentlich auch nicht, höchstens Gedanken andenken, bevor mich einer meiner beiden Söhne unterbricht. Heute beim Staubsaugen habe ich im Geiste damit begonnen, diesen Brief zu schreiben. So, wie ich derzeit alle meine Texte, Schnipsel für Essays und kleine Prosastücke, im Geiste schreibe. Will ich sie dann nachmittags, wenn mein Mann mich ablöst und meine Arbeitszeit beginnt, zu Papier bringen, ist alles weg, und ich würde am liebsten mit der Stirn auf die Tastatur schlagen.
Gestern machte ich Hausaufgaben mit meinem älteren Sohn. In Deutsch sollte er eine Geschichte aus der »Spatzenpost« lesen üben. Die Spatzenpost ist eine monatliche Schülerzeitschrift, mit der sie im Unterricht arbeiten. In der Geschichte hieß es: »Dieses Ding hier ist genau die richtige Überraschung für Mama. Die mag schließlich alles mit Aufräumen und Putzen.« Bei diesem »Ding« handelte es sich um einen alten, dreckigen Staubsauger vom Sperrmüll.
Ich fragte meinen Sohn: »Hast du den Eindruck, dass ich alles mit Aufräumen und Putzen mag?«, und er antwortete: »Nein, aber du machst es trotzdem.«
Das ist die Realität in Zeiten von Corona. Vermutlich war es auch vorher schon die Realität, aber vorher hatten wir Putzfrau, Kindergarten und Hort. Wir hatten das Problem ausgelagert, mit Freizeitaktivitäten überlagert.
Es ist so: Matthias hat eine Firma mit 30 Angestellten und als die österreichische Regierung Mitte März die Ausgangsbeschränkungen verhing, stand schon fest, dass es herausfordernde Zeiten für die Firma werden würden. An der Firma hängen 30 Jobs. Unter den Angestellten sind vorwiegend Männer, Techniker, Entwickler und Physiker, oft Alleinverdiener, viele von ihnen Familienväter, Kreditnehmer, Häuslebauer. Mit ihnen musste er neue Konditionen zu Kurzarbeit besprechen und wie es weitergehen wird. Jeder einzelne saß ihm mit seinen Ängsten, Nöten, Limitierungen gegenüber. Matthias arbeitete viel in diesen ersten Wochen nach dem Shutdown und kam abends abgekämpft und niedergeschlagen nach Hause. Manchmal schlief er direkt nach dem Essen auf der Couch ein und ich saß da mit zwei überdrehten Kindern und einem Berg benutzten Geschirrs.
Für mich als Schriftstellerin sind ein Dutzend Lesungen ausgefallen. Ich sollte nicht nach Italien auf Lesereise fahren, nicht nach Leipzig auf die Buchmesse, ich würde keine Buchpremiere feiern. Party? Abgesagt. Das war traurig. Aber alles in allem blieb meine Misere überschaubar, ohne schwerwiegende Folgen. Im schlimmsten Fall würde ich weniger Bücher verkaufen, vielleicht unterm Strich aber sogar mehr, weil die Menschen jetzt mehr Zeit zum Lesen haben würden.
Also brachte ich die Kinder ins Bett und spülte ab.
Inzwischen, jetzt, da absehbar ist, dass dieser Zustand noch Monate anhalten könnte, haben wir uns den Tag aufgeteilt und ich habe Zeit für meinen Beruf. Aber die Tatsache, dass Schulen und Kindergärten geschlossen sind, beeinträchtigt in erster Linie mich. Ich verbringe den Großteil des Tages mit den Jungs zu Hause, betreue Hausaufgaben, putze, koche, spiele Fußball, lege Wäsche zusammen, schneide Äpfel in Spalten, tröste, pflastere, schlichte. Du, meine innere Feministin, bist fast körperlich anwesend, sitzt mir die ganze Zeit auf der Schulter, kommentierst alles. Manchmal hasse ich dich dafür. Manchmal wünschte ich, du ließest mich in Ruhe meine Pflichten erfüllen. Weil, denke ich dann, vielleicht ist das jetzt einfach mal nicht deine Zeit, sondern die Zeit des selbstlosen Zusammenhaltens, Anpackens. Des Vertrauens ineinander, dass jeder bis an sein Limit geht und wir alle, jeder, Mann wie Frau, die eigenen Bedürfnisse hintanstellen.
