Ara
»Vom Rotschillernden Blauara Anodorhynchus purpurascens ist nichts geblieben, kein Balg, kein Skelett, keine Feder. Berichte von Missionaren und Forschungsreisenden bezeugen seine Existenz im 17. und 18. Jahrhundert auf Guadeloupe. Die detaillierteste Schilderung seines Gefieders stammt jedoch aus dem 16. Jahrhundert und zeigt den Ara als zahmes Geflügel brasilianischer Küstenindianer. Wir verdanken sie dem französischen Calvinisten Jean de Léry, der von März bis Januar bei den Tupinamba lebte.
›Die Federn des von den Wilden Arat genannten Vogels‹, schreibt Léry in seiner Histoire d’un voyage faict en la terre du Brésil, ›sind an den Schwingen und am eineinhalb Fuß langen Schwanz zur Hälfte so rot wie feiner Scharlach und zur anderen Hälfte (der Schaft in der Mitte jeder Feder trennt immer die gegenüberliegenden Farben der beiden Seiten) von so funkelndem Himmelblau wie das feinste aller vorstellbaren Gewebe, und außerdem ist der ganze übrige Körper tiefblau: wenn dieser Vogel in der Sonne sitzt, wie es seine Gewohnheit ist, kann sich das Auge an ihm gar nicht sattsehen.‹ Größer als ein Rabe sei dieser Papagei und etwa gleichgroß wie der blaugelbe Canindé, dessen Schönheit von den Tupinamba häufig in Liedern besungen werde. Léry vergleicht das Canindé-Federkleid an Rücken, Flügeln und Schwanz mit veilchenblauem Damast, an Hals und Bauch mit goldenem Tuch. Im ganzen Erdkreis könne man kein bewunderungswürdigeres Gefieder finden als das dieser beiden Aras. ›Und im übrigen halten sich diese beiden Vögel, wiewohl sie keine Haustiere sind, gewöhnlich eher auf den großen Bäumen mitten im Dorf auf, als im Wald; unsere Toüoupinambaoults rupfen sie sorgfältig drei- bis viermal im Jahr (...) und stellen aus diesen schönen Federn Gewänder, Kopfschmuck, Armbänder, Verzierungen hölzerner Degen und andere Dinge her, mit denen sie ihre Körper schmücken.‹
Fast vierhundert Jahre nach Léry besuchte Claude Lévi-Strauss die Indianer Brasiliens. Im Bororo-Dorf Kejara am Rio Vermelho stolperte er eines Morgens über ›klägliches Geflügel: es sind zahme Aras, von den Indianern ermuntert, im Dorf zu leben; diese rupfen sie lebendig und versorgen sich so mit dem Rohstoff für ihren Kopfschmuck. Völlig entblößt und unfähig zu fliegen, ähneln diese Vögel für den Bratspieß zugerichteten Hähnchen, grotesk ausstaffiert mit einem Schnabel, der um so mächtiger wirkt, als sich der Umfang ihrer Körper um die Hälfte verringert hat. Andere Aras, deren Federschmuck schon wieder nachgewachsen ist, hocken würdevoll auf den Dächern – heraldische Embleme in Rot und Blau.‹
Das Ausheben von Nestlingen der in Fels- oder Baumhöhlen nistenden Aras ist ein zentrales Motiv vieler indianischer Mythen. Im Denken der Indianer nehmen diese Papageienvögel nicht nur wegen ihrer schönen Federn einen breiten Raum ein. Die Bororo glauben ›an einen komplizierten Zyklus von Seelenwanderungen; eine Zeitlang sollen sich die Seelen auch in den Aras verkörpern.‹
Die von den Indianern aus dem Nest genommenen, aufgezogenen und niemals eingesperrten Aras hatten keinen Grund davonzufliegen, wenn ihnen nach der Zwangsmauser das Gefieder wieder nachgewachsen war. Auf den Menschen geprägt und von ihm als verwandte Seelen anerkannt, waren sie so zutraulich wie die Tiere im Garten Eden.«
[Aus: Von seltenen Vögeln, S. 37-41]
Bestie
»So menschlich die Bestien, so bestialisch die Menschen.«
[Aus: Affentheater, S. 24]
Chrysiridia rhipheus
»Das Nonplusultra der Prachtentfaltung stellt Chrysiridia rhipheus aus Madagaskar dar, ein tagaktiver Nachtfalter aus der kleinen Familie der Uraniidae. Wie mit Goldfäden durchwirkter Seidenrips muten die Flügel des schönsten aller schönen Irisierer an, die, zwischen samtschwarzen bis schwarzbraunen Flecken, Streifen und Tupfen, in allen Farben des Regenbogens changieren: von Lichtgelb zu Smaragdgrün, von Azur zu Türkis, von Goldgelb zu Orange, von Purpur zu Violett. Auf der Rückenseite der Flügel herrschen kräftige Spektralfarben vor, auf der Unterseite deren zartere Nuancen mit einer sparsameren schwarzbraunen Markierung. Ein winziger weißer Saum aus Fransenschuppen schmückt die Außenkante der Vorderflügel, während sich um alle sechs Schwänze der Hinterflügel pelzchenartig ein etwas längerer Fransensaum schmiegt.
