»Dieses Buch würde ich immer wieder schreiben«
Nachwort von Ines Geipel
Die Texte von Reiner Kunze und ihr spezieller Schneemoment: die Klarheit, Ruhe, das Uneinnehmbare. Wie die Flocken fallen und die Möglichkeit eines Anfangs mit sich tragen. Die Kunze-Wörter in ihrer Landschaft gleich Kürzeln. Karg, windgegerbt, fragil, ausgesetzt, entschlossen. Einzelne, die nach vorn kippen, in einen inneren Zustand des Freiseins, der doch alles ist. Das Schneeland der Wörter, aus dem die Physis der Zeit kriecht, als wäre sie in ihm konserviert. Etwas ist sofort da. Eine Welt, ein Geschmack, meine alte Verlorenheit.
Reiner Kunze war 43 Jahre, als seine Kurzprosa »Die wunderbaren Jahre« 1976 im Westen erschien. Ein präzise gesetzter Störversuch mit den Mitteln der Literatur, den er noch in der DDR und unter immensem Druck geschrieben hatte. Wie exzeptionell, ja extrem die Lebenssituation des Dichters zu der Zeit war, berichtet unter anderem ein Brief an Monika Schoeller, Chefin des S. Fischer Verlags. In ihm heißt es: »Nach Erscheinen dieses Buches rechnen wir, meine Frau und ich, mit jeder möglichen Maßnahme, die eine Regierung gegen einen Schriftsteller treffen kann. Wir hoffen, dass uns das Schlimmste erspart bleibt, aber auch darauf bin ich vorbereitet. Seien Sie jedenfalls versichert, dass ich meinen Teil gründlich bedacht habe.«
Die Jahre 1975, 1976 in der DDR. Manipulation, Phantasma, Imagologie gehörten zum Doppelgesicht einer ins dritte Jahrzehnt gekommenen Diktatur, die durch Erich Honeckers Machtantritt 1971 ein zweites Mal legitimiert und auch weltweit anerkannt worden war. Ein neuer Status, eine Neuinszenierung, in gewisser Weise auch eine Ästhetisierung von Macht. Nach außen wurden die Bilder bunter, nach innen wurde die Gewalt akkurater, raffinierter, engmaschiger. Auslöser für den Umbau war vor allem Prag 1968. Seine erstickte Revolution hatte auch im Nachbarland DDR Lähmung und Desillusion, bei vielen den Bruch mit dem Projekt Sozialismus bewirkt. Wie diesen Riss überdecken? In seinem Inaugurationsfieber setzte Honecker auf die »Weite und Vielfalt der Kunst«. Für den Rest oder die nackten Tatsachen hatte Stasi-Chef Erich Mielke zu sorgen. Er modernisierte seinen Geheimdienst, stockte personell massiv auf, setzte auf die neu installierten Methoden »Zersetzung« und »Isolation« und damit auf Ungreifbareres, Camoufliertes. Nicht mehr offener Terror wie in den Anfangsjahren der DDR war nun die Gangart, es sollte subtiler, versteckter, unmerklicher zugehen. Subversive Szenen wurden infiltriert und umprofiliert, bis sie politisch unwirksam waren. Kritische Stimmen blieben unveröffentlicht und damit Namenlose.
In dieses Klima der eingenähten Lüge platzierte Reiner Kunze sehenden Auges seine kaltklare Poesie. Knappe Epigramme, Verse mit viel Luft drumherum, schärfste Systemkritik, weit ausgelegtes Schneewörterland. Die DDR und ihre drei Staatshelden: der erste Deutsche im All Sigmund Jähn, der ewig siegende Radfahrer Täve Schur und Adolf Hennecke, der normbrechende Bergbaukumpel. Die DDR und ihre zwei Volkshelden: die Dichter Wolf Biermann und Reiner Kunze. Auf ihre Art säkulare Beichtväter, deren Sätze viele Ostdeutsche wie Lebensbrot kauten, von denen oft jeder Satz gelesen, jeder Vers in- und auswendig gekannt wurde und gleich Schibboleths daherkam, wie sorgsam gehütete Passwörter für das Nahe, Inwendige, Intime. Zwei Wörtermenschen, zu denen man pilgerte, weil ihre Wörter fürs blanke Überleben nötig waren.
