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Weibliches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Ein »Bedürfnis nach Lebensgeschichten«: Unsere Autorin Isabelle Lehn schreibt über #dichterdran, #vorschauenzählen und die bewusstseinsprägende Kraft von Literatur.

Isabelle Lehn, promovierte Rhetorikerin und Autorin der Romane »Binde zwei Vögel zusammen« und »Frühlingserwachen«
© A. Sophron
Am 14. Januar hätte die Schriftstellerin Isabelle Lehn auf Einladung des Goethe-Instituts nach Teheran fliegen sollen, um am Karnameh-Kulturinstitut über deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu sprechen. Ihre Reise wurde aufgrund der politischen Spannungen kurzfristig abgesagt. Ihre Fragen aber bleiben – und stellen sich auch einem heimischen Publikum: Was bedeutet es für Frauen, wenn sie lesend von klein auf lernen, die Welt aus der Perspektive eines Mannes zu betrachten, weil nur diese Perspektive als künstlerisch relevant und gesellschaftlich gewichtig erscheint? Was macht es mit jungen Leserinnen und Lesern, wenn die Literatur und literarisches Schaffen ihnen keine weiblichen Vorbilder bieten? Und was bedeutet es, wenn sie lernen, dass die Themen von Mädchen und Frauen zu trivial sind, um einem breiten Publikum erzählt oder an Schulen vermittelt zu werden? Über die bewusstseinsprägende Kraft von Literatur.  
 

»Etwas hat sich verändert«, urteilte der Literaturredakteur Jan Drees im Sommer 2019 bei seiner Besprechung von Karen Köhlers Debütroman »Miroloi« im Deutschlandfunk {1}.Stärker als jemals zuvor sei die Gegenwartsliteratur von erzählenden Frauen und dem Erzählen über Frauen bestimmt. Die weltweite Debatte unter dem Hashtag #MeToo habe auch im Literaturbetrieb ihre Spuren hinterlassen. In den Fokus rückten heute eher Opfer statt Täter. Die Liebe von Mittdreißigerinnen, wie bei Daniela Krien, erfahre mehr Aufmerksamkeit als die Leiden des alten Mannes bei Martin Walser. Frauen dominierten die Bestsellerlisten, sie erhielten die wichtigsten Auszeichnungen – kurzum, es habe sich etwas verändert. Vor allem aber scheint seine zuvor aufgeworfene Frage – »Werden im Jahr 2019 Frauen im Literaturbetrieb benachteiligt?« – nur von rhetorischem Charakter zu sein. 

Drees‘ Beitrag reiht sich in eine Feuilletondebatte ein, die Karen Köhlers Romandebüt »Miroloi« im August 2019 auslöste. Köhlers Buch ist das Klagelied einer unterdrückten Frau in einer archaisch-patriarchalischen Gesellschaft. Die Erzählerin lebt in einem Korsett aus Verboten – beispielsweise ist es ihr und anderen Frauen untersagt, das Lesen zu lernen. Von sich selbst, der Ausgestoßenen und Aufbegehrenden, sagt die Erzählerin: »So eine wie ich ist hier eigentlich nicht vorgesehen«. Drees kann den Roman in seiner Besprechung im Deutschlandfunk nur schwer einordnen: »Ist Köhlers Buch ein Totenlied auf nicht mehr existierende Formen der Misogynie?« Einen Bezug zur eigenen Gesellschaft will er nicht erkennen. »Kann ›Miroloi‹ gelesen werden als Parabel auf die Unterdrückung von Frauen im Niger, im Chad oder Burkina Faso?« Das Problem der Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern – es scheint immer bloß als das Problem der Anderen denkbar. 

Köhlers Roman wurde einer der Publikumserfolge des letzten Jahres und erhielt eine Longlist-Platzierung für den Deutschen Buchpreis. Eine ganze Reihe von Kritikern war sich jedoch in harschen Verrissen einig, »Miroloi« sei in seiner naiven, zu grob geratenen feministischen Kritik über das Ziel hinausgeschossen {2}. Auch stilistisch sei der Roman eine »bittere Enttäuschung« {3}. Die Sprache gebe sich zwar bescheiden, heische aber pseudopoetisch um Effekte {4}. Als ernstzunehmende Literatur könne der Roman nicht eingeordnet werden, eher als »Easy Read« {5} im Bereich des Trivialen, der Jugend- oder Frauenliteratur. Es wurde der Verdacht geäußert, dass das Buch bloß deshalb als »Spitzentitel« {6}  im Herbstprogramm des renommierten Carl-Hanser Verlags erschienen sei und in den Feuilletons umgehend Beachtung gefunden habe, da er das »Trend-Thema Feminismus« {7} aufgreife. Ein Thema, das heutzutage keine offene Kritik dulde. Nur so sei es schließlich zu erklären, dass andere Rezensenten gemäßigter urteilten: Als habe der Zeitgeist ihnen die Münder verschlossen {8}.  

Was hier vorgetragen wird, ist starker Tobak. Er wirft dem Buchmarkt und seinen Akteuren Selbstzensur im Dienste einer »feministischen Ideologie« vor. Bei aller Empörung wird zudem übersehen: Köhlers Roman war zwar ein wichtiger Titel im vergangenen Herbst-Programm des Hanser-Verlags – allerdings nicht Spitzentitel. Das war »Auf Erden sind wir kurz grandios« des US-vietnamesischen Schriftstellers Ocean Vuong. Der Tumult um das literarisch vermeintlich aufgeblähte Thema Feminismus hätte also getrost eine Nummer kleiner ausfallen können. An die Adresse von Schriftstellerinnen wiederum enthält diese Kritik die Warnung, nicht zu viel zu verlangen. Nach dem Motto: Ihr findet doch bereits Beachtung mit euren Themen. Ihr verkauft doch bereits erfolgreich Bücher, erhaltet inzwischen doch die wichtigsten Preise. Was wollt ihr denn noch? Diese Haltung ist im besten Fall selbstgefällig und gönnerhaft. Und sie beschreibt einen Status Quo, wie ihn die Literaturkritikerin Iris Radisch in einer Kritik von 2012 pointierte: 

»Dass die Medienwelt eine Männerwelt ist, lehrt uns der Blick ins Impressum.  Dass der Zutritt der Frauen in die Medienwelt eine von Mannes Gnaden ist, ergibt sich daraus zwangsläufig.« {9}

Natürlich muss es möglich sein, auch ein Buch wie »Miroloi« zu kritisieren. Allerdings ohne auf Stereotypen des »weiblichen« Schreibens zurückzugreifen, des gefühligen, trivialen und naiven Schreibens, des poetisierenden oder gar »pseudopoetisierenden« Schreibens, die immer wieder dazu genutzt werden, die Arbeit von Schriftstellerinnen zu entwerten. Gegenreaktionen, die den Verrissen von Köhlers Roman frauenfeindliche Bewertungsstrukturen vorwarfen, ließen schließlich nicht lange auf sich warten {10}. 

