Als letzten Sommer in Bristol die Bronzestatue des Sklavenhändlers Edward Colston ins Hafenbecken gestürzt wurde, habe ich mich gefragt, wie es wohl Richard Francis Burton ergangen wäre, hätte man ihm zu Ehren ein Denkmal errichtet (es gibt nur ein zeltförmiges Mausoleum auf dem Friedhof der römisch-katholischen Kirche St. Mary Magdalen in Mortlake im Londoner Stadtbezirk Richmond upon Thames, das schwer zu finden ist und vielleicht daher selten besucht wird). Ein heroisch überhöhter Burton würde zu Recht den Zorn heutiger Aktivistinnen erregen: Er diente mit Überzeugung dem imperialen Projekt und war nicht frei von Rassismus und Sexismus. Zugleich hat er intensiv eine respektvolle Neugier gegenüber allem Fremden gelebt, die seinesgleichen sucht. Er war ein viktorianischer Kulturrelativist (»Wieso wollen Sie aus einem guten Inder eine schlechte englische Kopie machen?«), er hat die teilnehmende Beobachtung als Instrument der anthropologischen Erkenntnis zwar nicht erfunden, so doch als einer der ersten mit Erfolg praktiziert. Er war in seiner Haltung einerseits modern, andererseits ein Kind des 18. Jahrhunderts, als Ressentiments noch nicht systematisiert waren zu einer Ideologie der Herrschaft. Und seine Biographie verdankt sich einer sich anbahnenden Globalität, auch wenn er mehrmals der allererste Europäer war, der an einem fernen Ort auftauchte. Die anfängliche Frage erübrigt sich also: Er ist zu non-konformistisch, um als Vorbild für ein Denkmal geeignet zu sein.
Wer sich so wie ich lange Zeit (sieben Jahre) mit Richard Francis Burton, der am 19. März zweihundert Jahre alt geworden wäre, beschäftigt hat, erkennt unvermeidlich, wie sehr wir in Westeuropa weiterhin geprägt sind vom Zeitalter des Kolonialismus, hinsichtlich unserer Überheblichkeit sowie der Ungerechtigkeit der weltweiten ökonomischen und politischen Strukturen, aber auch was unser Potenzial betrifft, aus der Monotonie einer bestimmten Tradition in die Vielfalt einer berauschenden und beglückenden Pluralität aufzubrechen. Das Reisen, das Erkunden, das Erlernen, das Sich-Verändern, all das hat Burton in extremis vorgemacht, indem er an die dreißig Sprachen gelernt, sich in einen Pilger mehrerer Religionen verwandelt und die klassischen Werke verschiedener Sphären studiert und übertragen hat. Deswegen ist das unbedachte Wort von seiner Konvertierung (zum Islam, um nach Mekka und Median pilgern zu können) so unpassend. Seine Metamorphosen waren ein dynamisches, lebenslanges Projekt. Die Freiheit, die er sich genommen und teilweise unter enormer Bedrängnis verteidigt hat, ist Gold wert, wenn man an die kulturelle und spirituelle Autonomie des Individuums glaubt.
Der Roman Der Weltensammler, der diesem Mann kein Denkmal setzt, um ihn nicht vom Sockel stoßen zu müssen, ist in etwa so viele Sprachen übersetzt worden wie Burton gesprochen hat (leider nicht ins Sanskrit). Oft werde ich gefragt, wie Leserinnen und Leser in anderen Ländern auf das Buch reagiert hätten. Meine (wohl enttäuschende) Antwort lautet: Überall gleich. Kinder in Bukhara wundern sich genauso wie Gymnasiasten in Basel, ob es die Kobrakurtisanen wirklich gegen habe, Frauen, deren Körper sich über Jahre hinweg so sehr an ein Gift gewöhnt haben, dass sie jemanden ermorden konnten mit einem gemeinsamen Trank oder gar einem Kuss. Studierende in Khartoum sind von den Abenteuern dieses geheimnisvollen Mannes genauso fasziniert wie Zuhörerinnen in Teheran. Junge Literaten in Nairobi sind von ähnlichen Aspekten der Erzählung betört bzw. verwirrt wie Studentinnen in Sarajewo. Gutes Garn kann offensichtlich jede Tracht spinnen.
Und was mich besonders gefreut hat: In all den Jahren hat mir niemand den Vorwurf gemacht, dass ich die verschiedenen Geschichten des Romans aus der Sicht eines indischen Dieners, eines osmanischen Beamten sowie eines ostafrikanischen Karawanenführers erzählt habe (mir war von Anfang an klar, dass die Ambivalenz dieser Figur nur eingefangen werden kann, indem die Einheimischen eine anachronistisch dominante Stimme erhalten). Natürlich gab es Kritik, dass mir dieses oder jenes nicht gelungen sei, aber keine grundsätzliche Verurteilung, weil ich versucht habe, mich in das Denken und somit in die Sprache Fremder hineinzuversetzen. Das ist gut so, denn dieser Engländer, der auch irische Vorfahren hatte, in Frankreich und Italien aufgewachsen ist, einen Großteil seines Lebens außerhalb der Insel verbrachte, und dessen agnostische Faszination mit Religion und ungestüme Obsession mit Erotik uns wichtige Übersetzungen geschenkt hat, ließe sich schwer umkreisen mit der Engstirnigkeit identitärer Zuschreibung.
Auf Englisch gibt es einen Ausdruck, der oft in Zusammenhang mit Richard Francis Burton benutzt wird: Larger than life. Das passt gut in die idiomatische Hosentasche. Eigentlich ist aber gemeint: Er war größer als das Leben, das die meisten von uns sich zutrauen, sich erlauben. Insofern ist Burton ein Vorbild für (neu)gierige Lebenslust, für einen eigenwilligen, teilweise rebellischen Weg, voller Leidenschaft und Mut.