Der Binnenraum des Siebzigerjahre-Ostens, der sich offenbar nicht mehr ins Jetzt übersetzen lässt: nicht das Haarscharfe, nicht die inneren Versiegelungen, nicht das Unabänderliche, nicht das Dichtgedrängte vor den knallvollen Sälen, in denen Reiner Kunze aus seinen Büchern lesen würde. Eine infizierte Zeit, wundgebrannt, gestutzt, sinnnervös, enklavisch, nach innen gelenkt. Das seltsame Flackern der Kerzen in den Kirchenräumen, das Vereisen der Sprache, die eingeschlossenen Wörter, das Enge, Gestaute, das hautlos bleiben sollte. In den Unterlagen der Hinweis, dass sich Reiner Kunze Mitte September 1976 in Wickersdorf, in einem kleinen, grenznahen Dorf im Thüringer Wald, aufhielt. Ich war zu der Zeit auch da, als Zehntklässlerin der Internatsschule Wickersdorf. Eine Koinzidenz und zugleich eine Begegnung, die nicht stattfand. Wie auch. Vielleicht ist der Dichter an einem der letzten Sommernachmittage auf dem Oberweg an mir vorbeigelaufen, vielleicht stand er im Dorfkonsum vor mir an der Kasse, vielleicht haben wir dasselbe Stück Himmel angeschaut. Es spielt keine Rolle. Aber ich erinnere mich an den Augenblick, als mir Johanna aus Erfurt ein paar handgeschriebene Blätter in die Tasche stopfte. Wir sprachen nie darüber. Auf den Blättern viel Weiß und ein paar Wortgestalten, die nach vorn wollten. Mein Kunze-Anfang.
September 1976 und die Erstveröffentlichung der Prosa »Die wunderbaren Jahre« in Frankfurt am Main. Sowohl die politische Schaltzentrale in Ost-Berlin als auch der Geheimdienst reagierten akut, verstanden den Text als direkte Kriegserklärung und starteten das volle Programm. Rundumbespitzelung, Postzollfahndung, Paketkontrolle, Fahndungsmaßnahmen, Reisesperren hatte es für Reiner Kunze vorher schon gegeben. Davon berichtet der Operativvorgang »Lyrik«, eine im September 1968 gestartete und über 3791 Stasi-Blatt andauernde Diffamierungskampagne gegen den Dichter. Aber was nun folgte, sollte ihn stabsplanmäßig zum »Fall« machen, zum »Lügner«, zum »Kriminellen«. Eine konzertierte, insgeheim ausgelebte Perfidie und die versuchte Ausstoßung aus dem Einschlusskollektiv Ost.
»Alle Hinweise, die über das Auftreten des Kunze bekannt werden, sind zu dokumentieren, um zielgerichtete Maßnahmen der Zersetzung einzuleiten.« Es war der Freibrief für die angesetzten Stasi-Spezialkräfte, um auf konspirativem Weg die Krankenakte von Reiner Kunze zu entwenden, mittels Geheimdienst-Aktion »Meilenstein 76« in seiner Privatwohnung eine Abhöranlage zu installieren, »eine historisch objektivierte Analyse des Machwerks ›Die wunderbaren Jahre‹« anfertigen zu lassen, eine ausgeklügelte Verratskultur, einschließlich Reinemachfrau und Nachbarn, zu etablieren, die Familie Kunze mittels Verleumdung und offener Hetze verunsichern und an den Rand bringen sollte. In einer Erklärung des Zentralkomitees der SED wurde der Dichter offiziell zum »Staatsfeind« erklärt und nur wenige Wochen nach Erscheinen des Wunder-Buches aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen, was de facto einem Berufsverbot gleichkam. An Reiner Kunze wurde durchexerziert, wozu das System in der Lage war.
Bereits seit 1962 hatte der Schriftsteller im vogtländischen Greiz gelebt. Es brauchte nicht lange und die Residenzstadt mit Schloss, großem Stadtpark und Gründerbauvillen lud sich aufgrund seiner Anwesenheit mit den Worten Poesie, Essenz, Provokation auf. Ein Reizklima, das den Kesselort rasch zur Szene machte. Kern des Greizer Kreises waren zehn bis fünfzehn Visionäre mit einigem Sinn für das Unkalkulierbare, für Exzentrik und Witz. Man kam zusammen, um sich über Kunst, die eigenen Texte und die verstörenden Zeiten auszutauschen. Mit dabei der Dramatiker Klaus Rohleder, der spätere Politiker Arnold Vaatz, der Lyriker Günter Ullmann. 1965 kam auch Manfred, später Ibrahim, Böhme nach Greiz. Ein Mann der großen Inszenierungen und binnen kurzem der Motor des Kulturlebens der Stadt. Durch ihn wurden die Debatten im Kreis intensiver, die Nächte kürzer. Böhme, bald Kreissekretär des Kulturbundes, später Komet an der Spitze der Ost-SPD und beinah erster ostdeutscher Ministerpräsident nach 1989, inspirierte, organisierte, zelebrierte, förderte, brachte die Wachen und Aufsässigen der Stadt zusammen, um sie im selben Atemzug als Stasispitzel dem Geheimdienst auszuliefern.
