Samuel Pepys FRS Esq.
St Olave’s Church
Hart Street
London EC3R 7NB
Lieber Samuel,
gestatten Sie, dass ich Dich duze und Samuel nenne? Eine Billigung Deinerseits werde ich nicht bekommen: ich lebe mehr als 300 Jahre nach Dir. Ich erlaube mir diese Freiheit, von Engländer zu Engländer, denn aus Deinen bekannten Tagebüchern geht der Eindruck hervor, dass Du einen zugänglichen und aufgeschlossenen Typ warst, der gleichermaßen mit König Karl dem Zweiten verkehren und mit den Wirten und Trinkern Deines Londoner Viertels unkompliziert tratschen konntest.
Warum ich jetzt an Dich denke? Wir sind heutzutage mit einer unerhörten Epidemie konfrontiert, die uns verwirrt und belastet. Während des Wütens der Großen Pest von London hast Du Deine Beobachtungen aufgezeichnet und jetzt war ich neugierig, Dein Tagebuch zu lesen und Dir von den Anklängen und Unterschieden zu berichten. (Es beglückt Dich, nicht wahr, dass Deine täglichen, rasch in einer akribischen Schrift notierten Bemerkungen noch im 21. Jahrhundert Leser finden? Gesamtausgaben, Auswahleditionen. Stell dir vor, sogar einen »erotischen« Pepys gibt es!)
In diesen Tagen wird dennoch viel eher der Bestseller Die Pest zu London von Deinem Fast-Zeitgenosse — aber kein Zeitzeuge — Daniel Foe erwähnt; sein Buch zählt zu den aktuellen Literaturtipps. Warum Foes Aufzeichnungen so dringend als Lesestoff empfohlen werden? Die Pest ist wieder da, diesmal wie damals aus China angekommen; aber während sie damals Jahre benötigte, den Weg aus China über Zentralasien und nach England zurück zu legen und noch dazu ein paar Jahrhunderte im Umlauf blieb, kam sie in ihrer heutigen Gestalt, als Covid-19, innert weniger Tage in Europa an.
Wie das möglich war? Du hast eine Karriere als Verwalter im Marineamt aufgebaut, in Verhandlungen kanntest Du Dich aus, aber der Handel hat sich inzwischen auf den ganzen Planeten ausgeweitet, und die Schoner und Dreimaster des 17. Jahrhunderts sind Luftschiffen gewichen, die jeden Tag Zehntausende von Reisenden von anderen Kontinenten zu und von den beiden großen sogenannten »Flughäfen« von London befördern.
Von meinem kleinen Bauerndorf im Zürcher Oberland aus stehe ich mittels eines ausgetüftelten Apparats mit unzähligen Menschen in Kontakt und obwohl Versammlungen von mehr als fünf Leuten verboten sind und vom Reisen strengstens abgeraten wird, erhalte ich laufend Nachrichten aus der ganzen Welt.
An Deinem täglichen Leben hast Du zu Pestzeiten wenig geändert. Die größte Sicherheitsmaßnahme hast Du für Deine Frau getroffen, als Du sie in das die Themse abwärts gelegene Woolwich geschickt hast; soziale Distanzierung in einem entfernten Dorf war das, „Selbstisolierung“ wohl nicht.
Die Pest wird in Deinem Tagebuch zum ersten Mal am 24. Mai 1665 erwähnt: »Von da mit Creed zum Kaffeehaus, das ich seit langem nicht mehr besucht habe — wo alle vom Rückzug der Holländer reden — und von dem Heranwachsen der Pest in dieser Stadt und von den Arzneimitteln dagegen; einige sagen dies, andere jenes.«
Am 10. Juni wird Deine Wachsamkeit schon größer, unter den Opfern sind Bekannte von Dir: »Nach drei oder vier Wochen ist die Pest in der Stadt angekommen, aber wo soll es begonnen haben, wenn nicht bei meinem guten Freund und Nachbarn, Dr. Burnett in Fanchurch Street.« Am nächsten Tag ist die Haustür vom armen Dr. Burnett zu: »Er hat aber großes Wohlwollen unter seinen Nachbarn geerntet; da er es als Erster entdeckt hat und sich freiwillig hat einschließen lassen.« Der Eintrag vom 25. August kündigt den Tod von Dr. Burnett an.