Das phantastische Farbenspiel des im Englischen »Madagascan sunset moth« genannten Falters geht auf zweierlei Wegen aus der Begegnung der Lichtwellen mit Chitinwellen hervor, welche die Deckschuppen bilden. Jede der aus flachem Ansatz der Länge nach fast halbkreisförmig gebogenen Schuppen überwölbt mit ihrem unteren Ende den flachen Ansatz der nächsten Schuppenwelle, so daß sich an der Grenze zwischen der überwölbenden Wellenfront und der nächsten ansteigenden Schuppenwelle eine tiefe Talrinne ergibt, die sich vor und hinter den regelmäßig angeordneten Wellenreihen entlangzieht. In der Schuppe nimmt die Anzahl der Schichten aus dünnen Blättchen und Luft, wie sie dem Uraniatyp entspricht, mit dem Grad der Schuppenwölbung zu, von nur einer Schicht im flachen Teil bis zu zwölf Schichten im Bereich der stärksten Wellenwölbung. Unter den Wellenschuppen bilden schwarz pigmentierte, fast flache Grundschuppen einen Absorbtionsschirm für das nicht reflektierte Licht. Unter normalem Einfallswinkel wird das Licht auf dem Wellenkamm direkt reflektiert, während es an den Abhängen der Talrinne zwischen den Schuppen, die es in einem Winkel um die fünfundvierzig Grad streift, starker Polarisation unterliegt und interferierend doppelt reflektiert wird – von einem Abhang zum gegenüber liegenden und von dort zurück nach oben. So zeigt das Polarisationsmikroskop in dem von Orange zu Purpur changierenden Bereich auf der Unterseite des Hinterflügels, auf dem Wellenkamm ein schmales purpurfarbenes Band, während die Talrinne als breiter gelber Streifen erscheint. Beide Bänder laufen seitwärts die Schuppenreihe entlang, und weil sie ›zu eng beieinander liegen, um mit bloßem Auge getrennt beobachtet werden zu können, wird die Mischung der beiden unterschiedlichen Farben als die Flügelfarbe an sich wahrgenommen.‹«
Die starke Wölbung der Schuppen war schon C. W. Mason aufgefallen, als er 1927 die optischen Eigenschaften von Chrysiridia mit dem Lichtmikroskop untersuchte. Das Elektronenmikroskop bestätigte später seine Vermutungen über die Mikrostruktur der Schuppen, da es aber den Blickwinkel auf diese verengte, fiel Masons Beobachtung der Schuppenwölbung dem Vergessen anheim. Erst am Ende des Jahrhunderts wandte man sich wieder der im Lichtmikroskop sichtbaren Makrostruktur der Schuppen zu und erkannte, wie maßgeblich sie für das polarisationsbedingte Changieren der Farben ist. Ein Anteil von Streulichteffekten auf den Flügeln gibt allerdings noch immer Rätsel auf. Allein die Frage, welchem Überlebensvorteil das extravagante Farbgefunkel dient, konnte nicht ausbleiben. So komplex das Phänomen, so simpel die Antwort. Da die Chrysiridiaraupe das Wolfsmilchgift ihrer Futterpflanze Omphalea an die Puppe und den Falter weitergibt, gehen die Biologen davon aus, daß die madagassische Motte den Vögeln und Reptilien mit ihren Farben signalisiert: ›Friß mich nicht, ich bin giftig!‹«
[Aus: Sonnenfalter und Mondmotten, S. 126-129]
Darwin