Bei Reiner Kunze ging er ein und aus. Böhmes Berichte über den ohnehin Bedrängten waren minutiös, privatim, unerträglich. Das galt auch für Günter Ullmann, dessen Leben vom Ausmaß dieses Verrats schwer gezeichnet wurde. Anfang der siebziger Jahre kam auch der in Jena studierende Jürgen Fuchs nach Greiz. Er wollte zu Reiner Kunze, sich mit ihm austauschen, er wollte mit Hilfe der Wörter stören, provozieren und suchte nach einem Kompass, einer Vaterfigur für seine poetische und politische Rebellion. Denn literarischer Widerstand in der DDR blieb ohne jede Tradition und musste sich immer wieder neu aus sich selbst heraus entwickeln, mittels anderer Ästhetiken, anderer Schreibcodizes und Tabus, durch eine andere Art des Schweigens, durch Einzelne, die ihre Angst überwanden und zu Leitsternen wurden.
In den Stasiakten der verfemten Stimmen des Ostens tauchen in den siebziger Jahren immer wieder die beiden Namen Reiner Kunze und Wolf Biermann auf. Wer mit ihren Texten erwischt wurde und sie verteidigte, dem waren hochkarätige Konflikte garantiert. Ihre Karrieren wurden beendet, sie wurden schikaniert, verhört, verhaftet, aus dem Land ausgewiesen. Auf diese Weise wurden die beiden Dichter zum existentiellen Lackmustest für ganze Schreibgenerationen des Ostens. In diesem Sondierungswahn nahm der schmale Band »Die wunderbaren Jahre« als Augenöffner eine Sonderstellung ein. Der Text entschied nicht nur über das Schicksal von Reiner Kunze, sondern auch über das vieler, die sich mit ihm solidarisierten, die ihn zu schützen versuchten und sich neben ihn stellten.
»Die wunderbaren Jahre« beginnen mit sieben kurzen Prosatexten unter dem Titel »Friedenskinder«. Es geht um Heranwachsende, um Sechs- bis Fünfzehnjährige, die im Schatten der Mauer vor allem eins lernen: Spielzeugsoldaten quälen, immerzu schießen, Militärmanöver abhalten, die Welt in Gut und Böse aufteilen. Das Kriegskind Reiner Kunze, Jahrgang 1933, hatte mit seinen Friedenskindern die Kriegsenkel vor Augen, die Generation seiner Tochter, die ostdeutschen Babyboomer, die Mauerkinder. Die Prosa handelt also von uns, von der Generation Mauer, die – wie der Dramatiker Heiner Müller anmerkte –, »Geschichte nicht mehr als Sinngebung des Sinnlosen durch Ideologie, sondern nur noch als sinnlos begreifen kann. Die Generation hat kein Vaterland und keine Muttersprache«. Der Kunze-Blick lag auf den Jungen, der Text aber wurde zum poetischen Zuhause für ein großes Publikum. Lakonische Ministücke, die sich wie eine Flaschenpost durchs Land bewegten. Texte, die nicht existieren und insofern auch nicht ankommen sollten, die es aber gab. Sie kamen an, wurden gelesen, weitergegeben, elektrisierten und verbanden. Nackte, spröde, atemknapp geführte Szenen über Vaterlandslose ohne Muttersprache.
Im ersten Kapitel sieben Variationen auf das Grundthema: Einschluss, Angst, Gewalt, durchkomponiert in einer Fugenwelt. Sechs Friedenskinder, die wie der Dichter selbst letztlich Kriegskinder sind und mittels der siebten Geschichte einer sie verbindenden Conclusio ausgesetzt werden, erzählt und gebündelt in einer Figur – in Gerhard, der einen Tag vor seiner Einberufung vorm Schießen abhaut, an der Grenze abgefangen wird und sich in der Zelle an der Unterhose erhängt. Ein nackter Text, ein nackter Toter, aufgenommen und erinnert durch das fugale Stimmengeschehen. Die Zahl Sieben als Symbol, als Gruppenzahl, als Märchen- und Magieverweis, als Kompositionsmatrix, als Numerologie der ostdeutschen Einschlusswelt. Die Sieben als Sinnbild für ein Land im Land, für nach innen gehende Referenzräume, für seine Lügenrhetorik, seine inneren Kriege, seine Drillmaschine. Die Sieben ist auch im zweiten Zentrum des Textes tief in der Partitur versenkt. Es geht um Prag 68 und seine Folgen, es geht um das Jahr 1975, sieben Jahre danach und die Zeit »ohne Hoffnung, ohne Skepsis«, »die Zeit der stummen Begräbnisse«.
