Wer Swetlana Geier einmal in ihrem Haus in Freiburg-Günterstal besuchte, wird das nie vergessen. Tief unter die Schwarzwaldtannen geduckt, stand da eine russische Datscha, wie gebaut für die zahllosen Helden der von ihr übersetzten Bücher. Schaute man hinaus auf die Veranda, glaubte man Fürst Myschkin reden zu hören, Raskolnikow murmeln, Solschenizyn erzählen und Sinjawskij ein Märchen auslegen. Ihnen allen – und Bunin, Platonow und Bely, die Liste nimmt kein Ende - hatte Swetlana Geier ihre Stimme geliehen. Und zugleich hatte sie ein Haus geführt mit bollerndem Herd, immer vollen Töpfen, einer großen Familie – und einem Tisch für die Freunde und die weithergereisten Emigranten. Es war ein Zuhause für das Unterwegs.
Wenn die Gäste von Russland erzählten, fragte sie nach Kiew, wo sie am 26. April 1923 geboren war und das sie erst mit 85 Jahren wieder besuchte: die Stadt und das Grab ihres Vaters, der 1939 an den Folgen der Stalin-Haft starb. Von Kind auf hatte sie Deutsch gelernt. Als die Deutschen kamen, wurde sie Dolmetscherin, als sie abzogen, Ostarbeiterin, die es schließlich mit einem Stipendium zu einem Studium nach Freiburg brachte. Eine verschlungene Geschichte, die Vadim Jendreyko in dem ihr gewidmeten Film „Die Frau mit den fünf Elefanten“ erzählt. Dass so etwas vorstellbar ist: Ein Kinofilm über eine Übersetzerin, der in Zürich 2010 wochenlang in einem Programmkino lief. Die Singer/Songwriterin Sophie Hunger wünschte sich, in einer WG mit Swetlana Geier als guter Seele zu leben.
In Freiburg sollte Swetlana Geier bleiben, im Schatten der Tannen, über russischen Büchern und vergilbten Lexika, als Dozentin an der Universität und vor allem als Übersetzerin. In einem Alter, in dem die meisten Menschen sich nach Balkon und Sonne sehnen, hat sie erst richtig losgelegt. Sie war 65, als sie den Vertrag für die Neuübersetzung der großen Romane Dostojewskij unterzeichnete, aber wer ihre blauen Augen je hat blitzen sehen, zweifelte keine Sekunde daran, dass sie diesen sich selbst gesetzten Auftrag erfüllen würde. Zumal damals ihre Mutter noch mit weit über neunzig Jahren lebte. Sie konnte ihr noch aus eigener Anschauung die vertrackte Architektur von Sankt Petersburger Hinterhöfen erklären: die lang gezogenen Galerien, verborgenen Kammern und expressionistischen Treppenhäuser, durch die Raskolnikow mit der Axt zieht.
In Swetlana Geiers Sicht der russischen Literatur hatte sich ihr Weg von Puschkin aus gegabelt: ein Weg ging über Tolstoi zu einer realistischen, dokumentarischen Literatur, der andere Weg führte über Gogol und Dostojewski zu einer Literatur der Fragen und der Poesie. Das war ihr berühmtes „Gäbelchen“, und zur Bekräftigung schlug sie mit der Kuchengabel gegen das Wegdwood-Geschirr. Dieser Literatur gehörte ihr Herz: Sie wollte es mit Dostojewskij klopfen hören, mit Puschkin singen und mit Bunin klagen. Und sie nahm ihre Autoren beim Wort: aus „Schuld und Sühne“ wurde „Verbrechen und Strafe“, aus den „Dämonen“ „Böse Geister“. War sie einmal zufrieden, gab es Rinderbraten in russischer Soße und als Dessert den Novalis-Satz, dass am Ende doch alle Poesie Übersetzung sei. War aber eine Übersetzung abgeschlossen, kochte sie ein Mahl aus dem fertig übertragenen Roman naturgetreu nach: ein Braten wurde dann zum Beispiel mit Rosinen gespickt, um die Fliegen, die über dem Tisch eines Übeltäters kreisten, wiederzugeben. Welt wie Sprache leben von Details.
Sie liebte Textilien, Teppiche, Brokat. Ein etwas ruhigeres Eckzimmer hieß nach einem tiefblauen Bildteppich mit leuchtenden Tiermotiven das „Drachenzimmer“. Es war schmal, eigentlich eine Kammer, aber die Opulenz des Stoffes machte aus ihm einen Salon. Auf den Fensterbänken standen kleine geschnitzte Bären, Kinderspielzeug, wie es seit Jahrhunderten im Winter an langen Abenden geschnitzt worden ist – darunter manches Mitbringsel aus der verlorenen Welt im Osten hinter den Tannen. Auf den Treppenstufen standen überall Bücher, und wer nicht vorsichtig ging, löste Lawinen aus.
Das Drachenzimmer war auch ihr letztes Lager. Als wollte sie uns eine Lektion erteilen, lud sie Verwandte, Freunde und Zeugen ihrer täglichen Arbeit ein. Jeder sollte ihr etwas vorlesen, die Lieblingsstelle aus einem Buch, von der man hoffte, dass sie auch zu ihren Lieblingsstellen gehörte. Und während man las, geschah etwas Seltenes: Aus der vorweggenommenen Trauer wurde Trost – wegen all der Fülle, die wir zusammen erlebt hatten. Auch diese letzte Kunst beherrschte sie.
Swetlana Geier verdanken wir nicht nur einen frischen Blick auf die sprachliche Kunst Dostojewskijs, ihr Leben selbst war eine Hommage an das Übersetzen. Ihre „fünf Elefanten“, die großen Romane Dostojewskijs, brachte Vadim Jendreyko in den Titel seines mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilms (https://5elefanten.ch/de/). Hier kann man alles sehen, das Haus, die Tannen und die Bücher. Aber vor allem erlebt man eine Frau, für die ihr Leben und ihre Aufgabe, ihre Familie und ihre Arbeit eins ist: die Erfüllung, die man am eigenen Leib spürt, wenn sie im Film endlich wieder in der Kathedrale in Kiew steht, lässt keinen Betrachter daran zweifeln, dass ihr Leben aufgegangen ist. Am 7. November 2010 öffnete sie die letzte Tür, am 26. April 2023 wäre sie hundert Jahre alt geworden.