Was also hat sich wirklich verändert? Wie ist es bestellt um das weibliche Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und seine Bewertung im literarischen Betrieb? In den nächsten Minuten will ich mich dieser Fragen widmen und mir ein Beispiel am Titel eines Essaybandes von Siri Hustvedt nehmen, der 2016 erschien: A woman looking at men looking at women. Ich möchte den Blick ein paar Mal hin und her werfen und auf die ungleichen Bedingungen schauen, unter denen männliche und weibliche Schriftsteller in Deutschland schreiben und veröffentlichen. Und ich will fragen, was weibliches Schreiben in der deutschen Gegenwartsliteratur ausmacht. Welche Themen erobern sich Schriftstellerinnen aktuell als literarische Sujets – jenseits des Genres, des Sachbuchs und der Ratgeberliteratur? Welche Veränderungen fordern sie ein? Und was ist neu daran, dass sie Relevanz und Bedeutung der eigenen Perspektive beanspruchen? 

Was also hat sich im Literaturbetrieb verändert, seitdem im Herbst 2017 die Vorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein laut wurden und Frauen weltweit gegen sexualisierte und häusliche Gewalt demonstrierten, über Geschlechtergerechtigkeit, Alltagssexismus und Benachteiligung im Beruf diskutierten? Vor allem eins: Selbstkritik gehört seither zum guten Ton. Man gibt sich aufgeklärt, gleichberechtigt und unterstützt kritische Aktionen von Frauen. Insbesondere dann, wenn sie so kreativ und unterhaltsam daherkommen wie vergangenes Jahr unter dem Hashtag #dichterdran. Jetzt sind die Dichter dran – nicht nur die Dichterinnen, dachten sich die Autorinnen Güzin Kar, Simone Meier und Nadia Brügger und nahmen bei Twitter die sexistischen Stereotype der Literaturkritik satirisch aufs Korn. Da hieß es etwa über Arthur Miller: »Als Ehemann von Marilyn Monroe hatte er keine Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden.« Eine eigenständige Leistung wird dem Schriftsteller als »Ehemann von« nicht zugebilligt. Heinrich Böll wiederum wird mit Verweis auf seine Familienarbeit in den Rang des Dilettanten verwiesen: »Wenn die Kinder in der Schule, Abwasch und Einkäufe erledigt waren und das Bügeleisen langsam erkaltete, widmete sich Heinrich Böll seinem heimlichen Hobby, dem Schreiben.« 

Der Effekt dieser Umkehrung ist entlarvend, spiegelt er doch die Alltagserfahrung zahlreicher Autorinnen wider: Schriftstellerinnen können sich seltener als ihre männlichen Kollegen darauf verlassen, dass ihre Bücher unabhängig von ihrer Person, ihrem Aussehen, ihrem Alter oder ihrem Privatleben beurteilt werden {11}.  Die Folge dieser Verknüpfung ist in der Regel eine Entwertung ihres literarischen Schaffens: Durch den Verweis auf ihr Geschlecht wird ihre Literatur banalisiert. Schreibende Frauen, womöglich nach dem Stereotyp jung und sexy inszeniert, werden weniger ernst genommen. Ihre Arbeit gilt als weniger professionell, und natürlich werden sie schlechter bezahlt. Außerdem widersprechen Frauen, die Kinder haben und sich um ihre Familie kümmern, dem Ideal des einsamen Dichtergenies, das Ruhe und Abgeschiedenheit zum Arbeiten braucht. Die literarische Arbeit von Frauen wird zum Hobby, zum Nebenschauplatz erklärt.

Es ist einfach, die Autorinnen von #dichterdran für ihre humorvolle und treffsichere Kritik zu beglückwünschen. Aber es ist ungleich schwerer, diese Kritik auch umzusetzen. Denn jede Veränderung kostet Anstrengung und Zeit und ist nicht bereits ins Perfekt zu setzen, nur weil der Ruf danach plötzlich Gehör findet. Die Strukturen, die ungleiche Marktbedingungen für Autorinnen und Autoren hervorbringen, erfordern vielmehr ein langfristiges Überschreiben aktueller Bewertungsmuster von Literatur. Sie machen eine literarische Sozialisation unter veränderten Vorzeichen notwendig.

Denn bislang ist weibliche Autorschaft ohne Zweifel von Nachteil für die Bewertung der daraus hervorgehenden Literatur. Generell gilt im deutschsprachigen Literaturbetrieb: Je mehr Prestige ein Verlag oder das dort publizierte Literatursegment hat, desto geringer ist der Frauenanteil {12}.  Autorinnen erhalten nicht nur 24 % weniger Geld für ihre Arbeit als ihre männlichen Kollegen {13}, sondern auch geringere Anerkennung in Form von symbolischem Kapital.

Die aus London stammende Übersetzerin Katy Derbyshire kam im Jahr 2016 nach ihrer Auswertung von Verlagsprogrammen ebenfalls zu den Schluss, dass Frauen es schwerer haben, den von Männern für Männer gemachten Maßstäben »Hoher Literatur« zu genügen: »Während Frauen bei historischen Romanen und Krimis gut vertreten sind, bringen die renommierten Verlage im Hardcover deutlich weniger Originaltitel von Frauen heraus. Wir reden hier teilweise von einem Verhältnis von zwei zu elf oder elf zu 20 – schockierende Zahlen, eigentlich.« {14} Eine aktuelle Auswertung unter dem Hashtag #vorschauenzählen, die von Berit Glanz und Nicole Seifert initiiert wurde und sich auf das literarische Frühjahrsprogramm 2020 bezieht, bestätigt dieses Ungleichgewicht: In den großen Literaturverlagen bestritten Autorinnen nur rund ein Viertel bis maximal ein Drittel des Verlagsprogramms. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass das Geschlechterverhältnis in Traditionsverlagen historisch gewachsen ist und viele ältere Stammautoren nach wie vor in den Programmen vertreten sind. Ein Blick auf das Geschlechterverhältnis bei literarischen Debüts und auf die Altersstruktur unter den Hausautoren der Verlage würde das Ergebnis vermutlich relativieren.

Werden einem Text »weibliche« Eigenschaften attestiert, bedeutet das nach unseren Bewertungsmaßstäben dennoch eine Abwertung, erklärt die österreichische Literaturwissenschaftlerin Veronika Schuchter {15}.  Als weiblich konnotierte Attribute gelten etwa hohe Emotionalität oder »empathisches Schreiben, aus dem Leben gegriffenes Schreiben, große Authentizität«, die in Kritiken häufig dazu verwendet werden, einen Text als trivial einzuordnen und ihm die Qualität ernstzunehmender Literatur abzusprechen. So geschehen auch im Fall von »Miroloi«. Vermeintlich männliche Eigenschaften eines Textes »wie zum Beispiel analytisch, distanziert, rasiermesserscharf« dienen der Literaturkritik hingegen zur Aufwertung eines Werks {16}. 

