Edenkoben, 29. März 2020
An:
Pawlowscher Hund
Institut für experimentelle Medizin
Im Garten
Akademiker-Pawlow-Str. 12
St. Petersburg, Russische Föderation
Lieber Pawlowscher Hund, denn Deinen Namen kenne ich nicht,
in diesen Tagen habe ich an Dich gedacht, wie Du in St. Petersburg im Garten des Instituts für experimentelle Medizin als bronzenes Denkmal zu Ehren Deines (unfreiwilligen) Einsatzes für uns Menschen stehst und uns daran erinnerst, wie viele Fortschritte der Medizin Dir zu verdanken sind. Aber auch das Wissen, wie steuerbar ein jedes Lebewesen ist. Alle Russen haben zu jeder Lage einen Witz parat, also weißt Du noch, wie Du einem Welpen, der neu im Labor war, erklärt hast, was der bedingte Reflex ist?
»Siehst du dieses Lämpchen?«, hast Du gesagt, »wenn ich hungrig bin, fließt mein Speichel in das Rohr, das zu einem Kontakt führt, dann blinkt das Lämpchen da auf und löst bei diesem Trottel im weißen Kittel eine Reaktion aus, damit er mir das Essen bringt.«
Du hattest recht, lieber Pawlowscher Hund, auch bei uns Menschen entstehen bedingte Reflexreaktionen. Lass uns darüber nachdenken, während ich Dich in die menschenleeren, sonnigen und kalten Pfälzer Weinberge ausführe. Die vereinzelten Flaneurs versuchen, einander nicht als potenzielle Virenverbreiter zu betrachten. Hunde wittern Deine Präsenz und sind irritiert. Ich möchte Dir einen Namen geben. Als Kind hatte ich einen Hund, der nach dem Irish Terrier in Jack Londons »Michael, der Bruder Jerrys« benannt war, aber »Michael« passt nicht zu Dir. Gerade habe ich bei der Schweizer Kollegin Ariane von Graffenried, deren wunderbares, in vielen Sprachen nahezu singendes Buch »Babylon Park« ich in die Pfalz mitgenommen habe, von einer Bulldogge aus Moldawien gelesen, die Radoslaw heißt und ihren Namen zu harmlos findet. Sie »möchte lieber Mr. Pink heißen. Oder Vincent Vega. Oder Scarface. Oder Putin.« Nein, das werde ich Dir nicht antun, auch Trump nicht, nicht einmal Merkel, Modi oder Macron. Bleib der Pawlowsche Hund.
Du fragst Dich, was für ein bedingter Reiz mich veranlasst hat, Dir während meiner Weinbergwanderungen zu schreiben. Weißt Du, ich sehe, wie wir einerseits vor einem unbedingten Reiz stehen: der Ausbreitung einer Krankheit, auf die man unwillkürlich mit Angst reagiert. Andererseits wird diese Erscheinung vom Blinken einiger bedingter Reize begleitet. Zum Beispiel von dem propagandaähnlichen Stil der Medien: »dramatischer Anstieg«, »mehr als … Infizierte«, das RKI »rechnet in Deutschland mit mehr als zehn Millionen Infizierten«. Dieselben Informationen können anders präsentiert und strukturiert werden. Ob es nun wichtig ist, (wenigstens sich selbst) darauf aufmerksam zu machen? Wahrscheinlich. Würden die Menschen ohne massive und aufdringliche Überredung zu leichtsinnig werden? Was war bei der folgenden Dynamik im Spiel, unbedingte Urreize oder bedingte Konditionen: »Der Anteil der Befragten, welche die Aufregung um das neuartige Virus für übertrieben und hysterisch halten, sank in den Allensbach-Befragungen von Anfang bis Mitte März von 29 auf 17 Prozent.«
Nein, lieber Pawlowscher Hund, ich gehöre nicht zu diesen 29/17. Ich gönne mir den Luxus, zu den Dingen, die sowieso nicht in meiner Verantwortung liegen und meine unmittelbare Einmischung nicht voraussetzen, keine Meinung zu haben. Aber ich habe gerne Fragen. Ein paar davon:
Zuerst eine Frage an mich: Welche bedingten Reize beeinflussen meine Einschätzung der einen oder anderen Situation? Für Russen meiner Generation und älter sind die geschlossenen Grenzen ein kollektiver bedingter Reiz. Wenn wir davon hören (und nun hören wir jeden Tag davon) – bekommen wir gleich einen Anfall klaustrophobischer Panik. Ich sage mir: »Denken versus Reflexe, bitte. Nicht alles, was ähnlich ist, ist gleich.« (Das versuche ich mir auch bei bestimmten Redewendungen in den Nachrichtenmedien zu sagen.) Gut. Weiter:
Gibt es tatsächlich eine moralisch bessere Wahl, wie man momentan gerne suggeriert? Wir haben zwei Waagschalen: in der einen sind die tatsächlichen und hypothetischen Opfer der Epidemie, in der anderen die tatsächlichen und hypothetischen Opfer der (d. h. mancher) Gegenmaßnahmen. »Es geht um Leben und Tod«, heißt es in den Mitteilungen in den Medien. Ja, aber es geht in beiden Schalen um Leben und Tod. Und es geht nicht um die Auswahl der Opfer: In beiden Fällen sind die Alten, die Vorerkrankten, die Armen, die in der einen oder anderen Hinsicht sozial Instabilen am meisten gefährdet. »Im klopapiergefüllten Neun-Zimmer-Stuckaltbau lässt sich eine Ausgangssperre viel leichter ertragen als alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern in der Einzimmerwohnung«, hat Sascha Lobo geschrieben, und ich wüsste nicht, was man dem noch hinzufügen könnte. Also ist in beiden Waagschalen jemand, für den »alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern in der Einzimmerwohnung« bildlich steht. Und gewogen wird von jemandem, der in seiner Neunzimmerwohnung die Klopapierpackungen in Mahagonibücherregale stellt, alphabetisch oder nach Farbe sortiert. Wie immer und überall. Die Frage ist, wie schnell wir nicht nur damit einverstanden, sondern auch von jeder für uns getroffenen Wahl begeistert sind.
Es kann allerdings sein, dass die Bücher in manchen Regalen schon längst von Klopapier ersetzt wurden. Das wäre eine Erklärung, warum man plötzlich davon ausgeht, dass alles einem sterilen optimierten Bild zu entsprechen habe, und das Leben und die Wirklichkeit dafür bestraft, dass sie mit dieser Annahme nicht übereinstimmen. Man hat Jahrtausende lang gewusst, dass Leid und Trauer das Leben begleiten; das gefährliche utopische Denken, dass sie zu vermeiden sind, und die kindische Überzeugung, alles regeln zu können, dem Lauf der Dinge befehlen zu können, wird oft zum Ursprung von vielem Übel.
Ist das leere Regal im Supermarkt ein bedingter oder ein unbedingter Reiz? Wird in einem Menschen sein Vorfahre aus der Steinzeit wach oder bloß einer aus dem 20. Jahrhundert? Und noch eine Frage zur Physiologie der Psyche: Bekommt man eine Herdenimmunität gegen Propaganda? Und gegen den Drang, dem Nächsten was auch immer auf Vorrat vor der Nase wegzureißen? Nach meiner Erfahrung in diesen Tagen würde ich sagen: Ja. Zwar standen mein Sohn und ich im Laden oft vor leeren Regalen, aber selber schuld. Wir sind beide Einzelkinder, und Einzelkinder sind immer die letzten am Buffet, weil sie einen bedingten Reflex haben, dass für sie unbedingt etwas übrig bleibe. Also stehen sie (wir) oft verwundert vor dem leeren Tisch. Ansonsten habe ich viel Solidarität, Hilfe, Höflichkeit und Zuvorkommenheit erlebt und sowohl in den Medien als auch in der Privatkorrespondenz vieles gelesen, das davon zeugt, dass Menschen sich gegen plötzliche Entmündigung wehren. Vielleicht, weil die meisten meiner Korrespondenzpartner Autorenkollegen sind (Du nicht, aber Du bist sowieso ein Held im Dienste der Menschheit). Und weil ich auf dem Land bin, in paradiesischen Landschaften. Ich habe ein bisschen Angst, heute in die Großstadt zurückzufahren (es ist noch eine große Frage, ob wir die drei nötigen Züge erreichen (oder sie uns)).
Lieber Pawlowscher Hund, Du konntest nichts dafür, dass Dein Speichel floss. Können wir Menschen unsere Reaktionen jedoch steuern? Was meinst Du? Könnte dieser Trottel im weißen Kittel Dir Dein Essen zu einem anderen Zeitpunkt als nach dem Lämpchenblinken bringen?
Mit anderen Worten: Sind wir genauso steuerbar wie Dein Speichel?
Mit vielen Grüßen aus dem Süden nach Norden,
Deine Olga Martynova