»Im ›Evangelium des Teufels‹, wie Darwin selbst die Evolutionstheorie nannte, ist Erbarmen mit Schwächeren nur zur Genmaximierung vorgesehen. Wenn es dieser nicht dient, können die mitfühlenden Wesen im Überlebenskampf nicht bestehen. Ihre Gene werden, wie die aller Untauglichen, an den »Anpassungsfronten« durch natürliche Selektion ausgemerzt. Sich auf Kosten der eigenen Gene mit fremden Arten gleichzusetzen, wäre nach dieser Logik Voraussetzung des Untergangs. Nichtsdestoweniger beklagen Soziobiologen den Verlust an ›Biodiversität‹ und fordern, daß sich der Mensch als Teil der Natur mit den anderen Lebensformen identifiziere, um so viele Arten wie möglich zu retten. Unklar bleibt, woher die Fähigkeit, sich an die Stelle eines fremden Wesens zu versetzen, überhaupt kommen soll und wie man es anstellt, etwas zugleich vor sich und für sich zu retten.«
[Aus: Von seltenen Vögeln, S. 225f.]
Entschleunigung
»(...) ein hässliches Wort für mein Empfinden, weil es das Schleunige nicht lassen kann.«
[Aus: Wandelwunder ‒ Ein Interview für 114]
Farben
»Auf dem Weg vom erhabnen zum flachen Malen ging mit der Kunst vielschichtigen Bildaufbaus die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten verloren, nach denen sich das Licht je nach Korngröße und Gestalt der Farbkörper beugt und bricht. Wer dem hohen visuellen Gewicht der frühen niederländischen Malerei nacheifern wollte, müßte sich seine Farben nicht nur anreiben, sondern nach alten Rezepten selbst herstellen.«
[Aus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei, München 1999, S. 291]
Gleichberechtigung
»In ihrer Gemeinschaft spielen die fast ständig empfängnisbereiten Weibchen eine maßgebliche Rolle. Zwar sind die Männchen dominant, aber sie bilden keine Koalitionen, während die Weibchen sich dauerhaft verbünden, miteinander futtern und notfalls gegen die Männchen zusammenhalten, weshalb sie als ebenso dominant gelten wie diese – eine seltene Gleichberechtigung in der Menschenaffenwelt. Außerdem sind alle Bonobos, ob Männchen oder Weibchen, ob jung oder alt, jederzeit bereit, sexuelle Kontakte zu knüpfen, sei es zum anderen oder zum eigenen Geschlecht, um auf diese Weise Konflikte zu vermeiden und Spannungen aufzulösen – ›make love not war‹ scheint, wie de Waal bemerkt, ihre Devise zu sein.«
[Aus: Affentheater, S. 192]
Hass auf die Natur und Kultur
»Heute wie damals wird das Blühwillige, Unverwüstliche propagiert und billig feilgehalten. Schon zu Borchardts Zeiten kündigte sich die Ödnis unserer pflegeleichten Gärten an; dieser Tendenz entgegenzuwirken war seine erklärte Absicht. Das taube Lob des ›Unkrauts‹, das uns neuerdings entgegentönt, stellt die Kehrseite der nämlichen Entwicklung dar: Auf beiden Seiten herrscht das Recht des Stärkeren. Ein Garten ist, so Borchardt, ›die räumliche Anlage, in welcher der Mensch seine Beziehung zur Natur als Struktur niederlegt‹. Die sich selbst überlassene Wildnis zum Garten zu erklären, ist eine ›postmoderne‹ Erfindung. Wie in den starren Gärten der Haß auf die Natur regiert, so hat im ›Unkraut‹-Garten der Haß auf die Kultur den Sieg davongetragen.«