»Die wunderbaren Jahre« und seine 49 Geschichten. »Ich habe mir bei keinem einzigen Text vorher vorgenommen, ihm eine bestimmte Prosaform zuzudiktieren«, schreibt Reiner Kunze. »Die einzelnen Gegenstände haben sich ihre, die ihnen gemäße Form während des Schreibens gewählt.« Daher gibt es das Prosagedicht, das Prosapoem, die Kurzszene, den Stichwort-Bericht, das Flugblatt, die Erzählung, die Kurzgeschichte, den Bühnendialog, die Widmung, Nachdichtungen, und es gibt Texte, die sich jeder Bezeichnung entziehen.
49 Berichte oder auch sieben mal sieben Existentialien, um einen klassischen Textcorso zu einer lebendigen Unwucht zu machen, zu etwas Gebeuteltem, Zerdelltem, zu etwas aus Tiefe, das mit Flaumfedern, Schnee und Himmel spricht. Denn so idiotisch, grotesk, brutal es in dieser Welt auch zugehen mag, so traumwandlerisch sicher, leicht, widerspenstig und freiräumig bewegen sich einzelne Protagonisten durch sie. Indem sie extra laut Musik hören, Tennisschuhe tragen, auf denen sich die Freunde verewigt haben, ihre Schulbeutel mit Liebesbriefen füllen, indem sie ihre Blicke auf den Kopf stellen, sich auf Bordsteine hocken, Hölderlin und die Bibel lesen, kurzum: indem sie das Unmögliche verteidigen.
Man weiß heute nicht mehr, was daran mutig, besonders oder gar oppositionell gewesen sein soll. Aber es war es. Die Jeans, lange Haare, die Bibel auf dem Internatsregal, eine simple Frage oder das Bordsteinhocken konnten genügen, um dem Einzelnen das Genick zu brechen. Kein Studium, keine Reise, kein Traum, keine Liebe. Aus und vorbei. Das leise Nein vieler Kunze-Figuren macht sie so unnachahmlich, so nahe, so gegenwärtig. Figuren aus dem Schneeland der Wörter, die nach vorn kippen, in einen Zustand, in ihre Art Freisein, die nur ihnen gehört. Sie tun, was ihr Autor tut: standhalten, intervenieren, Kontrapunkte setzen und trotzdem spinnen, schweben, hoffen, eine Gegenwelt entwerfen.
»Die wunderbaren Jahre« sind ein Lebenstext und das poetische Lebensuniversum einer Diktatur. Dabei zuallererst ein Buch über Menschen, die sich auf stille Weise entziehen. Ihr Widerstand kommt unmerklich daher. Aber es gibt ihn, wie es »Die wunderbaren Jahre« gibt, als Miniaturen der Zersetzung und als Miniaturen des Stillen. 49 Geschichten, über die sein Autor sagte: »Dieses Buch würde ich immer wieder schreiben.« Es war unabdingbar, ein Text als existentielle Schnittstelle, als Ort der Vergewisserung, eines unsprechbaren Einvernehmens.
Am 3. Dezember 1976 hielt Reiner Kunze in einem Brief an den Literaturkritiker und Herausgeber Jürgen P. Wallmann fest: »Ich selbst bin weiterhin unbehelligt, aber man zieht einen Isolations-Kordon. Freunde, Bekannte (auch sämtliche Pfarrer des Kreises Greiz) werden einzeln verhört, Studenten (es genügt die Tatsache, dass sie aus Greiz stammen!) kommen in die geistige Mangel (Kontakte zu R. K.), ein Student ist tagelang von zwei Fahrzeugen und Personen beschattet worden usw., und in den Redaktionen ist offenbar die R.-K.-Namens-Löschwut ausgebrochen.« Die Situation war unaushaltbar geworden, der Druck immens. Gleichwohl stürmten in diesem kritischen Herbst »Die wunderbaren Jahre« die Bestsellerlisten im Westen, die Resonanz war völlig unerwartet. Am 13. April 1977 siedelte Familie Kunze in die Bundesrepublik über. Nur Tage später äußerte Reiner Kunze in der ARD-Sendung »Report München«: »Wir haben diesen Anfang noch einmal gewagt, eben um nicht resignieren zu müssen.«