Sich einen als »männlich« geltenden Stil zuzulegen oder sich auf vermeintlich »männliche« Themen zu konzentrieren, ist jedoch auch keine Lösung. Mein erster Roman »Binde zwei Vögel zusammen« galt der Literaturkritik zwar als klug komponiert und analytisch scharf. Außerdem behandelte er ein offenbar sehr unweibliches Thema – den Krieg. Und tatsächlich erhielt dieses Debüt einige Anerkennung unter Kritikern, jedoch nicht ohne die Einschränkung, der Roman sei »verkopft«. Anders ausgedrückt: Er galt als zu konstruiert, zu erdacht, er wurde mir nicht geglaubt als Teil meiner (weiblichen) Erfahrungswelt. Siri Hustvedt sieht sich mit diesem Vorwurf des »verkopften« {17}, blutleeren Schreibens gegenüber intellektuellen Frauen häufig konfrontiert und behauptet, als Mann müsste sie sich mit diesem Vorwurf wohl nicht auseinandersetzen. Diese Erfahrung beschreibt ein Dilemma, das die Schweizer Kulturjournalistin Anne-Sophie Scholl wiefolgt zusammenfasst: »Entweder [Schriftstellerinnen] bewegen sich in einem wenig prestigeträchtigen Bereich oder sie sind wenig weiblich.« 

Auch heute noch spürt man also, dass man »als Frau, die selber schriftstellerisch aktiv wird, etwas tut, was ihrer Geschlechterrolle nicht angemessen zu sein scheint.« sagt die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal {18}.  Auch die Kulturtheoretikerin Barbara Vinken erklärt in ihrer Studie »Die deutsche Mutter«, warum die schreibende Frau als eine Provokation gilt: 

»Die Schriftstellerin ist eine Frau, die tut, was nur Männer dürfen: Sie macht sich selbst einen Namen, sie überschreitet die Sphäre von der Privatheit hin zur Öffentlichkeit, sie ist nicht von Gott oder ihrem Mann erschaffen, sondern erschafft sich in ihrem Werk selbst. Durch das Übertreten von Geschlechtergrenzen droht ihr der Weiblichkeitsverlust.« {19} 

Der weibliche Wunsch zu Schreiben an und für sich, das Einnehmen einer eigenständigen Perspektive, der Anspruch auf Ausdruck der eigenen Gedanken und Gefühle ist bereits eine Provokation – zumindest in seiner historischen Dimension, deren Folgen für Autorinnen aber heute noch spürbar sind. 

Ein Beispiel dazu. Nach einem Abendessen in meiner Literaturagentur notierte ich die folgende kleine Szene, die von einem Missverständnis handelt. Ich stand am Anfang meiner literarischen Laufbahn und dachte, ich müsste nur besonders klug und bestimmt auftreten, um mich im Betrieb zu behaupten. Der Effekt war jedoch ein ganz anderer, was ich allerdings erst nach einer Weile verstand:

Wir treffen uns zum Essen beim Agenturchef. Meine Agentin ist da, ein weiterer Mitarbeiter, ein junger Kollege und ein Starautor mit seinem Verleger. Der Starautor und der Agenturchef sprechen über den literarischen Nachwuchs. Wie bescheiden und zurückhaltend diejenigen sind, die wirklich etwas können. Und wie selbstgefällig und überheblich andere auftreten, obwohl sie nicht mehr als ein mittelmäßiges Buch vorzuweisen haben. Ich höre eine Weile zu, versuche mich am Gespräch zu beteiligen, indem ich ein paar Zweifel einstreue. Die Schlimmsten, sagt der Starautor, denn er müsse das leider so sagen, sind immer junge Frauen. Junge Autorinnen, die unermesslich laut und überheblich sind. Vielleicht müssen sie selbstbewusster sein, wende ich ein, um gehört zu werden? Mein Einwand wird nicht aufgegriffen, es wird nichts aufgegriffen, was ich zu diesem Gespräch beitragen will, jeder meiner Sätze verhungert am Tisch. Irgendwann stopfe ich mich nur noch voll, um nichts mehr zu sagen zu haben. Mit vollem Mund spricht man nicht, nimm den Mund nicht zu voll, Isabelle! Und drei Monate später, als ich in der Badewanne liege und mir Berge von Schaum unters Kinn schaufle, wird mir plötzlich klar, was ich an diesem Tisch nicht begriffen habe: Es ist ein Fehler, dass ich mich um Klugheit bemühe, um ernst genommen zu werden. Es ist ein Fehler, mich anzustrengen, um auf gleiche Weise mit Gleichen zu sprechen. Dafür gibt es keinen Respekt. Es gibt den Vorwurf, dass ich anmaßend bin. 

Auch die Literatur von Frauen kann aus dieser Perspektive nicht gleichwertig erscheinen. Auch der Markt verlangt von Frauen Bescheidenheit, was sich schließlich auf die Sichtbarkeit ihrer Werke auswirkt: Bücher von Frauen sind in Verlagsprogrammen seltener vertreten, sie werden seltener im Feuilleton besprochen und erhalten dort weniger Platz. Es werden weniger Preise an Autorinnen verliehen, weniger Titel finden durch Übersetzungen Zugang zum internationalen Buchmarkt, es gehen weniger Bücher von Autorinnen in den literarischen Kanon ein {20}.  Eine Studie des deutschen Kulturrats aus dem Jahr 2016 nennt dieses weitgreifende Phänomen »Rezeptionsignoranz von weiblicher Kunst und Literatur« {21}.  

Diese Ignoranz gegenüber weiblicher Literatur und Kunst ist allerdings nichts Naturgegebenes, sondern über lange Jahre erlernt. Sie ist das Ergebnis einer literarischen Sozialisation, die an deutschen Schulen fast ausschließlich über einen männlichen Kanon erfolgt. Dieser Kanon prägt unsere Lesevorlieben und unser Verständnis von Literatur. Was wir gegenwärtig lesen, ist nicht zuletzt eine Folge dessen, was wir zu lesen gelernt haben. Frauen und Mädchen »sind es von klein auf gewöhnt, Texte von Männern zu lesen. Texte, in denen Themen relevant sind für Jungen und Männer. Texte, in denen zwar Frauen die Hauptrolle spielen, aber aus einer männlichen Perspektive heraus«, erklärt Veronika Schuchter {22}. Männer hingegen tun sich noch im Erwachsenenalter schwer damit, Titel von Frauen zu lesen. Für diese gibt es folglich eigenen Bereich – »Frauenliteratur« – als Bücher von Frauen, die für Frauen geschrieben werden. 