So hautnah erlebe ich den Tod in Zeiten des Covid-19 nicht, aber ich bleibe trotzdem, wie vom Bundesrat aufgefordert, zu Hause. Du hingegen bist die ganze Zeit unterwegs, als Sekretär, auch als Heiratsvermittler (wobei die Hochzeit wegen der Pest abgesagt werden musste; übrigens passiert meiner Mutter und ihrem neuen Partner genau dasselbe —heute heiraten Leute mit über 70 noch, weißt Du!), nach Woolwich hin und zurück (»All diese wichtigen Personen fürchteten sich vor London, argwöhnisch gegenüber allem, was von dort kommt [...] Ich musste ihnen erzählen, dass ich in Woolwich sesshaft war.«), spielst Billard, schläfst in verschiedensten Gasthäusern. Zu Deinen vielen Beschäftigungen gehören auch Flirten und Seitensprünge mit Schauspielerinnen: Du beschreibst diese liaisons in einer scheinprüden, leicht entzifferbaren Mischung von Spanisch und Französisch.
Gleichzeitig erzählst Du lapidar von dem Aufhäufen der Toten: in der Woche vom 15. Juni »sind an der Pest 112 gestorben, 43 die Woche davor«; am 29. Juni »beträgt die Sterblichkeitsrechnung 267« und »der Hof ist voll von Fuhrwerken und Menschen, die dabei sind, die Stadt zu verlassen«; in der Woche vom 20. Juli sterben 1'089 Menschen und am 31. August sind es bereits 6'102. Am 26. Juli denkst Du daran, ein Testament aufzusetzen.
Woher erfuhrst Du diese Zahlen? Durch die unzuverlässigen searchers of the dead — oft arme, alte Frauen, erkennbar an ihren weißen Stöcken, die in betroffene Haushalte eintreten und deshalb gesondert leben mussten? Hast Du an die Ziffern geglaubt? Hattest Du eine Ahnung, wie viele Leute außerhalb von London der Pest zum Opfer gefallen sind? Die Zahlen sind ungeheuerlich, vor allem im Verhältnis zu einer Stadtbevölkerung von einer halben Million (London zählt heutzutage über 8 Millionen Einwohner!). Ab und zu spürt man Deine Betroffenheit, eine Pause bevor Du Dich anderen Angelegenheiten zuwendest.
Wir, Bürger des 21. Jahrhunderts, sind in der Lage, die Zunahme der Infektionsraten und der Totenbilanz jede Minute zu verfolgen, und zwar überall auf der Welt, von Amerika bis zu den Antipoden (die zu Deinen Lebzeiten noch nicht »entdeckt« worden waren). Das Ganze ist sehr bedrückend, aber irgendwie irreal: für Dich muss es noch unverständlicher gewesen sein – unsere Mediziner wissen ja, wie sich Epidemien ausbreiten –und doch hast Du das Abriegeln der Häuser, die Beseitigung der Kadaver, die Verwandlung der Brachen außerhalb der Stadtmauer in Friedhöfe mit Deinen eigenen Augen beobachtet; zum Glück müssen wir das nicht mit ansehen, nur lesen, wie sich lang und schmerzvoll und einsam das Dahinsiechen hinter den Mauern der Krankenhäuser und Altersheimen vollzieht.
Und die Welt draußen in den Straßen Londons beschreibst Du so: »Aber wie wenig Leute ich jetzt sehe, und diese laufen wie Menschen, die von der Welt Abschied genommen haben.« Von der Bootsreling aus siehst Du Menschenmengen an Beerdigungen und Scheiterhaufen am Ufer der Themse.
Am 30. September, als die Epidemie schon am Abflauen war, schreibst Du folgendes: »Ich muss sagen, dass, was Freude, Gesundheit und Gewinn betrifft, die letzten drei Monate bei weitem die besten, die ich in einer Periode von zwölf Monaten je erlebt habe [...] außer der großen Pest gab es nichts, was mich martern konnte.«
Die letzte Erwähnung von der Pest im Jahr 1665 lautet am 22. Dezember so: »Das Wetter war frostig kalt diese vergangenen acht oder neun Tage, also hoffen wir in der nächsten Woche auf eine Abnahme des Pest; andernfalls mag Gott uns gnädig sein, denn sonst wird die Pest sicher nächstes Jahr andauern.«
Dann war es aber vorbei, kaum noch eine Spur davon in Deinen Aufzeichnungen. Und das spendet mir Hoffnung, gerade in einer Zeit, als Regierungen hier eine allmähliche Lockerung der Ausgangssperre in Aussicht stellen.
Vielleicht erzähle ich Dir später vom Nachher . . .
Mit vorzüglicher Hochachtung
Simon Pare
PS. Da selbst mein Wahnsinnsapparat nicht jedes Buch aus den Bibliotheken bis hierher in mein Covid-Schlupfloch zaubern kann, musste ich Deine Tagebucheinträge selber übersetzen. Mögen deutschsprachige Leser und Leserinnen es mir verzeihen!