Werte Gäste,
es ist eine Ehre für mich, hier reden zu dürfen.
Ich bedanke mich für die Einladung und auch für Ihr zahlreiches Kommen.
Als ich eingeladen wurde, habe ich sofort zugesagt, ohne wirklich genau zu wissen, wie ich zu dieser Ehre kam. Ich nehme an, da ich im Programm als Schriftstellerin angekündigt bin, dass die Einladung, hier zu reden, stark mit einem gewissen Herrn Gröttrup zusammenhängt. Jedenfalls, als ich meine Rede vorbereitet habe – ganz entspannt schon vor einigen Wochen, versteht sich –, musste ich viel über die Frage nachdenken, was denn meine Kurzgeschichte über einen älteren Herrn, der sich durch ein nicht hart gewordenes Frühstücksei stark verunsichern lässt, mit dieser Ausstellung zu tun hat.
Am Eingang zur Ausstellung hängt ein Bild in Schwarz-weiß. Es ist 3,60 m x 3,50 m groß. Die Aufnahme ist wohl um 1910 im damaligen Deutsch-Südwestafrika entstanden. Auf dem Bild ist ein weißer uniformierter Mann zu sehen. Er wirkt verloren, erledigt. Er sitzt auf kaputten Gleisen, die bis in die Unendlichkeit zu reichen scheinen. Die Landschaft um ihn herum ist mit Wasser überschwemmt. Der Bahndamm ist unterspült. So, wie er da sitzt, musste ich, als ich das Bild gesehen habe, an noch so einen überforderten Mann denken, der durch etwas, womit er nicht gerechnet hatte, aus der Bahn geworfen wird. Das ist natürlich nicht die einzige Parallele zwischen Herrn Gröttrup und dem Unbekannten auf den Gleisen. Beide Männer sitzen, zum Beispiel. Aber in beiden Fällen gibt es eine Geschichte dahinter.
Was nicht auf dem Bild gezeigt wird, ist, unter welchen verheerenden Umständen es zum Bau des Damms kam. Aus der Beschreibung des Bildes lernen wir, dass während des Baus zwischen 1906 und 1907 1.359 der insgesamt 2.014 Zwangsarbeiter starben. Bei dieser Todesrate können wir auch getrost die Formulierung »wurde zu Tode gefoltert« oder »ermordet« verwenden. 1.359. Wenn wir nur eine einzige Schweigesekunde halten würden für jede Person, die auf dem Bau zu Tode gekommen ist, würden wir hier fast 23 Minuten lang im Stillen sitzen. Ähnlich verhält es sich im Text »Herr Gröttrup setzt sich hin«. Wenn überhaupt seine wirkliche Tätigkeit bei der Entwicklung der V2 – der sogenannten Vergeltungswaffe Nazi-Deutschlands – thematisiert wird, wird sehr selten darauf hingewiesen, dass dies ebenfalls maßgeblich durch Zwangsarbeit zustande gekommen ist. Die V2 ist wohl die einzige Waffe, durch die mehr Menschen beim Bau der Waffe gestorben sind als durch deren Einsatz.
Es ist diese Verdrängung, die zu einer Art Nostalgie führen kann. Eine kollektive Amnesie, die erlaubt, dass ein Wort wie »Kolonialismus« positiv konnotiert werden kann – und die dazu führt, dass ernsthaft darüber diskutiert werden kann, ob Berliner Straßennamen, die nach Betrügern und Verbrechern benannt sind, unbedingt umbenannt werden sollten.
Das muss gebrochen werden.
