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»Haare sind politisch«

Sie gilt als eine der jüngsten Autorinnen der Welt, die mit ihrem Werk bereits für den Literaturnobelpreis gehandelt werden. Sie lebt in Nigeria und in Maryland. Jetzt hat sie einen Roman geschrieben, der unseren Blick auf die Welt verschiebt: ein Interview mit der Schriftstellerin Chimamanda Adichie.

Chimamanda Adichie, was sehen Sie, wenn Sie Zuhause in den USA aus dem Fenster schauen, und was sehen Sie, wenn Sie in Nigeria aus dem Fenster schauen?

Wenn ich in den USA, in Maryland, bin, blicke ich auf eine ruhige, baumbeschattete Straße, wo Leute mit ihren Hunden spazieren gehen. In Lagos, Nigeria, schaue ich auf eine breite Straße, gesäumt von großen Wohnkomplexen, und es fahren Autos vorbei.

Wie sieht ein typischer Tag bei Ihnen aus, wenn Sie an einem Buch arbeiten?

Wenn ich gut vorankomme mit dem Schreiben, verhalte ich mich geradezu obsessiv. Ich stehe auf und setze mich gleich an den Computer. Ich esse dann auch am Schreibtisch. Und ich mache nichts, was nicht irgendwie zu tun hat mit dem Schreiben, ich gehe nicht ans Telefon, ich schreibe keine E-Mails. Selbst wenn ich dusche, bin ich in Gedanken bei meinen Figuren, der Geschichte, dem Tonfall.

Worum geht es in Ihrem neuen Roman ›Americanah‹?

Es ist im Grunde eine altmodische Liebesgeschichte neu erzählt, mit den Themen unserer Zeit: Es geht um Liebe, Rasse, die Globalisierung, Gender, Klassenzugehörigkeit, um Immigration, Zuhause, um Haare, Amerika, England und Nigeria.

In einem TED-Talk haben Sie einmal über die Gefahr der einen einzigen Sicht auf die Dinge gesprochen, über »die Gefahr der einen einzigen Geschichte«, die maßgeblich für den Blick auf etwas wird. Wie sind Sie darauf gekommen?

Ich war ein sehr aufmerksames Kind. Ich habe schon von klein an sehr genau zugehört und dabei die Erfahrung gemacht, dass man den Charakter einer Person oder gewisse Zusammenhänge nur begreifen kann, wenn man mehr kennt als die eine Geschichte.

Sie haben sehr früh angefangen zu schreiben. Sie haben einmal gesagt, dass am Anfang alle Figuren in Ihren Geschichten weiß waren, blaue Augen hatten, im Schnee spielten, Äpfel aßen und dauernd über das Wetter redeten.

In den meisten Büchern, die ich als Kind gelesen habe, ging es um Orte, die sehr weit weg waren und Figuren aus ganz anderen Lebenswelten. Deshalb glaubte ich, dass sie genau so immer in Büchern auftauchen. Kinder sind sehr verletzlich angesichts von Geschichten. Ich habe diese Kinderbücher geliebt, aber sie haben mir eine einseitige Sicht vermittelt, was Bücher sind oder sein können. Das hat sich geändert, als ich älter wurde und Bücher entdeckte, die mehr mit meiner eigenen Lebenswelt zu tun hatten, vor allem Camara Layes ›The Dark Child‹ und Chinua Achebes › Arrow of God‹.

In ›Americanah‹ spielt das Thema Haare eine große Rolle, Sie erwähnen Frisuren und Haarsalons und auch Blogs, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Haare sind ein Riesenthema. Besonders für Frauen. Besonders für schwarze Frauen. Haare sind eigentlich nur Haare. Aber zugleich geht es immer auch um größere Fragen.

Sind Haare politisch?

Ja. Eine weiße Frau, die ihre Haare nicht färbt und ihr Grau zeigt, setzt sich allen möglichen Mutmaßungen aus über ihre Persönlichkeit und sogar ihre politischen Ansichten. Aber die Haare einer schwarzen Frau sind noch politischer. Und mit »politisch« meine ich aufgeladen mit Bedeutungen, die nicht ästhetischer Natur sind. Wenn Michelle Obama ihr Haar natürlich tragen würde, also geflochten, als Afro oder mit Dreadlocks, hätte Barack Obama die Präsidentschaftswahlen nicht gewonnen. Das hört sich ziemlich absurd an, aber jeder, der sich näher mit den USA beschäftigt, weiß, dass es so ist. Weil der sogenannte »Mainstream« so wenig über die Haare von schwarzen Frauen weiß, werden ihnen alle möglichen, oft negativen Bedeutungen zugeschrieben.

Die Sängerin Beyoncé hat einen Ausschnitt aus Ihrem TED-Talk in ihrem Song ›Flawless‹ gesampelt. Was bedeutet es für Sie, Feministin zu sein?

Es bedeutet für mich, aufmerksam und wach zu sein und mich dafür einzusetzen, dass eine Veränderung in Gang kommt, überall dort, wo Frauen und Männer nicht gleichberechtigt sind, in welchem Winkel der Welt das auch immer sein mag.

Es gibt junge Stimmen, Autorinnen und Autoren der Weltliteratur, die Geschichten aus und über das Afrika von heute erzählen, wie wir sie bis vor kurzem nicht gelesen haben, Teju Cole und Taiye Selasi zum Beispiel. Sie haben mit Ihrem Schreiben geholfen, diesen Autoren den Weg zu ebnen.

Ich bin sehr stolz, Teil einer wunderbaren Tradition zu sein und zu jenen afrikanischen Autoren zu gehören, die auf Englisch schreiben. Andere Autoren meiner Generation und ich haben die Möglichkeit dazu, weil Größen wie Chinua Achebe uns den Weg geebnet haben.

Sie leben in den USA und in Nigeria – können Sie sagen, wo Sie sich mehr Zuhause fühlen?

Ich mag Amerika sehr. Aber meine schönsten Schuhe habe ich in Nigeria – und dass sie dort stehen, ist für mich ein Zeichen dafür, wo ich wirklich Zuhause bin.

Chimamanda Ngozi Adichie

Chimamanda Ngozi Adichie

Chimamanda Ngozi Adichie ist eine der großen Stimmen der Weltliteratur. Ihr Werk wird in 55 Sprachen übertragen. Für »Americanah« erhielt sie 2013 den Heartland Prize for Fiction und den National Book Critics Circle Award. Ihr Roman »Blauer Hibiskus« war für den Booker Prize nominiert, »Die Hälfte der Sonne« erhielt den Orange Prize for Fiction 2007. Mit ihrem TED-Talk »We should all be Feminists« verankerte die Nigerianerin den Feminismus fest in der Popkultur. Auf Deutsch liegt der Text im FISCHER Taschenbuch vor: »Mehr Feminismus! Ein Manifest und vier Stories«. Zuletzt erschienen im FISCHER Taschenbuch »Liebe Ijeawele. Wie unsere Töchter selbstbestimmte Frauen werden« (2017) und bei S. FISCHER »Trauer ist das Glück, geliebt zu haben« (2021). 2018 wurde Chimamanda Ngozi Adichie mit dem PEN Pinter Prize und dem Everett M. Rogers Award ausgezeichnet. 2019 wurde ihr der Kasseler Bürgerpreis »Das Glas der Vernunft« verliehen. 2020 erhielt sie den Internationalen Hermann-Hesse-Preis für »Blauer Hibiskus«. Chimamanda Ngozi Adichie wurde 1977 in Nigeria geboren und lebt heute in Lagos und in den USA.