Lieber Jan Brandt / Moin!
Julia und ich waren in Chile, als in Europa dieser Coronamist losging. Unser Rückflug nach Berlin sollte am 5. März gehen, doch dann wurden erst die Leipziger Buchmesse und anschließend auch meine Lesetour mit Irvine Welsh abgesagt, so dass wir uns entschlossen, noch ein paar Tage länger in Santiago zu bleiben und einen Artikel über die dortigen Aufstände zu schreiben. Jeden Tag waren wir auf der Straße und lernten immer mehr Leute kennen, die sich auf ganz unterschiedliche Weise an den Protesten gegen die Regierung von Sebastian Piñera beteiligten. Abends kehrten wir völlig erschlagen ins Hotel zurück, erschüttert von den Ausmaßen der Polizeigewalt, aber auch beeindruckt und inspiriert von der Solidarität, dem Zusammenhalt und der Kreativität, den wir unter den Aufständischen erlebt hatten.
Ich war an diesen Abenden mehr denn je auf Twitter, Facebook und Instagram unterwegs, hauptsächlich um über die Lage in Chile informiert zu bleiben. Dabei stolperte ich zunehmend über Meldungen aus Deutschland, die mit der Ausbreitung des Coronavirus zu tun hatten. Ich hatte diese Nachrichten in den Tagen und Wochen zuvor eher achselzuckend zur Kenntnis genommen. Mein Eindruck war, dass sich da ein paar zu Angst und Panik neigende Almans von den lustvollen Weltuntergangsfantasien irgendwelcher Prepper und anderer Fantasten anstecken ließen. Nun aber äußerten sich immer mehr Menschen auf immer besorgtere Weise zu dem Thema, Menschen, die ich bisher als vernünftig und rational eingeschätzt hatte. Einer von ihnen warst du.
»In zwei Wochen haben wir eine ähnliche Situation wie Italien und dann werden Maßnahmen ergriffen werden müssen, von denen man sich wünschte, sie schon eher durchgeführt zu haben«, schriebst du am 8. März, und zehn Tage später: »Die Deutschen sind dumm und begreifen es nicht. Wir brauchen sofort eine Ausgangssperre.«
Linke, die nach Ausgangssperren rufen? Das irritierte mich. Tut es ehrlich gesagt immer noch. Du hattest auch einen Artikel über die Spanische Grippe verlinkt, den du bereits 2007 für die SZ geschrieben hast und in dem es um das Phänomen geht, dass diese Pandemie in der Literatur der damaligen Zeit kaum thematisiert wurde, obwohl sich unter anderem John Dos Passos, Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald und Franz Kafka mit der Spanischen Grippe infiziert hatten. Offensichtlich interessierst du dich schon länger für Pandemien und Seuchen. Weißt du, woher das kommt und wann es anfing?
Jedenfalls klangen diese Appelle auf mich vor ein paar Wochen noch alarmistisch, bisweilen hysterisch und aktionistisch. Gleichzeitig brachten unter anderem deine Facebook-Posts mich dazu, mich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen. Ständig musste ich meine Urteile von gestern (oder von vor fünf Minuten) revidieren, und dabei ist es bis jetzt geblieben. (Werden wir uns, wenn das alles vorbei ist, in fetten Lettern das Wort ZÄSUR über den bauchnabel tätowieren?)
Kurz zuvor, Ende Februar, hatte ich mich noch bei dir für einen in der Literaturbranche Blurb genannten Satz bedankt, den du zu meinem neuen Roman abgeliefert hast. Ich saß auf der Veranda einer Cabaña im Regenwald Nord-Patagoniens, als ich die Mail meines Lektors Albert mit deinen Reaktionen las, und ich freute mich enorm. Nicht nur, weil bisher nur wenige Menschen das Buch kannten, sondern vor allem, weil ich ja selbst all deine Bücher mit Gewinn gelesen habe und dein Urteil schätze, als Schriftsteller wie als Mensch. Obwohl wir uns gar nicht so irre gut kennen. Oder gerade deswegen?