Mein zweites Buch »Frühlingserwachen« aus dem Leben einer Frau Mitte 30 hatte Glück, nicht als »Frauenliteratur« eingeordnet zu werden. Trotzdem wurde ich nach dem Erscheinen häufig gefragt, ob dieses Buch denn auch interessant für männliche Leser sei. Der Roman erfuhr einige Aufmerksamkeit, wurde in den Feuilletons allerdings ausschließlich von Kritikerinnen besprochen. Eine Radiojournalistin erzählte mir, ein Kollege habe ihr das Buch nach der Lektüre zwar empfohlen, sich selbst für eine Rezension aber nicht zuständig gefühlt. Auf der Leipziger Buchmesse wiederum gestand mir ein verunsicherter Moderator seine Bedenken, er als Mann könne vielleicht etwas Falsches sagen bei der Vorstellung meines Romans. Nach einer Lesung erzählte mir ein ebenso begeisterter wie überraschter Bibliotheksleiter, dass er mein Buch eigentlich nur für seine Leserinnen angeschafft habe, es dann aber auch selbst sehr gern gelesen habe. All diese Beispiele wären wohl kaum vorstellbar, hätte ein Mann diesen Titel geschrieben.

Dem Vorurteil, dass Männer mit der Literatur von Frauen nichts anfangen können, war zum Ende des vergangenen Jahres auch der Hashtag #autorinnenschuber geschuldet. Anlass war ein Angebot aus dem Shop der Süddeutschen Zeitung. Unter dem Titel »Soulmates« wurde ein Autorenschuber beworben als »eine starke Sammlung für Männer und alle, die ihnen damit eine echte Freude machen wollen«. Dieses vermeintlich ideale Geschenk für den Mann versammelte ausschließlich Werke männlicher Autoren. Unter dem Hashtag #autorinnenschuber, der auf Nicole Seifert und Lisa Brammertz zurückging, wurden daher Fotos von alternativen Bücherstapeln ins Netz gestellt, die allesamt Bücher von Frauen vorstellten.

Es ist sicherlich ein erster Schritt, die erlernten Lesegewohnheiten und Bewertungsmechanismen zu reflektieren und sichtbar zu machen. Ein solches Visualisierungsexperiment wagte auch der Autor und Übersetzer Tillmann Severin, um sich seine eigene literarische Prägung zu vergegenwärtigen. In seiner Kolumne »My white male bookshelf« {23} beschreibt er, wie er alle Bücher in seinem Regal umdrehte, die von weißen, männlichen Autoren verfasst waren. Das Ergebnis: Er stand vor einer nahezu weißen Bücherwand. 

Wenn wir nun davon ausgehen, dass auch Literaturkritiker und Entscheidungsträger im Literaturbetrieb von solchen Einflüssen nicht frei sind, ist das ungleiche Geschlechterverhältnis im Literaturbetrieb durchaus folgenreich: »Die Branche ist zu 80 % weiblich – aber die Entscheiderpositionen haben zu 84 % Männer inne. Frauen machen die Arbeit, Männer die Macht.« schreibt die Schriftstellerin Nina George in ihrer Keynote zur Studie »Frauen in Kultur und Medien«. Wenn aber männliche Kritiker die Mehrheit stellen und Männer vorrangig Bücher von Männern lesen und empfehlen, dann überrascht es nicht, dass Männer auf den Literaturseiten der Feuilletons doppelt so häufig vertreten sind wie Frauen. Im Sachbuch und Krimigenre stammt sogar nur jedes sechste besprochene Buch von einer Frau. Nur in Frauenzeitschriften werden überwiegend Werke von Autorinnen besprochen, wie eine aktuelle Studie der Universität Rostock zur »Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb« (2018) zeigt, die auch unter dem Hashtag #frauenzählen diskutiert wurde.

Die Bereitschaft des Kulturbetriebs, seine geschlechtsspezifischen Traditionen und Wertigkeiten zu reflektieren, ist allerdings erwiesenermaßen gering. {24}  Diese Erfahrung hat auch die Autorin Anke Stelling gemacht, die im Frühjahr 2019 für ihren Roman »Schäfchen im Trockenen« {25} mit dem renommierten Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Stelling beschreibt im Interview mit dem Deutschlandfunk, dass auch sie als Autorin an die Grenzen der Toleranz gestoßen sei, sobald sie es gewagt habe, dieses liberale Selbstbild des Betriebs zu hinterfragen. Kritik an fortbestehenden Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern werde schnell als »Nestbeschmutzung« aufgefasst, insbesondere im liberalen Milieu der Kulturszene: »Da sind sich ja alle einig, weil sie intellektuell sind und aufgeklärt und eigentlich für Gleichberechtigung und auch alle Feministen, auch die Männer.« {26}

Der aktuelle Erfolg von Sachbüchern mit provokanten Titeln wie »Die letzten Tage des Patriarchats« {27}, eine Kolumnensammlung von Margarete Stokowski, oder der Interviewband »Alte weiße Männer« {28} von Sophie Passmann scheint diese Selbsteinschätzung im Buchmarkt zu bestätigen: Wir sind die Guten, Verleger wie Leser, Rezensenten wie Buchhändler, aufgeklärt und liberal. Wenn sich hinter den Kulissen aber nichts ändert, wirkt diese Haltung wie reine Kosmetik. Ist wirklich genug geschehen, um die notwendigen Veränderungen bereits ins Perfekt zu setzen? Mitnichten. Ein Wandel der Personalstruktur lässt sich nicht über Nacht etablieren, ebenso wenig wie sich am Geschlechterverhältnis unter Hausautor*innen unmittelbar etwas ändern lässt, da Verlage sich bestenfalls langfristig an ihre Autorinnen (und auch Autoren) binden. Dasselbe gilt für einen alternativen Kanon und neue Bewertungsmaßstäbe »weiblicher« Literatur als Ergebnis einer literarischen Sozialisation unter veränderten Vorzeichen: Wandel braucht Zeit. Dass er trotzdem notwendig ist und der Fokus dabei nicht nur auf dem Umgang mit den Werken weißer Autor*innen liegen darf, versteht sich von selbst. Die Situation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit interkulturellem oder migrantischem Hintergrund erfährt eine noch deutlichere Marginalisierung als die Literatur weißer Frauen. Ein untrügliches Zeichen dafür: Es fehlt bislang weitgehend an Untersuchungen und Zahlen, die eine Benachteiligung von People of Colour im Literaturbetrieb fassbar machen könnten.{29}