Schon höre ich dich lachen: Selbstausbeutung ist eine typisch weibliche Angelegenheit, und unbezahlt noch dazu. Die ganze Welt ächzt unter einer Pandemie, entgegne ich dir, viele Menschen werden sterben, wir wissen nicht, ob unser Leben jemals wieder so sein wird, wie es einmal war – das ist einfach nicht die Zeit, um die Klappe aufzureißen, liebe Feministin in mir, wir haben gerade Wichtigeres zu tun.
Dann jedoch fällt mir immer wieder ein, wie das damals im Iran war, in den Wirren während und kurz nach der Islamischen Revolution. Was ist mit den Frauenrechten?, riefen die Frauen, die Seite an Seite mit den Männern für eine bessere und selbstbestimmte Zukunft auf die Straßen gegangen waren. Wir haben jetzt gerade eine Revolution gemacht, wir haben den Schah hinausgeworfen und die USA gegen uns aufgebracht, wir haben gerade Wichtigeres zu tun, riefen die Männer zurück. Was ist mit den Frauenrechten?, riefen die Frauen. Wir müssen erst einmal die Revolution festigen, unseren Sieg verteidigen gegen den Rest der Welt, riefen die Männer zurück. Und bald hieß es »rusari ya tusari«, Kopftuch auf oder Schläge. Das gilt heute, 40 Jahre später, noch immer. Natürlich fürchte ich mich nicht vor iranischen Verhältnissen, nein, das tust vermutlich nicht einmal du. Aber das Prinzip ist dasselbe: die Interessen der Hälfte der Menschheit angesichts größerer Herausforderungen als Partikularinteressen abtun und ganz unten auf die Prioritätenliste setzen.
Und dann denke ich wieder: Ist es Zufall, dass ich Schriftstellerin bin und mein Mann eine Firma mit 30 Angestellten führt? Dass er Verantwortung trägt, unmittelbar, und ich höchstens mittelbar für die Beschäftigten meines Verlags, deren Jobs zu einem geringen Teil davon abhängen, dass meine Bücher gekauft werden? Und wieso scheint diese oder eine ähnliche Verteilung bei den meisten Paaren Standard zu sein? Die Wurzeln des Problems liegen tiefer, das ist klar, und jetzt, in dieser Krisenzeit, liegen sie frei wie die Nerven der Mütter.
Von unserem Wohnzimmerfenster aus blicke ich auf einen kleinen Park mit Spielplatz. Der Spielplatz ist gesperrt, aber der Park drumherum ist geöffnet. Oft, wenn ich hinausschaue, sehe ich eine Mutter dort stehen oder auf einer Parkbank sitzen, stumm, mit den Blicken ein oder zwei Kindern folgend, mit den Gedanken jedoch abwesend und ich würde wetten, dass sie sich alle mit ihrer inneren Feministin unterhalten. Eine Bekannte von mir, die im Umland lebt, hat in ihrer Gemeinde einen Zuschuss für einen Krippenplatz in der Stadt beantragt. Der Bürgermeister schrieb ihr am Ende des Briefes, in dem er ihr die genauen Bedingungen erläuterte, dass er es aber für besser halte, wenn Kinder bis zum dritten Lebensjahr bei ihren Eltern blieben – ohnehin wisse gerade niemand, wie sich die Krise auswirke und »vielleicht werden wir allesamt zukünftig ein oder zwei Schritte zurück machen müssen«.
Wer genau würde diese Schritte zurück machen müssen? Meint er wirklich auch sich selbst, wenn er »wir« schreibt? Und bin ich paranoid oder höre ich da eine leise Vorfreude darüber heraus, dass womöglich seine Frau ein oder zwei Schritte zurück machen muss und künftig jeden Abend am Herd steht, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt? In welchen Modus werden wir übergehen, wenn das alles hier vorbei ist? Wird es überhaupt einen Zeitpunkt geben, an dem wir sagen können: Jetzt ist es vorbei? Oder stehen uns Jahre des Ausnahmezustands bevor, der unweigerlich zur Normalität wird? Schon jetzt kann ich mich kaum noch daran erinnern wie das war: sich in der Stadt mit Freundinnen zum Mittagessen verabreden.
Du siehst, ich habe viele Fragen. Ich habe auch viele Antworten, aber jede Antwort hat eine Kehrseite, auf der eine neue Frage geschrieben steht. Hört das jemals auf?
Eine allerletzte Frage, zumindest für heute: Wenn ich mir jetzt während der Ausgangsbeschränkungen einen Damenbart wachsen ließe, würde dich das freuen?
In Verbundenheit,
deine Nava
PS: Die Pharma-Firma in den USA, die Remdisivir entwickelt hat, das Hoffnungsmittel gegen Corona, heißt Gilead.