Das erste Mal trafen wir uns vor knapp zehn Jahren auf einer Hochzeit in Ostfriesland. Es war Sommer, und ich war der Best Man meines Kumpels und langjährigen Muff Potter-Tourmanagers Wiesmann. Moni, die Braut, war eine alte Freundin von dir. »Der da ist auch Schriftsteller«, sagte sie zu mir und deutete auf einen blassen Typen in einem karmesinroten Anzug, »er heißt Jan Brandt, ich kenn den schon ewig.« Moni und du kanntet euch aus dem Limit in Ihrhove, eurer Dorfdisco, die du noch heute jedesmal besuchst und abfeierst, wenn du in der alten Heimat bist. Dein Debütroman »Gegen die Welt« war im Sommer 2010 noch nicht erschienen, doch auf meine bohrenden Nachfragen berichtetest du mit monotoner Stimme und mir beinahe mürrisch anmutender Zurückhaltung, das du einen guten Verlag hättest und dieser Verlag dir deinen Vorschuss in monatlichen Häppchen überweisen würde, was sich wie ein festes Gehalt anfühle und dir ein dem Schreiben zuträgliches Gefühl von Sicherheit gebe. Ich fand das damals irgendwie spießig, aber auch interessant, und mich faszinierte diese Mixtur aus spröder Friesenmentalität und Paradiesvogelhaftigkeit, dein Anzug war wirklich sehr rot, ich hatte so einen Anzug bisher noch nie an einem echten Menschen gesehen, seitdem übrigens auch nicht.
Erst Jahre später sahen wir uns wieder, ich weiß nicht mehr in welchem Zusammenhang, nur noch, dass wir von da an lose in Kontakt standen. Im Frühjahr 2017 lud ich dich in meine Lese- und Labershow Nagel mit Köpfen in die Kreuzberger Fahimi Bar ein, und dann war da dieser Abend im Sommer 2019, als ich dich in Schöneberg besuchte, wo du nach langer Wohnungssuche gelandet bist, eine Odyssee, die du ausführlich in deinem jüngsten Buch »Eine Wohnung in der Stadt/Ein Haus auf dem Land« beschreibst. Wir hatten uns zum Abendessen bei Da Jia Le verabredet, einem China-Restaurant auf der Goebenstraße. Du hattest angeboten, nach Neukölln zu kommen, doch ich hatte auf Schöneberg bestanden, weil mir Neukölln gerade mal wieder gehörig auf den Geist ging und ich meine Schöneberg-Abende auch nach 13 Jahren in Berlin an zwei Händen abzählen konnte. Wir setzten uns an einen der Zweiertische draußen, ich war noch verschwitzt vom Fahrradfahren, du kamst gerade aus deiner Schreibstube in der Nähe der Yorckstraße. Es war Dienstag, der 16. Juli.
Wir sprachen über dein neues Buch und deine Entscheidung, damit so viele Lesungen wie möglich zu geben, worauf du bei deinen letzten Veröffentlichungen verzichtet hattest, ein Luxus, den du dir nun aber nicht mehr leisten konntest oder wolltest. Ich erzählte von meiner Lesetour an der amerikanischen Ostküste, die ich im April mit meinem Übersetzer Tim deMarco absolviert hatte, und von unserem heftigen Autounfall auf der Delaware Memorial Bridge. Tim, seine Frau Kate und ich waren auf dem Weg von Washington DC nach New Jersey gewesen, als wir auf dieser monumentalen Autobahnbrücke über den Delaware River mehrmals von einem Tanklaster gerammt wurden. Wie durch ein Wunder wurde niemand schwer verletzt oder getötet. Drei Monate später litt ich immer noch an heftigen Nacken- und Kopfschmerzen, ich war in Behandlung bei mehreren Ärzten, Physio- und Traumatherapeuten. Seit dem Unfall war ich extrem labil und dünnhäutig, besonders im Straßenverkehr, und aktuell machte ich mir große Sorgen um die Fertigstellung meines Romans, der eigentlich im Februar 2020 erscheinen sollte, was wegen meiner Konzentrationsschwierigkeiten aber immer unwahrscheinlicher wurde.
