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Rede von Charlotte Gneuß zur Verleihung des Nicolas-Born-Debütpreis

Aktuelles Teaser Gneuß
Charlotte Gneuß 114
© Alena Schmick

Sehr geehrter Herr Minister Mohrs, sehr geehrte Mitglieder der niedersächsischen Literaturkommission, sehr geehrter Herr Lorenz, lieber Herr Biller, liebe Frau Born, - liebe Lesende,

Ich will eine Rede schreiben, doch es piept der Feuermelder, es scheitert die Koalition. Ich will eine Rede schreiben, aber ein vorbestrafter Verbrecher gewinnt den US-Wahlkampf, ein anderer wirft Bomben auf Kyiv, auf Charkiw. Ich will eine Rede schreiben, aber in Israel und Palästina herrscht Krieg, Geiseln sind gefangen, Krankenhäuser werden bombardiert. Ich will eine Rede schreiben, doch das Telefon klingelt. Ein Intendant ist am Apparat, er könne mein Stück nun doch nicht inszenieren, es tue ihm sehr leid, das Theater muss schließen. Ich will eine Rede
schreiben, doch in Dresden stürzen die Brücken ein, ich will eine Rede schreiben, aber die Nachbarn wählen Faschisten. Ich will eine Rede schreiben, aber eine Partei beschließt, Mitmenschen auszubürgern. Ich will eine Rede schreiben, aber nicht nur im Internet tobt ein Shitstorm. Ich will eine Rede schreiben, aber die Wasser steigen, jedes Jahr ein Jahrtausendhochwasser, jedes Jahr eine Jahrtausenddürre, – und ich schreibe meine Rede. Ich schreibe sie trotzdem, und trotzig, ich schreibe sie den Umständen zum Trotz.

Ich schreibe: Sehr geehrter Herr Minister Mohrs, sehr geehrte Mitglieder der niedersächsischen Literaturkommission, sehr geehrter Herr Lorenz, lieber Herr Biller, liebe Frau Born, - liebe Lesende,

Seit der Veröffentlichung von Gittersee ist ein gutes Jahr vergangen. In diesem Jahr habe ich unendlich viel gelernt. Ich habe gelernt, wie es ist, auf einer Bühne zu stehen. In einem Diskussionspanel zu sitzen. Auf dem Weg zum Hamburger Hauptbahnhof ein Radiointerview zu geben. Ich habe Kolleginnen kennengelernt und neue Freundinnen gefunden. Ich habe gelernt, was es bedeutet, eine Frau in der Öffentlichkeit zu sein. Vor allem aber habe ich gelernt, dass Literatur ein emphatischer Raum ist.

Es waren die Buchhändlerinnen, die Mitarbeiter in den Literaturhäusern, die Moderatorinnen und die Bibliothekare, vor allem aber waren es die Lesenden, die mich das lehrten. Sie schrieben mir Briefe und Mails. Sie teilten ihre Leseeindrücke. Erinnerungen, die die Lektüre in ihnen wachgerufen hatte. Sie schrieben mir von den Sandwegen ihrer Kindheit. Von ihrer Großmutter, die auch immer die Hühnereier beschriftet hatte. Sie schickten mir Bilder vom Bad in der Elbe. Sie schrieben, sie dachten, sie wären die einzigen gewesen.
Von damals – in Ungarn. Von damals – in Prag. Von damals – an der Ostsee mit Neptun, dem Seeungeheuer. Das war immer so schön. Sie schrieben mir aber auch von dem einen Freund der Familie, ˗ der gar kein richtiger Freund war. Sie erzählten mir von der Tristesse der Jugend, „von dem ewigen Wartesaal“ ˗ wie eine Leserin einmal die DDR nannte. Davon, dass sie auch einmal zum Direktor zitiert wurden. Das muss ich verdrängt haben, sagte die Leserin, das hab ich so sehr verdrängt, sagte sie, ich hab es schon fast vergessen. Immer wieder habe ich das Buch weglegen müssen, erklärte eine Buchhändlerin, ich brauchte Pausen, mir kam alles hoch. Eine Schauspielerin sagte, das kann ich nicht spielen. Das ist mir zu nah.

Andere Lesende, vielleicht sogar die meisten, hatten nicht persönlich in der DDR gelebt, so dass der Text eigentlich nicht zu „nah“ sein konnte. Trotzdem sprachen sie von der Protagonistin Komma zuweilen wie von einer Schulfreundin. Sie warfen mir Kindesmissbrauch vor, weil ich Komma in eine so ausweglose Situation laufen ließ. Sie haderten mit der Mutter, die Komma verließ. Sie verstanden, dass Komma sich nicht an ihren Vater wandte. Sie mochten die Großmutter nicht. Mit der hätte ich auch nicht geredet, versicherte mir ein Herr im Pullunder, die ist ja völlig durch.
Alle Lesenden aber liebten Marie, die beste Freundin von Komma ˗ weil sie die einzige im Text ist, die nicht mit Misstrauen, sondern mit Vertrauen in die Welt blickt. Wie die auf Menschen zugeht, sagte eine Leserin, so muss ein Mensch zur Menschheit sein.

Es mag verwunderlich klingen, doch beim Schreiben war mir diese emphatische Lesart aus dem Blick geraten. Für den Text hatte ich Interviews geführt, in Bibliotheken und Stadtarchiven gesessen, ich hatte mit Familienmitgliedern und Bergleuten gesprochen. Ich hatte Zeit und Ort mit Bedacht gewählt. So ist es zum Beispiel nicht zufällig, dass meine Protagonistin Komma genannt wird und aus dem Jahr 1976 erzählt. Dem Jahr, das Historikerinnen als Kipppunkt, als Kommastelle der DDR-Geschichte bezeichnen, als „Anfang vom Ende“. Und es ist auch nicht zufällig, dass Gittersee am anderen Ende der Stadt liegt, ferner als dort ist man dem „Turm Milieu“ in Dresden nirgends.

