Merkwürdig, dass die Obrigkeitshörigkeit just in dem Augenblick kritisch thematisiert wird, da sie ein essentielles Moment gegenseitiger Fürsorge beinhaltet. Davor wurden staatskritische Warnungen stets in den Wind geschlagen. Wer vor Jahren ein Buch mit dem Titel »Angriff auf die Freiheit« geschrieben hat, wurde als paranoider Hysteriker abgetan. Eigentlich sind jene, die jetzt zum Widerstand aufrufen, Verteidiger des Systems, weil sie spüren, dass dessen existentielle Energien (Wachstum und Konsum, Egoismus und Profit) bedroht sind. Solche scheinbar widersprüchlichen Mechanismen sind dem Roman eingeschrieben.
Sowohl Bakunin als auch Lenin, zwei Praktiker des Revolutionären, waren dieser Einsicht. Heinrich Mann selber ja auch, wie ein Brief an René Schickele zeigt: »der Roman des Deutschen müsse geschrieben werden«. Tatsache ist, dass weder die französische noch die englische Literatur einen thematisch ähnlich gelagerten Roman hervorgebracht hat. Also, so unangenehm die Verkostung dieser Kräuter sein mag, sie ermöglicht trotz der für eine Satire typischen Überspitzungen ein plausibles Porträt des »homo germanicus«. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass jene, die den hiesigen Untertanengeist anprangern, sich oft nur nach einer anderen Erniedrigung sehnen – die Rechten etwa, die dem Führerprinzip anhängen, verachten die Unterwerfung unter dem »Diktat der Siegermächte«.
Der Stil ist großartig. Man nehme nur den ersten Satz und vergleiche ihn mit einem anderen Versuch eines personifizierten Nationalporträts, mit Thomas Manns »Doktor Faustus«. Die Sätze atmen Licht, ohne fluffig leicht zu sein. Heinrich Mann ist ein Meister der ironischen Präzision. (»Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben.« Das »obendrein« ist wichtig, weil es elegant auf Hierarchie hinweist, auf die von Ihnen angesprochene Mikrophysik der Macht.) Immer wieder eröffnen konkrete Wörter Resonanzräume des Grundlegenden. Zudem erklingt im Tonfall etwas Mündliches, zum einen durch alltägliche Redewendungen (»er war der falscheste Hund von allen«), durch den Rhythmus und die Sprechweisen der Figuren (Heinrich Mann hat ein untrügliches Ohr für Soziolekte, wie die Pennäler in »Professor Unrat« reden, so etwas gibt es ansonsten nur in den allerbesten amerikanischen TV-Serien). Teilweise liest es sich wie der Auftritt eines literarisch hochbegabten Kabarettisten, so lebendig und spritzig und auf den Punkt gebracht. Und deswegen entsteht zwischen Autor und Lesenden eine intime Beziehung, fast eine Freundschaft.
Ja, unbedingt, die deutschsprachige Literatur wäre besser, wenn die Schreibenden sich eher an Heinrich als an Thomas Mann orientieren würden. Die schon erwähnte Klarheit und Präzision des Stils, die kosmopolitische Neugier, die Freiheit des Denkens und die Relevanz der Themen. Und vor allem die Erzählenergie. Mehr davon!
Da denke ich gleich an die gegenwärtige Hörigkeit gegenüber Influencern. Neulich erst habe ich einen Artikel gelesen, in dem berichtet wurde, dass die Hälfte der jungen Bevölkerung Influencern folgt und/oder selber eine/einer werden möchte. Ein stark kollektives Element in einer vermeintlichen Ekstase des Individualismus. Diederich Heßling hingegen zieht sein gesamtes Selbstbewusstsein aus dem völkischen Kollektiv. Aber es herrscht dort und hier die Dialektik einer Anpassung, die relevant und dominant sein will.