Doch je länger wir an diesem Tisch saßen und aßen und tranken und redeten, desto besser ging es mir. Ich genoss den schönen Sommerabend und die herrliche blaue Stunde, ich fühlte mich so leicht und entspannt wie lange nicht. Was mit den alkoholischen Getränken zu tun haben mochte, ganz bestimmt aber auch mit der Qualität unserer Unterhaltung und deiner ruhigen Art. Jener ruhigen und unaufgeregten Art, die ich bei der Hochzeitsfeier ein Jahrzehnt zuvor noch als mürrisch oder spröde wahrgenommen hatte.
Nach dem Essen wolltest du mit mir zu Leydicke, einem Alt-Berliner Lokal in der Mansteinstraße, das aber geschlossen hatte, weswegen wir zur Akazienstraße liefen und uns an einen Tisch in die sogenannte Schlauchkneipe Möve im Felsenkeller setzten, noch so eine Institution des alten Berliner Westens, in der ich noch nie gewesen war. Es lief keine Musik und sämtliche Kneipengäste waren älter als wir, was ich, aus dem hippen nervösen aggressiven Neukölln kommend, als wahnsinnig angenehm und sogar ein bisschen exotisch empfand. Du trankst Weizenbier, ich Weißwein, und irgendwann erzählte ich dir von einer kniffligen Passage in meinem Roman. In dieser Passage fragt eine Kundin die Besitzerin eines Antiquariats nach einem bestimmten Buch, über das die Gebrauchtbuchhändlerin die Nase rümpft, was zu einem Schlagabtausch zwischen den beiden führt. Mir fehlte noch das richtige Buch dafür, meine bisherigen Ideen waren alle zu vorhersehbar und langweilig, »über Paulo Coelho herziehen kann ja jeder«, sagte ich, »das ist easy target«, du nicktest, und beim gemeinsamen Weiterdenken kam mir plötzlich die Idee: Natürlich! »Rave« von Rainald Goetz, was denn sonst! Ich hatte dir bereits erzählt, dass es in meinem neuen Roman um Berlin bei Nacht geht, aber eben nicht um Raver, DJs oder Clubbettreiber, sondern um die Perspektiven ganz unterschiedlicher Personen, die beruflich am Rande des Ausgehbetriebs unterwegs sind. »Rave« von Goetz war in diesem Zusammenhang perfekt, als Antipode, als Bruch oder auch als Ergänzung zu dem, was ich in meinem Buch bewusst auszusparen versuche. Ich war völlig euphorisiert. Ich hatte ein Problem gelöst, das mich seit Wochen quälte, außerdem gibt es nichts Schöneres, als rauszugehen und sich inspirieren und befeuern zu lassen, statt immer nur alleine vor sich hinzubrüten, ich zumindest brauche das für meine Arbeit wie die Luft zum Atmen, und dir scheint es, wenn ich deine Bücher richtig gelesen habe, ähnlich zu gehen.
Stunden später, als wir auf die Rechnung warteten, erzähltest du, dass Jeffrey Eugenides hier im Möve im Felsenkeller Teile seines Romans »Middlesex« geschrieben hat. Ich habe »Middlesex« Mitte der Nuller Jahre auf Malta gelesen und Jahre später nochmal als ungekürztes Hörbuch während einer langen Fahrt durch die kanadische Prärie gehört, es war lange Zeit einer meiner Lieblingsromane, von der Entstehung in Berlin aber hatte ich nichts gewusst. Die Barkeeperin zeigte uns den Tisch im hinteren Teil der Bar, an dem Eugenides immer gesessen und geschrieben haben soll, und nachdem wir uns verabschiedet hatten und ich beschwingt und mit ungefähr 100 km/h auf meinem Rad am Tempelhofer Feld entlang Richtung Neukölln fuhr, war ich mir sicher, dass dies einer dieser Abende war, an denen auf magische Weise alles zusammen kommt. Seit diesem beschissenen Unfall im beschissenen Delaware hatte es das nicht mehr gegeben, es war seitdem ja immer alles nur schmerzhaft & schwierig & stressig gewesen. Zuhause angekommen öffnete ich noch eine Flasche Wein und legte das dritte Album des Schnulzensängers Dagobert auf, dann setzte ich mich aufs Sofa und versuchte, mein Hochgefühl und die letzten Stunden in meinem Tagebuch festzuhalten, weil ich in solchen Momenten immer alles loswerden und teilen muss. Über dich schrieb ich: Jan = guter Typ.