Aber warum erzähle ich Ihnen das alles? Geht es hier um verletzte Eitelkeiten, die Angst um verpasste Karrierechancen, geringere Reichweiten, schlechtere Bezahlung und das Fehlen von Anerkennung für Schriftstellerinnen? Nein. Oder zumindest: Nicht nur. Es geht um die bewusstseinsprägende Kraft von Literatur und die Frage, was es mit jungen Lesern und Leserinnen macht, wenn Frauen in der Literatur nur als Randfiguren auftreten. Was bedeutet es für Frauen, wenn sie lesend von klein auf lernen, die Welt aus der Perspektive eines Mannes zu betrachten, weil nur diese Perspektive als künstlerisch relevant und gesellschaftlich gewichtig erscheint? Was macht es mit jungen Menschen, wenn die Literatur und literarisches Schaffen ihnen keine weiblichen Vorbilder bieten? Und was bedeutet es, wenn sie lernen, dass die Themen von Mädchen und Frauen zu trivial sind, um einem breiten Publikum erzählt oder an Schulen vermittelt zu werden?

Ganz richtig: Sie übernehmen diese Haltung. Sie fangen an, den männlichen Blick, männliche Ausdrucksformen und männliche Themen – oder das, was ihnen als solche vermittelt wird – als  höherwertig einzuschätzen. Wenn sie ernstzunehmende Literatur lesen wollen, dann greifen sie zu männlichen Autoren, und wenn sie selbst zu schreiben beginnen, dann imitieren sie männliche Stimmen.  

Das ist keine Vermutung, sondern leider eine Beobachtung. Seit ein paar Jahren unterrichte ich immer wieder in Schreibworkshops und habe dort etwas Irritierendes festgestellt: Junge Mädchen, die anfangen zu schreiben, verfallen oft darauf, die Perspektive eines älteren Mannes einzunehmen. Sie versuchen, wie Goethe zu klingen, oder wenigstens wie Martin Walser. Weil sie denken, dass nur das Literatur sein kann. Weil sie gelernt haben, dass Literatur nur dann ernstzunehmend ist, wenn sie aus der Perspektive eines älteren Mannes erzählt. Der erste Schritt meiner Arbeit in diesen Kursen ist es also oft, den Literaturbegriff wieder zu öffnen, seine Freiheiten und seine Vielfalt aufzuzeigen und die Möglichkeiten von Literatur zu skizzieren. Die Studentinnen lernen, dass Literatur nach ihnen selbst klingen darf. Dass sie mit ihrer eigenen Stimme schreiben dürfen, über Themen, die für sie, in ihrer Lebenswelt relevant sind. In der Regel erstaunt sie das sehr.

Und noch etwas überrascht sie: wenn ich sie nämlich bitte, einmal aufzuzählen, welche Autorinnen sie kennen. Dann fallen ihnen keine Namen ein. Keine zeitgenössische Autorinnen, keine internationalen Autorinnen, keine Autorinnen, die sie in der Schule gelesen hätten. Oft finden in einer Gruppe von rund zehn Teilnehmern maximal zwei, die mir ein paar Autorinnen nennen können – häufig aber aus dem Genrebereich. Die anderen Kursanten kennen keine Schriftstellerinnen, nicht beim Namen, geschweige denn, dass sie ihre Bücher gelesen hätten. Der Effekt ist häufig, dass sie sich für dieses Unwissen schämen. Meine Aufgabe ist es dann, ihnen zu vermitteln, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt – Stichwort Kanonisierung. Kein Grund, sich zu schämen. Aber ein Grund, sich diese Zusammenhänge bewusst zu machen. 

Und manchmal fühle ich mich selbst wie eines der Mädchen in meinen Kursen: Wenn ich mich daran erinnern muss, schreibend keine Erwartungen zu bedienen, sondern mich auf das Eigene zu konzentrieren. Ich habe den Eindruck, dass unter den deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen gerade ein geschärftes Bewusstsein dafür entsteht, eine eigene Stimme zu haben, eigene Ausdrucksformen zu finden, eigene Erfahrungen und Themen ernst zu nehmen. 

Gepaart ist dieses Bewusstsein häufig mit Wut, mit der Autorinnen wie Anke Stelling sich dagegen wehren, dass beispielsweise »immer noch und immer wieder in Frage gestellt wird, ob Reproduktion als Stoff überhaupt ›literaturfähig‹ sei – oder nicht doch in die Ratgeber- oder zumindest ›Frauenbuch‹-Ecke gehöre.« {30}  

Es sind wütende, selbstbewusste Bücher von Frauen, die gerade erscheinen und sich mit ästhetischer Radikalität und provokanten Inhalten über die Banalisierung einer weiblichen Perspektive hinwegsetzen. Die Kritikerin Iris Radisch schreibt 2019 in der Literaturbeilage der ZEIT zur Leipziger Buchmesse: 

Alles »jenseits der männlichen Universalperspektive« schien bisher nicht «der Rede wert“ zu sein.{31} Doch »nachdem die Frauen in den ersten paar Tausend Jahren in der Literaturgeschichte immer nur dann vorkamen, wenn Männer über sie geschrieben haben, versuchen sie den Rückstand jetzt in schwindelerregendem Tempo aufzuholen und ein eigenes Bild von sich und ihrem Körper zu entwerfen. […] spielerisch, ironisch, exaltiert, selbstbewusst, provokant, überdreht – von allem ist etwas dabei, auch der Mut zur Peinlichkeit.« {32}  

In diesen literarisch-fiktionalen Selbstporträts bestimmen Themen wie Mutterschaft, Familie und Beruf, weibliche Körperlichkeit und Sexualität oder das Älterwerden der Frauen die literarische Auseinandersetzung. Schriftstellerinnen erobern sich Themen, die in der Vergangenheit als trivial oder unsagbar galten und mit Schweigen und Scham belegt wurden. Sie schreiben über ihre Schwächen, alltägliche Überforderungen und die Angst zu Versagen. Denn zu behaupten, es sei bereits alles erreicht und alles bereits Erreichte sei gut, ist nichts anderes als Selbstbetrug, behauptet Anke Stellings Erzählerin Resi im Roman »Schäfchen im Trockenen«. 