Und es nicht zufällig, dass im Text manchmal Bezug genommen wird auf die deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft Wismut, die in Gittersee Kohle und Uran abbaute und deren Strukturen mich an die Apparatur der Staatssicherheit erinnerten. Denn so, wie bei der Staatssicherheit, arbeiteten die Mitarbeiter der Wismut unter Tage. Denn so, wie bei der Staatssicherheit, hatten die Mitarbeiter der Wismut im Schacht andere Namen. Und wie bei der Staatssicherheit unterlag die Mitarbeit bei der Wismut strengster Geheimhaltung, und wie bei der Staatssicherheit wurde ihre mitunter gefährliche Arbeit mit Vergünstigungen – einem Telefon, einer Badewanne, einer guten Ferienwohnung – belohnt.
Es waren solche Gedanken, die für mich beim Schreiben von Gittersee eine wichtige Rolle spielten. Dazu kam die Sprache, die Dramaturgie, die Drei-Akt-Struktur, das Regelwerk des Textes. Die Lesenden dem Text aussetzen, wie die Protagonistin der Welt ausgesetzt ist – so stand es in meinem Notizbuch, und weiter: keine Zusammenfassungen, keine Erklärungen, keine Reflektionen.

War ich anfangs einem emotionalen Impuls gefolgt, war ich während des Schreibprozesses vor allem mit den Hintergründen und dem Handwerk, der sprachlichen Verfasstheit und der Dramaturgie des Textes beschäftigt. Erst mit der Veröffentlichung des Romans, erst durch den Blick der Lesenden erkannte ich wieder, was sich im Text eigentlich ereignete. Als hätte ich im Schreibprozess vergessen, dass die Kunst nie um der Kunst willen, sondern immer dem Menschen zuliebe geschieht. Jetzt, im Akt des Lesens, wurde der Text lebendig. Bekam durch die Lesenden ein Herz, eine Seele. Wo ich mich um Reduktion bemühte, füllten die Lesenden die Leerstelle mit ihrer Erfahrung und ihrer Phantasie. Wo ich einen Satz abbrach, führten sie ihn zu Ende. Sie dachten das Ungesagte weiter, gaben den Figuren Hände und Herzen. Sag`s doch dem nicht, brüllte einmal eine Frau bei einer Lesung, der ist doch bei der Stasi.

Es mag naiv klingen, doch zum ersten Mal verstand ich, dass Literatur ein emphatischer Raum ˗ und darum ein trotziger Ort ist. Literatur trotzt der Empathielosigkeit, der Dummheit, der Gewalt. Trotzt der Parole, der Propaganda, der Hetze. Trotzt dem Trupp, der Gruppe, dem Rudel. Dem Mob, der Meute, dem Heer. Weil sie Menschen befähigt, sich Zeit zu nehmen für sein Gegenüber. Den Standort zu wechseln, die Perspektive zu drehen. Literatur macht, was dem Einzelnen geschieht, für alle erfahrbar. Sie befreit die Sprachlosen aus der Vereinzelung, indem sie eine Brücke bildet zwischen der Erfahrungswelt der literarischen Figuren und der Realität der Lesenden.

Und deshalb schreibe ich weiter. Nicht, obwohl der Feuermelder piepst, sondern weil der Feuermelder piepst. Ich schreibe weiter, trotzdem, und trotzig, weil Literatur Zweifel in die Parole sät, weil sie Sand im Getriebe der Propaganda ist. Ich schreibe weiter, weil der Literatur ein Staat, eine Ideologie niemals wichtiger sind als der einzelne Mensch, der das Zentrum aller Literatur ist. Deshalb schreibe ich, ˗ den Umständen zum Trotz ˗ schreibe ich weiter.

Ich danke den Organisatorinnen des heutigen Abends, ich danke denen, die die Stühle gestellt, die Tische gewischt, die Toiletten gesäubert, die Tickets verschickt haben. Ich danke meinem Verleger Oliver Vogel, meiner Lektorin Juliane Schindler, meinen Freundinnen, meiner Familie und meinem Partner. Ich danke Maxim Biller, dass er schreibt – und dass er weiterschreibt. Ich danke Herrn Lorenz für seine lieben Worte. Ich danke der Jury ˗ Kathrin Dittmer, Alexander Solloch, Volker Petri, Lisa Kreißler und Matthias Lorenz – für ihre Arbeit und ihre Wahl. Ich danke dem Land Niedersachsen für den Nicolas-Born-Debütpreis. Preise wie dieser ermöglichen ein marktunabhängiges und also tatsächlich freies künstlerisches Schaffen.
Vor allem aber danke ich den Lesenden. Ich danke Ihnen sehr.

 

Charlotte Gneuß
Hannover im November 2024

Charlotte Gneuß wurde 1992 in Ludwigsburg geboren, nachdem ihre Eltern die DDR verlassen hatten. Sie studierte Soziale Arbeit in Dresden, Literarisches Schreiben in Leipzig und Szenisches Schreiben in Berlin. Sie ist Gastautorin von »ZEIT Online«, Gewinnerin des Leonhard-Frank-Stipendiums für neue Dramatik und Herausgeberin der Anthologie »Glückwunsch«, die bei Hanser Berlin ...

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