Brief an die Leserinnen und Leser
Ich folge der Einladung, diese Zeilen zu schreiben, mit derselben Freude, mit der man die Einladung eines alten Freundes annimmt, sich zu treffen und über die eigenen Dinge und die des Lebens zu plaudern. Jene unter euch, die meine in Deutschland erschienenen Bücher gelesen haben, wissen, dass mein Schreiben immer von der Sichtweise des Gestalttherapeuten geprägt ist, der ich bin, und von meiner Leidenschaft für Märchen und Legenden aus aller Welt.
Theseus erhält den Auftrag, von Athen nach Kreta zu segeln, um seine geliebte Ariadne zu retten. Um eine sichere Rückkehr zu gewährleisten, nimmt unser Held Tausende von Holzplanken mit an Bord, die eins zu eins mit jenen identisch sind, aus denen das Schiff in Athen gebaut wurde.
Tatsächlich werden die Schiffsplanken während der langen Überfahrt marode und nach und nach durch eine perfekte Kopie ersetzt.
Nachdem Theseus den Minotaurus getötet hat, wird er bei der Rückkehr nach Athen als Held empfangen. Sein Schiff wird an Land gebracht und als Symbol für Theseus’ Heldentaten und als Erinnerung an seine Abenteuer auf dem zentralen Platz der Stadt ausgestellt. Ausnahmslos alle Schiffsplanken wurden durch neue er setzt, vom Original ist paradoxerweise nur der Anker geblieben. Plutarch stellt sich die Frage, ob dieses ausgestellte Schiff eigentlich noch das Schiff des Theseus ist.
Die Veränderungen, deren Zeugen wir werden, sind so tiefgreifend und gehen so schnell und oft auch überraschend vonstatten, dass wir den Eindruck gewinnen, die Welt sei eine andere geworden. In den vergangenen siebzig Jahren hat sich mehr verändert als in den sieben Jahrhunderten zuvor, und das erschwert natürlich jeden Versuch einer Prognose für die Zukunft. Jeder Blick nach vorn hängt von einem genauen Blick auf die gegenwärtige Realität ab. Aber welcher Realität? Welcher Gegenwart?
Unsere Kultur, unsere Geschichte und unser Erleben sind nur eine Randnotiz im großen Buch der Menschheitsgeschichte.
Im Grunde genommen gleichen wir dem Schiff aus der Sage. Nicht nur unsere Reisegefährten, unsere Empfindungen und Vorstellungen ändern sich; selbst die Materie, aus der wir bestehen, ist nicht mehr dieselbe. Tagtäglich sterben Hunderttausende von Zellen, Gewebe und Strukturen in uns ab und werden durch neue ersetzt. Keines der roten Blutkörperchen, die unser Gewebe versorgen, wird in drei Monaten noch am Leben sein, und in sieben oder zehn Jahren ist nichts mehr von dem übrig, was wir einmal waren. Und doch sind wir für uns selbst, für die anderen und für die Geschichte immer noch ein- und dieselbe Person. Wenn wir nicht die Materie sind, aus der wir bestehen, was sind wir dann? Wir sind Information, wir sind Erinnerung, wir sind Kultur, wir sind der Knoten, der die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet, ureigen, flüchtig und schwer fassbar.
Die Welt, in der wir leben, ist wie ein großes Schiff des Theseus. Manches ist nicht mehr da, vieles hat sich verändert, und die Auswirkungen dieser Realität haben auch uns verändert.
Jenseits des Greifbaren verändern wir uns, ersetzen einige Dinge durch andere, wir lieben und hören auf zu lieben, wir wachsen und altern. Wir sind nicht mehr dieselben wie gestern, und auch die anderen um uns herum sind es nicht. Die Ideale, Normen, Prinzipien und Werte, die wir teilten, sind außer Sicht geraten und wurden wie die Planken von Theseus’ Schiff durch andere ersetzt.
Halten wir einige Punkte fest, die man berücksichtigen sollte.
Auf dieser neuen Etappe der Reise sind Ziele wichtiger geworden als ihr tieferer Sinn, Ergebnisse sind wichtiger geworden als der Weg dorthin, Applaus ist wichtiger geworden als das Erreichte (das soll nicht heißen, dass es gut wäre oder mir gefiele, aber das ist die Realität, die ich sehe).
Dies scheinen keine Zeiten für mutige Kämpfer zu sein, sondern für gewiefte Anführer, die, unterstützt von dem neuen Bedürfnis nach Zugehörigkeit, die breite Masse leiten, um das zu erreichen, was von der Mehrheit gewünscht wird, und zwar auf dem schnellsten und sichersten Weg (am besten sofort!). Manchmal gehen dabei die persönliche Erfüllung, die eigenen Träume und die Beschränkungen durch jene Moral verloren, die fast in Vergessenheit geraten ist.
Das Leben aller hat sich verändert, ebenso wie die Werte, die wir vertreten. Wir fragen uns weiterhin, wo wir das Glück finden können, doch die Antworten sind andere geworden.
Im Jahr 1938 startete eine Gruppe von Wissenschaftlern der Harvard Universität eine Studie über das Glück, die sich das ehrgeizige Ziel gesetzt hatte, eine Gruppe von Probanden mit unterschiedlichem Hintergrund über einen Zeitraum von hundert Jahren hinweg zu ihrem Leben, Erfolgen, Misserfolgen, Vorhaben und Projekten zu befragen. Die letzte Frage für alle lautete:
Auf einer Skala von Null bis Zehn: Wir glücklich sind Sie in Ihrem Leben?
Im Jahr 2018 war die Studie abgeschlossen, und die wissenschaftliche Kommission präsentierte die vorläufigen Ergebnisse.
Allen – und das ist die wichtigste Erkenntnis –, die sich eine hohe Punktzahl gaben, war gemeinsam, dass es ihnen gelungen war, warme, fließende Beziehungen zu an deren aufzubauen und aufrechtzuerhalten, insbesondere innerhalb der Familie. Alle anderen beruflichen oder finanziellen Erfolge wurden als erfreulich, aber nicht entscheidend bewertet.
Am anderen Ende der Skala mit den niedrigsten Punktzahlen befanden sich diejenigen, die dauerhaft oder über einen längeren Zeitraum hinweg in einer Stresssituation leben oder lebten (das heißt, in ständiger Alarmbereitschaft oder stets bereit, entweder zu kämpfen oder die Flucht zu ergreifen).
Um auf uns selbst zurückzukommen: Wie können wir unsere weitere Reise durch die Wirklichkeit gestalten, ohne in sinnloses Dauerklagen zu verfallen?
Ein guter Ausgangspunkt, auf den die Harvard-Studie zu verweisen scheint, ist die Erkenntnis, dass wir akzeptieren müssen, dass wir gesellige Wesen sind und uns nicht selbst genügen. Niemand kann sich selbst retten, selbst wenn er außergewöhnliche individuelle Fähigkeiten entwickelt und trainiert.
Um die Schwierigkeiten zu bewältigen, die uns im Leben erwarten, müssen wir uns im Einklang mit den anderen vorwärtsbewegen, an der Unterstützung der anderen und mit der Unterstützung durch die anderen arbeiten. Oder wie der argentinische Dichter Atahualpa Yupanqui sagte: Letztendlich bist du nichts anderes als ich in der Haut eines anderen.