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Zwei Briefe von Rebecca Martin

Rebecca Martin, 1990 geboren, hat an der DFFB in Berlin und an der NFTS in England Film studiert. Sie schreibt Romane und Drehbücher und lebt zur Zeit in Frankreich.

12. April 2020

 

Liebe Nonna, 

meistens, wenn ich heute noch einen handgeschriebenen Brief verfasse, ist er an dich adressiert, und oft, wenn ich einen handgeschriebenen Brief zwischen Kontoauszügen und Prospekten entdecke, kommt er von dir. Ich erkenne ihn sofort an deiner Schrift, und an der Art des Umschlags. Ab und zu legst du Ausschnitte aus dem »Guardian« bei, mit Veranstaltungstipps in London. Du sagst immer, London sei eine großartige Stadt für junge Menschen, es gäbe so viel zu unternehmen. 

Nur bin ich jetzt hunderte Kilometer weit weg, und habe noch nicht ausfindig gemacht, wo die nächste Post ist, und vielleicht würde ich sie auch gar nicht benutzen wollen, weil ich es mit der sozialen Distanzierung sehr, sehr ernst nehme. Das ein oder andere Mal habe ich mich gefragt, ob vielleicht sogar zu ernst, aber meine Zweifel und Meinungen muss ich jeden Tag revidieren. Hier in Frankreich ist die Ausgangssperre so streng, dass es eh nicht relevant ist, was ich dazu denke. 

Deine Kinder besprechen, ob sie vielleicht arrangieren können, dass du mit in einen Zoom-Call kommst, nächste Woche, und allein der Gedanke daran erscheint mir schon schrecklich schief. Wie würdest du in einer Handykamera aussehen, wenn sich denn jemand findet, der dir ein Smartphone vor die Nase halten kann? 

Du hast zwar ein Handy, ein kleines Modell ohne Schnickschnack, das du nie benutzt, weil es meistens ungeladen in einer Schublade herumliegt. Manchmal rufe ich dich jetzt auf dem Festnetz an, um mich zu erkundigen, wie es dir geht. (Dir geht es in letzter Zeit nicht immer gut.) 

Ich versuche, mir nicht allzu große Sorgen zu machen. Die Zahlen aus Großbritannien sind alarmierend und ich verfolge angespannt die britische Nachrichtenlage. Du siehst das pragmatisch: Wenn es das Ende ist, dann ist es eben das Ende, und ich rufe erschrocken, dass ich davon nichts hören möchte. 

Die Pandemie wurde offiziell an meinem dreißigsten Geburtstag ausgerufen, ein paar Tage später wären wir eigentlich zu dir gekommen, mit dem Eurostar von Paris und dann mit der South Western Railway Richtung Meer. Als wir telefonierten und du deine Glückwünsche ausgerichtet hast, hieß es noch: Bis in ein paar Tagen, adieu! Zwei Tage später sagten wir die Reise ab. Dann gab der Premierminister eine Ansprache, und dann gingen Schlag auf Schlag die Grenzen zu, die ich in den letzten Jahren so häufig und so gedankenlos, ja, leichtsinnig, überquert habe. 

Vor wenigen Monaten galt meine Aufmerksamkeit noch dem Brexit, und wie er meinen Status in Deutschland ändern würde. Jetzt bin ich nur jeden Tag unendlich dankbar und demütig, dass wir Wohnraum haben, und dass alle, die ich liebe, ebenfalls ein Dach über dem Kopf haben und genügend Raum, um gut aufeinander acht zu geben. 

Bald wirst du 94 Jahre alt werden und ich wäre so gern dabei, mitten im Hochsommer, wenn die Rosen allmählich verblühen. Das wird nicht klappen. Im Moment hoffe ich nur, dass du gesund bleibst, und dass ich bald wieder in deiner Küche mit den Terrakotta-Fliesen und dem Aga-Ofen sitzen kann, die du und mein Großvater damals aus Italien mitgebracht habt. Das Beste daran, viereinhalb Jahre in England gelebt zu haben, ist bestimmt, dass wir so viel gemeinsame Zeit hatten, und dass ich jetzt mehr weiß, wer du bist und was dich umtreibt, wie politisch du bist, wie schnell du bei der University-Challenge und beim Kreuzworträtsel die Antworten weißt, und dass, wenn man dir ein Buch schenkt, man dir am nächsten Tag gleich ein neues schenken kann.

