Liebe A. –
du weißt, mein Leben spielt sich ja immer schon größtenteils dazwischen ab, zwischen Schreibtisch und fremden, fiktiven Welten. Jetzt schiebt sich noch ein verordneter Abstand dazwischen und lässt einerseits die (Um-)Welt auf die eigenen vier Wände schrumpfen, während andererseits alle Welt mich mit Ängsten, Zwänge, Zahlen, einer Flut von Nachrichten und Fragen bedrängt.
Große Sorge macht mir die Lage bei euch in Matlosana. Bis jetzt habt ihr kaum Fälle, aber dabei wird es wohl leider nicht bleiben – als gäbe es nicht schon genug Probleme mit der Gesundheitsversorgung (zwölf Beatmungsgeräte für die gesamte Provinz), der häufigen Vorbelastung durch Tb und/oder HIV, der prekären Lohn- und Lebensverhältnisse vieler, vieler Menschen, die gar nicht die Möglichkeit haben, Abstand zu halten. Und du dazwischen. Mittendrin. In der Klinik. Und sonst wegen der neuen Ausgangssperre abends daheim. Zum Glück hast du den Garten. Es ist Spätsommer bei euch.
Ich habe meinen Balkon. Der geht zwar auf den Hinterhof raus, und ich habe nur zwei, drei andere im Blick – flüchtige Balkonabende zwischen Nachbarn (wir klatschen; wir können ja nicht singen) und Sonne –, dafür aber die Vögel. Denen habe ich vor gut einem Jahr eine Futtersäule hingehängt, und es gibt neben Stammgästen – Meisen, Rotkehlchen, Zeisigen – auch mal Grünfinken und Gimpel. Der Hof-Buntspecht und selbst ein Eichelhäher haben sich an der Säule versucht, sie sind aber zu groß und schwer für die Sitzstangen, ihre Schnäbel zu dick für die Spender. Dito die elenden Stadttauben. Von denen wurde unlängst eine direkt vor meiner Nase von einem Greifvogel geschlagen (ha!), er ritt seine fette Beute auf den Rasen hinunter und zerpflückte sie dort seelenruhig, während ihn von den Ästen neidisch die Elstern ankeiften. Leider konnte ich den Raubvogel nicht identifizieren; war’s wirklich ein Milan?
Na, jedenfalls. Weil ich nebenberuflich erreichbar und einsatzbereit zu sein hatte, ständig jemand dazwischenfunkte und ich mich auf meine fremden Welten richtig konzentrieren konnte, beschloss ich, rasch die Fenster zu putzen (war überfällig), um wenigstens mehr von der Vogelwelt zu haben. Was ich aber leider nicht bedacht hatte, waren die Spiegelfechter. In der blitzblanken Balkontür erspähte eine Kohlmeise einen vermeintlichen Rivalen und griff an. Zum Glück begnügte sie sich mit einer Scheinattacke und prallte nicht voll gegen die Scheibe.
Da versucht man, sagte ich zu dir, aus der Not eine Tugend zu machen, Abstand zu wahren und sich trotzdem ein bisschen mehr Welt ranzuholen, und prompt gibt es ungewollte Kollateralschäden. Aber wie viel Hirn, sagte ich, ist bei einer Meise schon zu erschüttern? Das fandest du gar nicht komisch. Hast ja recht. Tut mir leid. Sitze mal wieder dazwischen. Den Stühlen. Den Welten. Richtigem und falschem Leben.
Gib acht auf der Isolierstation – und überhaupt. Alles Liebe, U.