Die Ausstellung, die heute eröffnet wird, nimmt einen wichtigen Schritt in dieser Richtung. Ich bedanke mich bei allen, die involviert waren. Besonders möchte ich mich auch bei allen bedanken, die die Vorarbeit geleistet haben: die Recherchen, der Aktivismus, die Vernetzung, die Kampagnenarbeit, die Pressearbeit. Dass der deutsche Kolonialismus überhaupt aktuell in Hamburg und in Berlin thematisiert wird, basiert ausschließlich auf der wissenschaftlich-aktivistischen Arbeit von Schwarzen Deutschen, den afrikanischen Communities in Deutschland und Zusammenschlüssen von rassismuskritischen Historiker_innen, Wissenschaftler_innen, Politiker_innen und Aktivist_innen. Einigen von ihnen sind auch heute anwesend. Vor allem möchte ich von Herzen denen danken, die vor uns gelebt haben, die Widerstand gegen den Hass und Terror des deutschen Kolonialreiches geleistet haben. Sie haben ihre Geschichte weiter erzählt und niedergeschrieben – trotz erheblicher Barrieren.
Diese Expertise ist heutzutage für uns unentbehrlich. Wenn wir die Zerwürfnisse der heutigen Zeit verstehen wollen, reicht es nicht, einfach Geschichte zu erzählen. Wir müssen uns selber herausfordern und genauer hinschauen: Wessen Geschichte wird erzählt? Aus welcher Perspektive? Und weil Schwerpunkte gelegt werden müssen, was wird durch die Auswahl noch klarer in den Fokus gerückt? Und was wird verdrängt?
während noch immer und schon wieder
die einen
verteilt und vertrieben und zerstückelt werden
die einen
die immer die anderen sind und waren und bleiben sollen
erklären sich noch immer und schon wieder
die eigentlich anderen
zu den einzig wahren
erklären uns immer und schon wieder
die eigentlich anderen
den krieg
sie feiern in weiß
wir trauen in schwarz
es ist ein blues in schwarz-weiß
es ist ein blues
...
1/3 der welt vereinigt sich
gegen die anderen 2/3
im rhythmus von rassismus sexismus und antisemitismus
wollen sie uns isolieren unsere geschichte ausradieren
oder bis zur unkenntlichkeit
mystifizieren
es ist ein blues in schwarz-weiß
es ist ein blues
doch wir wissen bescheid – wir wissen bescheid
1/3 der menschheit feiert in weiß
2/3 der menschheit macht nicht mit
Dieses Gedicht wurde Anfang der neunziger Jahre anlässlich der sogenannten Wiedervereinigung Deutschlands von der afrodeutschen Dichterin, Pädagogin und Aktivistin May Ayim geschrieben. In dem Gedicht thematisiert sie auch den jährlichen sogenannten »Columbus Day«, oder Kolumbus-Tag, der gestern stattgefunden hat und 1992 zum 500sten Mal in den USA groß gefeiert worden ist.
»Wir wissen Bescheid« heißt sinngemäß, die, die marginalisiert werden, haben Wissen, haben eine Expertise. Wir kennen die Geschichte hinter der dominanten Geschichtserzählung. Überhaupt sind unsere Perspektiven unerlässlich, um deutsche Geschichte wirklich zu verstehen.
Als erstes Beispiel möchte ich auf die wissenschaftliche Arbeit von W.E.B. Du Bois hinweisen, ein 1868 in den USA geborene Soziologe, Philosoph, führender Vertreter der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und Autor zahlreiche Bücher und Artikel. Von 1892 bis 1894 studierte Du Bois in Deutschland sowohl an der Universität Heidelberg als auch hier um die Ecke in der Humboldt-Universität zu Berlin. Aufsätze wie ›The Negro and the Warsaw Ghetto‹ das 1952 in der Publikation ›Jewish Life‹ erschien oder ›The Souls of White Folk‹ von 1919 liefern exzellente gesellschaftskritische Analysen, die noch für die heutige Zeit höchste Relevanz haben.
Oder noch ein Beispiel: die koloniale Kontinuitäten, die in der Biografie von Kwassi Bruce klar nachgewiesen sind. Der 1896 im heutigen Togo geborene Bruce ist als Kleinkind nach Deutschland gekommen, wo er zunächst in einer Kolonialschau ausgestellt worden ist. Nachdem es vorbei war, wohnte Bruce bei einer weißen deutschen Pflegefamilie und erhielt eine klassische Musikausbildung. Bruce war stolzer »Reichsdeutscher« und verteidigte sein Land auch im Ersten Weltkrieg. Allerdings wurde ihm 1933 die deutsche Staatsangehörigkeit mit dem Machtwechsel entzogen. Bruce verfasste 1934 ein Denkschrift an das Auswärtigen Amt über die allgemeine Stimmung der Bevölkerung Deutschlands. Sachen, die er damals geschrieben hat, könnten leider – noch immer – genauso gut auch heute geschrieben werden.