Aber ich habe noch so viele Fragen, und noch so viele Nachmittage, an denen ich mit dir Earl Grey trinken möchte. 

Also pass auf dich auf, bleib noch ein bisschen, ja? 

Deine Rebecca

 

Liebe Grandma S., 

ich habe nachgeschaut, Google sagt, zwischen dir in Australien und mir in Südfrankreich liegen 15.914 Kilometer. 

Seit alles anders ist, frage ich mich öfter als sonst, ob wir uns noch einmal in die Arme schließen werden. Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, warst du noch nicht mal 80. Das ist 13 Jahre her. Gelegentlich höre ich deine Stimme am Telefon, aber du bist keine gute Zuhörerin und es ist zuweilen ermüdend, deinen Selbstgesprächen zu lauschen. Ab und zu hinterlässt du mir einen Kommentar auf meiner Facebook-Wall, so wie letztens, als du meinen Geburtstag verpasst hast. Ehrlich gesagt fällt mir nicht wirklich auf, ob du meinen Geburtstag verpasst, und ich glaube nicht, dass es mir jemals aufgefallen ist. 

In ein paar Monaten wären wir zu dir geflogen, das erste Mal alle zusammen, unsere Eltern und wir drei Schwestern und unsere Freunde. Ich habe schon von den Papageien geträumt, von den weiten Himmeln und der makellosen Form der Frangipaniblüten. Wenn wir es jetzt nicht tun, ist es vielleicht irgendwann zu spät, haben wir gedacht. 

Wir sind nicht sehr optimistisch, dass diese Reise, die also längst überfällig ist, jetzt noch stattfinden kann. Selbst wenn die Regelungen gelockert werden sollten, ist das Risiko für manche von uns wahrscheinlich zu hoch. 

Ich hätte gerne herausgefunden, wie es für dich ist, deine Enkelkinder kaum zu kennen, weil dein ältester Sohn vor all diesen Jahren ans andere Ende der Welt gezogen ist. In deinem Kopf sind wir vielleicht die Kinder und Jugendlichen, die du noch ein bisschen häufiger gesehen hast als die erwachsenen Varianten, zu denen wir geworden sind. 

Und ich hätte gern einmal gefragt, wer du bist und was dich umtreibt, auch wenn ich Respekt davor habe, dass es mir womöglich nicht gefallen wird. Ich würde so gerne noch einmal deine Hand halten, um zu gucken, ob es dich wirklich immer noch gibt, aber ich vermute, du bist nicht der Typ Frau, die gerne ihre Hand halten lässt. 

Wenn du mich fragen würdest, wie ich die Tage hier verbringe, würde ich sagen: Auch wenn alles anders ist, ist mein Alltag nicht anders strukturiert als sonst. Ich arbeite, esse, schlafe, lese oder mache Yoga vor einem Bildschirm. Statt wie sonst zu viel zu reisen oder ins Restaurant und ins Café zu gehen, backe ich jetzt wieder öfter. Ich schaue weniger Serien oder Filme, als ich es vielleicht vermutet hätte. Außerdem lerne ich auf einer App französisch. (Ich mache wenig Fortschritte.)

Wenn du mich fragen würdest, was mir fehlt, würde ich sagen, dass ich meine Freunde vermisse, und am allerschlimmsten, meine Familie. Nicht zu wissen, wie lange ich sie nicht umarmen werde können, ist anstrengend. Aber nichts im Vergleich dazu, wie es den Menschen dieser Welt ergeht, die sich für das Wohl aller gesundheitlichen Risiken aussetzen, deren Existenz bedroht ist, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben, die sich jetzt nicht vor häuslicher Gewalt schützen können, deren Kinderwunschbehandlung abgebrochen wurde, die sich nicht von ihren Angehörigen verabschieden dürfen - das sind nur ein paar der Beispiele, die mir den Magen umdrehen. 

Was mir diese Zeit beigebracht hat, ist, dass ich zu viel Zeit an Orten verbringe, an denen meine Familie nicht ist, und dass ich das in Zukunft ändern möchte. 

Pass auf dich auf. Sobald es geht, werden wir den Ozean überqueren und so tun, als hätte es all die Jahre dazwischen nicht gegeben, und ich zähle die Tage. 

Deine Rebecca

 

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