[Aus: Das botanische Schauspiel, S. 179]
Impressionismus
»Forscher haben darauf hingewiesen, daß Proust wahrscheinlich das große und das kleine Spargelbild von Manet bei dem Sammler und Kunstkritiker Charles Ephrussi gesehen hat. Vor allem das kleine Gemälde des einzelnen Spargels, dessen Spitze in den sieben Farben des Regenbogens glänzt, verleitete Proust-Interpreten zu der These, daß Manets Darstellung das Vorbild der Spargelschilderung des Dichters gewesen sei. Aber weder die Palette noch die Perspektive stimmen überein, und die Malweise könnte unterschiedlicher nicht sein. Proust hat niemals wie Manet mit breitem Pinsel alla prima gemalt, sondern seine ›Farben‹ wie Vermeer in vielen transparenten und körperhaften Schichten aufgebaut. Die satten Töne der Spargelspitze Manets haben nichts mit den himmlischen Nuancen gemein, dem Irisieren der Farben, die Proust in der fließenden Zeit aufgehen läßt, so daß in der durchsichtigen Haut der fleischigen Knospenblätter das Aufblühen und Vergehen des Sonnenlichts verwewigt scheint. (...) Das Werk von Proust ist nicht malerisch. Auch hat er die Welt anders wahrgenommen als Manet oder die Impressionisten, mit denen man ihn so gern vergleicht. Er schildert nicht den flüchtigen Eindruck, den die Spargel zu dieser oder jener Tageszeit in Marcels Augen hervorrufen. (...) Proust war ein Meister der Kontemplation, die mit dem Wohlgefallen an der eigenen Wahrnehmung unvereinbar ist. Seine Versenkung in die Figuren einer gotischen Vorhalle, in das Gesicht einer Landschaft oder die Seele einer Pflanze ist das genaue Gegenteil der impressionistischen Sicht, die die objektive Gestalt der Dinge und ihr eigentümliches Dasein verschleiert.«
[Aus: Im Licht der Finsternis. Über Proust, S. 51-54]
Kochen
»Als Paar haben sie [die eigenen Eltern] sich sonst immer furchtbar gestritten, aber beim Essen herrschte Frieden. Das ist mir wie ein Wunder vorgekommen, und auch deswegen habe ich selbst immer gerne gekocht. Es ist eine besonders schöne Erfahrung, wenn ich gekocht habe, und die Gäste essen, und es herrscht Schweigen. Das ist das schönste Kompliment.«
[Aus: ZEITmagazin 12/2020]
Lévi-Strauss
Wie [Claude] Lévi-Strauss im dritten Band seiner Tetralogie gezeigt hat, liegt der Ursprung guter Sitten in ›einer Ehrerbietung gegenüber der Welt‹. Es ist eine ›Lektion in Bescheidenheit‹, die uns die wilden Denker mit ihren Mythen erteilen. Sie lehren uns, ›daß eine wohlgeordnete Menschheit nicht mit sich selbst beginnt, sondern die Welt vor das Leben setzt, das Leben vor die Menschen und die Achtung der anderen Wesen vor die Selbstliebe; und daß selbst ein Aufenthalt von ein oder zwei Millionen Jahren auf dieser Erde, da er auf alle Fälle ein Ende haben wird, nicht irgendeinem Volk, und sei es auch das unsere, als Entschuldigung dafür dienen kann, sie sich gleich einem Ding anzueignen und sich darin schamlos und rücksichtslos zu verhalten.‹«
[Aus: Käuze und Kathedralen, S. 14f.]