Und mein letztes Beispiel für heute: Marie Mandessi Bell. Eine Frau, die 1895 in Douala (im heutigen Kamerun) geboren wurde und für ihre Schulbildung nach Deutschland geschickt worden war. Sie lebte in Hamburg, Eberswalde und auch kurz in Berlin, bevor sie (nach einem Zwischenstopp in Dakar) 1938 mit ihren fünf Kindern nach Frankreich zog. Die Wohnung der Netzwerkerin und politischen Aktivistin wurde zum wichtigen panafrikanischen Treffpunkt. Die einflussreiche, panafrikanische Zeitschrift ›Présence Africaine‹ wurde auch in der Wohnung gegründet.
Durch diese Biografien wird die dominante Geschichtserzählung nicht nur ergänzt, sondern kann überhaupt erst richtig verstanden werden. Wie wichtig es ist, auf diese Perspektiven zurückzugreifen, wird allen spätestens klar, wenn wir die wachsende Popularität der AfD verstehen möchten. Das Wissen ist da. Es fehlt lediglich an einer angemessenen Anerkennung und Würdigung in der dominanten Gesellschaft. Ich bin aber optimistisch, da wir ja im Prozess sind.
Ist ein toller Platz hier oben! Doch, wenn ich jetzt nicht hier auf dem Podium wäre, muss ich gestehen, dass ich vor der Tür stehen würde: in Solidarität mit der Delegation der Herero und Nama aus Namibia. Sie stehen mit ihren, wie ich finde, berechtigten Anliegen leider immer noch, sinngemäß, aber heute Abend auch wortwörtlich, draußen.
Wir brauchen aber genau diese Menschen: hier auf dem Podium, in den Verhandlungen. Ohne Mehrperspektivität fehlt einfach mehr als die Hälfte der Geschichte.
Ich möchte meinen Beitrag heute mit einem Zitat aus einem Gedicht beenden.
Der Autor des Gedichtes war ein Sohn von der ebenerwähnten Marie Mandessi Bell und hieß David Mandessi Diop. Geboren 1927 in Frankreich, zählt Diop zu den bedeutendsten frankophonen west-afrikanischen Dichtern der Négritude-Bewegung. Sowohl in seiner künstlerischen als auch in seiner politischen Arbeit positionierte er sich klar gegen Kolonialismus und für ein unabhängiges Afrika. ›Les Vautours‹, oder auf Deutsch: ›Die Geier‹, wurde 1956 geschrieben.
In jenen Tagen,
als die Zivilisation uns ins Angesicht schlug,
und Weihwasser spritzte auf unsre gezähmten Stirnen,
erbauten die Geier im Schatten ihrer Fänge
den Zeiten der Unmündigkeit ein blutiges Monument.
...
ihr kanntet alle Bücher und keine Liebe.
Doch wir, deren Hände den Leib der Erde befruchten,
die Wurzeln unsrer Hände, wie die Revolte tief
trotz eurer Hochmutslieder inmitten von Leichenhäusern,
verheerten Dörfern des zerrissnen Afrika
lebte Hoffnung in uns wie in einer Zitadelle,
und von den Minen Swasilands
bis zum sauren Schweiß der Hüttenwerke Europas
wird der Frühling erstehn unter unseren Schritten der Helle.
Extras
Eröffnungsrede der Ausstellung »Deutscher Kolonialismus«
Rede von Sharon Dodua Otoo anlässlich der Eröffnung der Ausstellung »Deutscher Kolonialismus« im Deutschen Historischen Museum in Berlin, am 13. Oktober 2016.