Mein Verlag und ich haben uns wegen meines desolaten gesundheitlichen Zustands letzten Sommer übrigens entschieden, die Veröffentlichung von »Arbeit« um einige Monate zu schieben, worüber ich im Nachhinein sehr glücklich bin, weil es mir zum herbst hing langsam besser ging und ich den Text mit dem nötigen Esprit beenden konnte. Dumm nur, dass das Buch jetzt inmitten dieser Krise erscheint, am 29. April nämlich, heute in vier Wochen. Es canceln und verschieben momentan ja ganze Verlage ihre Frühjahrstitel, und niemand kann sagen, ob die Buchläden Ende April wieder geöffnet haben werden und ob in den Medien wieder Platz für etwas anderes als das Virus und seine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen sein wird. Der Gedanke, das Ergebnis von dreieinhalb Jahren harter Arbeit könnte nun einem Coronaloch zum Opfer fallen, macht mich krank, und sollten meine für Mai und Juni geplante Lesetour ausfallen, würde mich das empfindlich treffen, nicht nur, aber auch finanziell.
Gleichzeitig werde ich mir meiner Privilegien immer mehr bewusst. Ich bin es gewohnt, von zuhause aus zu arbeiten. Ich habe keine kleinen Kinder zu bespaßen. Ich habe eine ausreichend große Wohnung, bzw: ICH HABE EINE WOHNUNG – wird ja gerne mal vergessen, dass das nicht auf alle Menschen in diesem Land zutrifft. Ich konnte mich schon immer gut selbst beschäftigen. Auch in Zeiten freiwilliger Iso-Haft sind mir die Tage noch viel zu kurz. Natürlich buhlen die vielen auf meine Wohnung verteilten an- oder ungelesenen Schinken nun wie die Blöden um Aufmerksamkeit; warum nicht die Gelegenheit nutzen und endlich mal den Zauberberg durchackern, die Brüder Karamasov, Unendlicher Spaß oder den hüfthohen MAD-Stapel im Bad, versucht der von jahrzehntelangem Leistungs- und Selbstoptimierungsdiktat ganz fickrig gewordene Teil meines Hirns mir unaufhörlich einzureden. Doch wie ich solch umfassende Lektüre derzeit bewältigen sollte, bei all dem Getrigger von außen (= Internet), ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Als ich dann vorhin am Frühstückstisch die Rundmail las, in der Autoren und Autorinnen des S. Fischer Verlags gebeten werden, jemandem einen Brief aus der Quarantäne zu schreiben, dachte ich nur: Nee sorry Leute, überhaupt keinen Bock drauf gerade und auch echt keine Zeit ...
Und als nächstes dachte ich: Na ja, aber wenn, dann würde ich Jan Brandt schreiben.
Warum ich als erstes auf dich kam, keine Ahnung. Doch statt mir weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, legte ich meine Käsestulle zur Seite und ging wie ferngesteuert rüber ins Wohnzimmer, setzte mich an den Schreibtisch, öffnete ein neues Word-doc und schrieb dir diesen Brief. Mein erster Brandtbrief!
Lieber Jan, ich hoffe, es geht dir gut. Ich hoffe, dass du die Wohnung, nach der du so lange gesucht hast, nun ein bisschen genießen kannst, und ich hoffe, dass wir uns uns bald mal wiedersehen, in Schöneberg, Neukölln oder sonstwo, wenn es hart auf hart kommt meinetwegen auch auf facetime oder Skype.
Bis dahin alles Gute,
dein Thorsten.
Berlin-Neukölln am 01. April 2020