Metamorphose
»Vergeblich war der Streit um Präformation und Epigenese, denn vorherbestimmte Anlagen und Neubildungen schließen einander nicht aus. Die Raupe ist kein geschlechtliches Wesen, aber in ihrem Körper ist das künftige Geschlecht des Falters festgelegt, und auch dessen Flügel sind in ihrem Inneren als anfangs eingestülpte und später ausgestülpte Imaginalscheiben angelegt. Beides kommt in der Puppe zur Entfaltung, während sich die eigentlichen Raupenorgane, ihre Mundwerkzeuge, ihr Nerven- und Verdauungssystem, vollkommen auflösen. Die dabei freiwerdenden Stoffe dienen, an andere Stellen transportiert, dem allmählichen Aufbau des Schmetterlings mit seinen ganz anderen Organen. Die Energie für diese gewaltige Umwandlung verdankt sich dem Fettkörper, der sich in der Raupe, deren raison d’être das Fressen und Speichern war, gebildet hatte. Man weiß seit einer Weile, welche Hormone die Häutung und die Metamorphose steuern, aber wie die Entstehung des Falters aus der aufgelösten Raupe in der Chrysalide genau vor sich geht, ist noch immer ein Geheimnis.«
[Aus: Sonnenfalter und Mondmotten, S. 27]
Nestlinge
»Seit dreiundzwanzig Jahren verbrachte ich Frühjahr, Sommer und Herbst in diesem Achtzigseelendorf im Norden von Dijon. Es hatte sich in der kleinen Gemeinde schnell herumgesprochen, daß ich eine Vogelliebhaberin bin und keine Mühe scheue, verunglückte, verlassene, hungerleidende Nestlinge aufzupäppeln. Zwei kleine Kohlmeisten waren dort meine ersten Pfleglinge. In meinem kärglich mit einem Registraturschrank und einem verglasten Bücherregal möblierten Büro machten sie ihre ersten Flugversuche. Eine Lampe mit einem Milchglasschirm hing an einer langen, durch einen Porzellanzug regulierbaren elektrischen Leitung von der Decke herab. Der flache Boden des Lampenschirms diente den Meisen als schwankender Landeplatz bei ihren Flugmanövern. Um sie dort zu füttern, mußte ich auf einen Stuhl steigen. Auf dem niedrigeren Registraturschrank wären sie leichter zu erreichen gewesen, aber auf dem schrägen Deckel eines waagerecht darauf abgelegten Leitzordners rutschten sie jedesmal unfreiwillig in den Flug zurück, landeten am Rand des hohlen Ordnerrückens, spazierten geschickt innen an der Hebelvorrichtung vorbei den ›Korridor‹ entlang, steckten neugierig den Kopf durch das ›Bullauge‹ und blickten auf das weiße Meer aus Meisenschiß hinab, das sich im Laufe der Zeit auf dem mit Zeitungen ausgelegten Fußboden angesammelt hatte. Sobald sie meine Schritte im Flur hörten – anderer Leute Schritte nahmen sie nicht zur Kenntnis –, stimmten sie ihr Bettellied an. Kaum öffnete ich die Tür, schon kamen sie auf meine Schulter geflogen und schmetterten mir ihr forderndes ›tuituituii‹ ins Ohr. Nach der Atzung machten sie es sich am liebsten auf meinem Kopf bequem, indem sie meine Haare zu einem flauschigen Nest zurechtzupften. Als sie soweit flügge waren, daß ich sie hinauslassen konnte, mußten sie, wie bei Kohlmeisen Brauch, im Geäst weiter geatzt werden. Sie blieben den Sträuchern und Bäumen rund um mein Haus treu, aber ihr Bettellied sangen sie nun am liebsten hoch oben. Erst wenn der Hunger groß genug war, ließen sie sich herbei, einen Zweig in der Nähe des ausgestreckten Armes ihrer auf einer Leiter stehenden Ziehmutter zum Sitzplatz zu wählen. Sehr ärgerlich war es, wenn dann der sich windende Mehlwurm kurz vor dem Schnabel aus der Pinzette fiel, und äußerst ekelhaft, wenn er in meinem Ärmel landete. Aber schließlich war auch diese mühselige Phase der Meisenaufzucht glücklich beendet, und ich sagte mir: Nie wieder Meisen! Aber man kann sich seine Vögel so wenig aussuchen wie seine Eltern.«
[Aus: Käuze und Kathedralen, S. 105ff.]