Resi ist Mitte vierzig, kurz davor mit ihrer Familie die Wohnung zu verlieren, und sie geht hart mit ihren vermeintlich aufgeklärten, toleranten, vor allem aber selbstgefälligen Freunden ins Gericht: Wir wollen uns die Illusion vom linksliberalen Idyll nicht zerstören lassen, wirft sie ihnen vor, und machen uns daher etwas vor. Wir machen uns vor, dass wir glücklich sind, gleichberechtigt und frei. »Weil wir uns unsere Inszenierung eines bunten, aufgeklärten Miteinanders genausowenig kaputtmachen lassen wollen wie andere sich ihre patriarchale Ordnung oder heilige Familie.« {33} Sie wettert gegen die Ästhetik des schönen Scheins, gegen das Verschweigen der dunklen Seiten und der eigenen Abgründe, was sie auch der Generation ihrer Mutter zum Vorwurf macht: 

»Vorwurf an meine Mutter, Renates Mutter, Renate und all die anderen, die glauben, es sei besser zu schweigen, sich zurückzunehmen und auf die Zukunft der Töchter zu setzen: Ihr irrt euch. Indem ihr schluckt, schweigt und verschleiert, schont ihr uns nicht, sondern haltet uns in Ungewissheit. Privatisiert außerdem gesellschaftliches Unrecht – denn dass es euch nicht gut geht, bemerken wir, glauben aber, das habe rein persönliche Gründe. Ihr schafft’s halt nicht, seid nicht stark, schön, schlau und durchsetzungsfähig genug. […] In der Annahme, dass wir im Gegensatz zu euch ja völlig frei, gleichberechtigt und unseres Glückes Schmied sind, gehen wir also in die Welt hinaus. Und geraten naiv, unvorbereitet und ungeschützt in genau dieselben misslichen Zusammenhänge wie ihr vor uns […].« (Stelling, SiT, S. 56 f.) 

Resi will es anders machen und schreibt ihren Selbstbericht an die Tochter Bea. Sie will Bea »alles mitgeben, was sie weiß« {34} – und dazu gehört auch die Überzeugung, dass Frauen sich über die eigenen Erfahrungen austauschen müssen. Resi will ihrem Kind beibringen, vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Dazu richtet sie den Blick unter die glatte Oberfläche, denn nur so könne Frauen bewusstwerden, dass ihre Probleme  gesellschaftlicher Natur und kein privates Verschulden seien.

Schuld und Verantwortung für das eigene Leben sind zentrale Themen dieses Romans. Denn natürlich nimmt Stelling eine sehr westliche Perspektive ein – eine Perspektive, in der wir an große Freiheiten glauben, aber auch am »Fetisch der Individualisierung« leiden, wie die Feministin Laurie Penny es ausdrückt. Wir allein sollen für unser Leben und sein Gelingen verantwortlich sein. Diese Sichtweise bedeutet auch eine Individualisierung der Schuld. »Selbst schuld« schreibt Stelling immer wieder, selbst schuld, wenn du scheiterst, versagst, die falschen Entscheidungen triffst. Ihre Resi aber weigert sich, an die absolute Freiheit und die Absolutheit der eigenen Verantwortung zu glauben. Es gibt gesellschaftliche Strukturen, die unsere Freiheit begrenzen: Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, ökonomische Voraussetzungen, Geschlecht. Resi will die Erfahrungen, wie schwierig es ist, unter bestimmten Voraussetzungen ein gelingendes Leben zu führen, als kollektive Erfahrung sichtbar machen. Als strukturelles Problem, um auch andere Frauen vom Druck des individuellen Versagens zu entlasten. 

Im Interview bringt die Autorin dieses Anliegen auf den Punkt: Jede Frau in unserer Gesellschaft kämpfe für sich allein, messe sich mit anderen, habe die perfekten Bilder des Mutterglücks im Kopf. Ein echtes Miteinander, das entlastend sein könnte, gelinge indes nicht. Stelling ist überzeugt, dass es dazu an Ehrlichkeit fehle: »Weil man dazu auch das ständige Versagen, den Neid, die Wut und die Missgunst offen mit einbringen muss – und das ist furchtbar unangenehm und scheint vor allem riskant.« {35} 

Aber: Es ist auch eine Chance. Und so wird Ehrlichkeit gegenüber der eigenen Erfahrung zum Maßstab. Ein unverschämtes Schreiben wieder die Scham und das Schweigen, wie Virginia Woolf es bereits vor rund 90 Jahren in ihrem Vortrag »Berufe für Frauen« forderte: Die Schriftstellerin müsse den Engel im Hause töten, der von ihr erwartet werde, und die Wahrheit über ihre Erfahrung als Körper schreiben.

Das Ergebnis sind Erzählerinnen, die zuspitzen, übertreiben und mit Schärfe und Wut erzählen – also sich Ausdrucksformen zu Eigen machen, die eigentlich nicht zum weiblichen Repertoire gehören. Sie geben der alternden, an ihrem Körper leidenden und über Mutterschaft, soziale Isolation und finanzielle Benachteiligung klagenden Frau eine Stimme. Sie lassen die zynische, kritische, machthungrige Frau zu Wort kommen, die aggressive, vulgäre Frau, die unzufriedene, impulsive und sexuell aktive Frau. Es spricht die egoistische, unberechenbare, irrationale Frau. Die kühle, die peinliche, die wütende Frau. Es sollen alle Anteile laut werden, die wir sonst vor der Welt zu verbergen suchen.

So schreibt Ulrike Draesner 2018 etwa in »Eine Frau wird älter« über die Wechseljahre als eine Zeit, die »mit Scham besetzt und von sprachlicher Hilflosigkeit und Einsamkeit geprägt […]« {36} ist. Ihr fehlen gesellschaftlich etablierte Formen, über das Altern der Frau »anders als im Modus des Defizits und seiner Behebung« zu sprechen. Die Sprachlosigkeit werde an die nächste Generation weitergegeben.{37} Aus diesem kollektiven Schweigen ergibt sich für sie vor allem eines: das Bedürfnis nach »Lebensgeschichten […]. Ich brauchte Mütter, Großmütter, Töchter – Frauen in allen Altersstufen.« {38}

Dieses Bedürfnis scheint die deutsche Gegenwartsliteratur gerade zu teilen. Schriftstellerinnen beginnen zu sammeln und berichten aus der eigenen Erfahrung– einander, ihren Töchtern, den Männern ihrer Generation, die ebenfalls davon lesen sollen, was ich selbst als eine Art »Ethnographie des weiblichen Alltags« verstehe. In Frankreich ist dieser Anspruch durch Autorinnen wie Annie Ernaux schon länger vertreten. In Großbritannien veröffentlichte die Schriftstellerin Rachel Cusk ihr Buch »A life’s work« über die Geburt ihrer Tochter und die eigene Überforderung mit dieser Situation bereits 2001. In Deutschland scheint die Zeit erst jetzt reif für dieses Thema. Cusks Buch erschien in diesem Herbst auch auf Deutsch – unter dem Titel »Lebenswerk« {39}, erst achtzehn Jahre, nachdem es geschrieben wurde. 