Pigmente
»Es standen mir Pigmente zur Verfügung, die erst vor kurzem entwickelt worden sind. Sie bestehen aus beschichteten Glimmerplättchen, die ähnlich wirken wie die Schuppen der Falter, deren Irisieren sich keinem Pigment, sondern dem Spiel des Lichts verdankt. Allein mit diesen Glimmerpigmenten kann man die Details eines Flügels nicht wiedergeben, dazu sind sie zu teigig in ihrer Konsistenz, man muss sie farbigen Pigmenten beimischen. Sie irisieren nicht so stark wie die Strukturfarben der Falter, aber sie irisieren. Leider lässt sich das im Druck nicht wiedergeben.«
[Aus: Wandelwunder ‒ Ein Interview für 114]
Rache
»In wenigen Jahren erstellte L’Héritier in Paris die größte botanische Bibliothek Europas. Er war ein unerschrockener und seiner Wissenschaft leidenschaftlich ergebener Mann, berühmt auch für seine Gerechtigkeit. Die einzige Rache, die er sich erlaubte, war die unter Botanikern so beliebte: Er taufte übelriechende Pflanzen auf den Namen mißliebiger Kollegen.«
[Aus: Das botanische Schauspiel, S. 28]
Schönheit
»Ich fühle mich meiner Zeit nicht sehr zugehörig, und doch sind meine Arbeiten nur als Antwort auf die heutige Zeit zu verstehen. (…) Es ist zeitgemäß, auf die Schönheit der Dinge hinzuweisen, die wir im Begriff sind, zu zerstören und zu verlieren.«
[Aus: ZEITmagazin 12/2020]
Trompe-l’œil
»Für augentäuschende Maler gibt es kein größeres Vorbild als das phantastische Trompe-l’œil der Insekten, das nicht nur die unterschiedlichsten Texturen der Pflanzenwelt bis ins kleinste Detail nachahmt, sondern die Wahrähnlichkeit der in Blüten, Blätter, Rinden oder Äste verzauberten Tiere durch Zeichen des Verfalls erhöht, indem sie mit vorgetäuschten Schadstellen, wie Rissen, Tupfen, schimmligen, faulen oder trockenen Flecken versieht. Solange natura sola magistra die stolze Devise der Maler war, haben sie der großen Augenbetrügerin diese List abgeschaut, weil es im Bild wie im Leben der kleine Makel ist, durch den der entzückte Blick dem Schönen in die Falle geht.«
[Aus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei, München 1999, S. 250]
Unbegreifliches
»Die Mythen, mit denen wir aufgeräumt haben, kehren aus dem Überirdischen wissenschaftlicher Rationalität zurück. Da diese Sphäre dem Laien so unzugänglich ist wie einst die supralunare dem Sterblichen, sind wir auf Popularisierungen angewiesen. Weil wir unfähig sind, die Mystifizierungen des Unvorstellbaren vom blanken Unfug zu unterscheiden, ist uns der Sinn für das Unbegreifliche abhanden gekommen.«
[Aus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei, München 1999, S. 270f.]
Vergangenes
»Das Vergangene ist nicht festgeschrieben, jede Zeit muß es verwandeln und in ihr eigener Weise vergegenwärtigen. ›Ungleich dem Orpheus, gewinnen wir unsere Eurydice durch Rückwärts- und verlieren sie durch Vorwärtsschauen.‹ Der Blickpunkt, in dem das mit Zukunft Begabte im Vergangenen wiedererwächst, verlangt die Distanz.«
[Aus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei, München 1999, S. 285]
Weisheitsliebe
»Techné ist eine Frage der Weisheitsliebe, das Metier des Künstlers eine der Moral.«
[Aus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei, München 1999, S. 286]
Zoo
»Als Bodenbewohner der Savanne ist der größte Affe der Meerkatzenfamilie [gemeint ist der Husarenaffe] mit seinen langen Gliedmaßen der schnellste aller Primaten. Schlimm, wenn ihn der noch schnellere Gepard fängt, und auf andere Weise nicht minder schlimm, wenn man ihn seinem Savannenleben entreißt, um ihn im Zoo zur Schau zu stellen.«
[Aus: Affentheater, S. 61]