Bei seinem Erscheinen 2001 in Großbritannien löste Cusks Bericht Empörung aus, schließlich hatte sie an einem Tabu gerührt und das Glück der Mutterschaft in Frage gestellt, ähnlich wie es im Jahr 2015 auch die israelische Soziologin Orna Donath mit ihrer Studie »Regretting Motherhood« {40} tun sollte. Aufsehen erregte auch der eher essayistische Band »Motherhood« {41} der kanadischen Autorin Sheila Heti, in dem sie öffentlich darüber nachdenkt, was eine Entscheidung gegen Kinder und für die Kunst für ihr Leben bedeuten würde: Eine Entscheidung gegen den »mainstream of life«, ein Leben in der Außenseiterposition, in Nichtzugehörigkeit, wie es ihr als kinderloser Künstlerin vorbestimmt sei.

In deutscher Sprache beschäftigt sich etwa die Lyrikerin Nancy Hünger mit dem Tabu der gewollten Kinderlosigkeit. In ihrem 2019 erschienenen Essay »solitude essentielle« {42} schreibt sie, sie wolle ein Kind »auf dieser Welt kaum denken, geschweige existieren wissen.« (S. 162) Das mache sie selbst in den Augen der Gesellschaft jedoch zu einer Frau, die sie nicht sein wolle. Aus der Perspektive der anderen ist sie »die alternde Patentante, die Ledige, ein hysterisches Weib« {43}. Positiv besetzte Rollen sind für die kinderlose Frau hingegen nicht vorgesehen. Dabei sieht Hünger ihre Kinderlosigkeit als notwendige Bedingung für ihre literarische Arbeit: Die Entscheidung für die Schriftstellerei bedeute für sie ein Leben in »Einsamkeit, Armut und Isolation« {44}. Dieses Leben sei ihr genug, eine »radikale Liebe, die ich nicht teilen, weil dritten nicht anlasten will […]. Ich habe nicht genug Bücher um einen weiteren Mund zu füttern, nicht genügend Kraft für zwei ungeteilte und bedingungslose Lieben.« {45}  

Die Protagonistin in meinem Roman »Frühlingserwachen« fragt sich ebenfalls, welchen Preis sie zu zahlen bereit wäre, um Kinder zu bekommen und großzuziehen. Ist sie bereit für eine reproduktionsmedizinische Behandlung? Und ist sie bereit für die Rolle der Mutterschaft und die damit verbundenen psychischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen? Schließlich muss sich eine Frau, die schreibend ihren Lebensunterhalt bestreitet, überlegen, ob sie sich Kinder leisten kann, gibt Anke Stelling im Interview zu bedenken. {46}

All diesen Frauen gemeinsam ist das Ringen um Orientierung: Wer ist man, wenn man in keiner der verfügbaren Rollen genügt? Wenn man die Anforderungen, die die Gesellschaft an Mütter stellt, nicht erfüllen kann? Wenn man weder eine gute Mutter noch eine produktive oder erfolgreiche Schriftstellerin ist? Wer ist man, wenn man gewollt oder ungewollt kinderlos bleibt und trotzdem keine große Karriere macht? 

Diese Fragen scheinen einen Nerv zu treffen. Nachdem mein Roman »Frühlingserwachen« erschienen war, erhielt ich zahlreiche Rückmeldungen von Frauen, die sich in der Schilderung eines zerrissenen, wenig perfekten Lebens wiederkannten. Erst vor kurzem erreichte mich die folgende Mail: 

»Danke für das wunderbar tröstliche, komische und abgrundtief wahre ›Frühlingserwachen‹. Danke, Danke, Danke. Es tut gut zu wissen, dass offenbar auch andere solch eine Art Leben führen. Und sei es auch nur eine fiktive Personage. Mir doch egal. Es hilft.«

Was ist fiktiv, was ist real? Es scheint für den Eindruck von Ehrlichkeit nicht relevant zu sein. Die genannten Beispiele changieren zwischen Essay und Roman, autobiographischem und fiktionalem Schreiben, das offen lässt, wieviel tatsächlich gelebtes Leben in ihnen steckt. Die Formen wiederum spiegeln die zersplitterte Alltagserfahrung. Wo es kein Empfinden eines kohärenten Sinnzusammenhangs gibt und Zeit nur noch fragmentarisch erscheint, lässt sich auch nur zersplittert davon erzählen.

»Es tut mir leid, dass hier alles so zerrissen scheint«, entschuldigt Stellings Resi ihren aus Bruchstücken, Notizen und Listen zusammengesetzten Bericht. »Ich hätte gern mehr Stringenz, eine erkennbare Einheit, einen Trost für alle, die auf der Suche sind. Doch ich bin, wer ich bin, und ich werde nicht mehr so tun, als hätte ich dieselben Voraussetzungen wie, sagen wir mal, Martin Walser.« (Stelling, SiT, S. 41) 

Auch die Schriftstellerin Kerstin Preiwuß beobachtet, wie sich das Schreiben durch ihre Kinder verändert: immer »häufiger zerstreut es sich, setze ich etwas aus Fundstücken zusammen, die nicht mehr als Splitter sind.« {47} Aber es erhalte auch eine neue Dringlichkeit, überlegt Sünje Lewejohann, die durch die Doppelbelastung nur noch schreiben könne, »was von alleine geht. Schreiben, was ohnehin geschrieben werden will, was schon da liegt und wartet.« {48} Und letztlich sei diese neue Art zu schreiben, die sich mit der Mutterschaft einstelle und aus einer Verknappung von Zeit geboren werde, auch ein Reichtum, urteilt Anke Stelling. Es ist der Reichtum, das Leben in möglichst vielen Facetten zu leben und in der Kunst darauf Zugriff zu haben. Zudem könne eine fragmentarische, vielseitige Form sehr viel spannender sein als der in vorgezeichneten Bahnen verharrende bürgerliche Roman. {49}

So wird die freie Form dieser Texte nicht zuletzt zum Spiegel der Unsicherheit und Unstetigkeit weiblicher Lebensgeschichten. Sie steht aber auch für die Gestaltungsfreiheit und Unbedingtheit, Offenheit und Vielfalt ihrer Existenz.  

Die Kritikerin Radisch schließlich ist den Autorinnen dankbar für den »Mut zur Peinlichkeit, zum hochtourigen Spiel mit allen möglichen Rollen«. Einen Grund, sich zurückzulehnen und das Erreichte zu feiern, sieht Radisch jedoch nicht: »Das Problem der weiblichen Traditionslosigkeit lässt sich nicht mit ein paar Saison-Novitäten beheben.« Es fehle jungen Autorinnen und Frauen noch immer an etablierten »Vorgängerinnen und Vorbildern, ein eigener Kanon, in dem sie es sich wie die Männer bequem machen könnten«. {50}  

Bequem machen wollen wir es uns sicherlich nicht. Aber ich hoffe, dass Sie auch mit diesem unbequemen Einblick in neue weibliche Perspektiven der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur etwas anfangen konnten.

Vielen Dank. 

Nachweise: 

{1} Jan Drees: Karen Köhler: »Miroloi« – Klagelied für die Literatur. In: Deutschlandfunk, 19.08.2019.
{2} Vgl. Drees; Jan Küveler: „Dieses Buch ist schlecht. Warum sagt es niemand?“ In: Die Welt, 26.08.2019; Burkhard Müller: "Miroloi": Hier stellt sich jemand dumm. In: Zeit Online, 21.08.2019; Carsten Otte: „Miroloi“ von Karen Köhler. Ich mach' mich dann mal weg. In: Tagesspiegel, 17.08.2019.
{3}Drees.
{4} Vgl. Küveler.
{5} Drees
{6} ebd.
{7} ebd.
{8} Vgl. Küveler.
{9} Iris Radisch: Die alten Männer und das junge Mädchen. In: Die Zeit, 18.02.2012, S. 45.
{10} Vgl. Dana Buchzik: Dystopien, Parabeln und männliche Beissreflexe. https://www.goethe.de/ins/tr/de/kul/sup/lit/fra/21705726.html; Marlen Hobrak: Kriterienkrise. »Miroloi« von Karen Köhler soll Symptom einer immer schlechteren Literatur sein, ist aber für den Buchpreis nominiert. In: Der Freitag, 34/2019.
{11} Vgl. Anne-Sophie Scholl: Oben ist die Luft für Frauen dünn: Im Literaturbetrieb liegt die Macht noch immer bei Männern. In: Aargauer Zeitung. 30.07.2018; vgl. Auch Veronika Schuchter: Männer werten anders. Frauen auch. Die Literaturkritik als Gender-Diskurs. in: literaturkritik.at. 29.9.2012.
{12} Vgl. Berit Glanz, Nicole Seifert: Wenn es unterhaltsam wird, sind die Frauen dran. Spiegel Kultur, 22.12.2019, vgl. auch: Nina George: #EntschlumpftEuch! Keynote zur Präsentation der Studie des Deutschen Kulturrates »Frauen in Kultur und Medien«. 01.06.2016.
{13} Laut Datenlage der Künstlersozialkasse. Vgl. Valeska Henze: Über die Freiheit zur Geschlechtergerechtigkeit. Frauen in Kultur und Medien. 18.07.2016, https://blog.buecherfrauen.de/ueber-die-freiheit-zur-geschlechtergerecht.... Vgl. auch Kulturratsstudie »Frauen in Kultur und Medien« (2016), S. 43 ff.
{14} Katy Derbyshire: Der Literaturbetrieb hat ein Problem mit Frauen. In: Zeit Online, 1. April 2016.
{15} Vgl. Veronika Schuchter im Gespräch mit Tanya Lieske: »Der Kanon ist einfach ein männlich dominierter«. In: Deutschlandfunk, 19.07.2018.
{16} ebd.
{17} Ein aktuelles Beispiel: »Siri Hustvedt. Verkopfte Mahnerin und Brückenbauerin. Kim Kindermann und Andrea Gerk im Gespräch mit Joachim Scholl.« In: Deutschlandfunk Kultur, 17.05.2019.
{18}Mithu M. Sanyal im Gespräch mit Carolin Callies: Gebären ist ein Synonym für alle Formen des Schaffens. In: Poetin Nr. 25, 2019, S. 249.
{19} Zit. nach Sanyal, S. 248 f.
{20} Vgl. Scholl, Buchzik, Derbyshire. Vgl. Janet Clark et al.: »Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb«, Pilotstudie an der Universität Rostock, 2018.
{21} Kulturratsstudie »Frauen in Kultur und Medien«, 2016, S. 457.
{22} Vgl. Schuchter im DLF-Gespräch mit Lieske.
{23} Tillmann Severin: My white male bookshelf. In: Fixpoetry. 02.02.2018. https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kolumnen/2018/olga-tokarzuk-unrast-....
{24} Kulturratsstudie »Frauen in Kultur und Medien«, 2016, S. 367.
{25} Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen. Verbrecherverlag, Berlin 2018.
{26} Wie der junge Feminismus in Osteuropa tickt. Kateryna Mishchenko und Anke Stelling im Gespräch mit Andrea Gerk. In: Deutschlandfunk Kultur, 29.11.2019.
{27} Margarete Stokowski: Die letzten Tage des Patriarchats. Rowohl, Reinbek bei Hamburg 2018.
{28} Sophie Passmann: Alte weiße Männer. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
{29} Vgl. Alem Grabovac: Deutsche Migranten-Literatur. Uns bekommt hier niemand mehr weg. In: Welt-Online, 27.09.2018.
{30} Anke Stelling im Gespräch mit Carolin Callies. Den Engel zeitweise aussperren. In: Poetin Nr. 25, 2019, S. 198.
{31} Iris Radisch, in: Zeit Literatur, Nr. 12, 2019, S. 7.
{32} Radisch (2019), S. 3.
{33} Stelling (2018), S. 225.
{34} ebd., S. 32.
{35} Stelling in: Poetin, S. 202.
{36} Ulrike Draesner: Eine Frau wird älter. Ein Aufbruch. Penguin, München 2018., S. 10.
{37} Vgl. ebd., S. 19.
{38} Ebd., S. 10.
{39} Orig. 2001. Auf Deutsch: Rachel Cusk: Lebenswerk: Über das Mutterwerden. Suhrkamp, Berlin 2019.
{40} Orig. 2015. Auf Deutsch: Orna Donath: Regretting Motherhood: Wenn Mütter bereuen. Knaus, München 2016.
{41} Orig. 2018. Auf Deutsch: Sheila Heti: Mutterschaft. Rowohlt, Reinbek 2019.
{42} Nancy Hünger: Solitude essentielle. In: Poetin Nr. 25, 2019.
{43} Ebd. S. 162.
{44} Ebd., S. 164.
{45} Ebd. S. 163.
{46} Stelling in: Poetin, S. 202.
{47} Kerstin Preiwuß: Lieber M. In: Poetin Nr. 25, 2019, S. 152.
{48} Sünje Lewejohann: Schreib Tiere ins Gras! In: Poetin Nr. 25, 2019, S. 174.
{49}Stelling in: Poetin, S. 204 f.
{50} Radisch (2019), S. 7.

Isabelle Lehn, geboren 1979 in Bonn, lebt heute in Leipzig und schreibt erzählende und essayistische Prosa. Sie ist promovierte Rhetorikerin, Autorin des mehrfach ausgezeichneten Debütromans »Binde zwei Vögel zusammen« und zuletzt des Romans »Frühlingserwachen«. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt den Dietrich-Oppenberg-Medienpreis für ihren Aufsatz »Weibliches Schreiben« (S. ...

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