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»Dass ich schreiben kann, wusste ich bis vor kurzem nicht« - Fiona Williams im Gespräch

Fiona Williams Autorenfoto
© Joseph Williams

Wir sind ständig im Gespräch. Manchmal sprechen wir über große Entfernungen hinweg, im nächsten Moment sind wir im gleichen Raum. Wir sprechen mit engen Vertrauten und fernen Bekannten, mit der Familie, mit Freunden und Kolleginnen. Und mit jedem Gespräch, das wir führen, müssen wir eine Frage aufs Neue beantworten: Wie beginnen? Die Übersetzerin Maria Hummitzsch hat ihr Gespräch mit der von ihr übersetzten Autorin Fiona Williams mit einer naheliegenden, vermeintlich einfachen Frage begonnen. Und Fiona Williams, Autorin von Jahreszeiten, hat auf alle Fragen mit jener Offenheit und Schutzlosigkeit geantwortet, die unsere Gespräche zu einem Ereignis machen – und erzählt vom Lesen, vom Schreiben und wie beides mit ihrem Leben zusammenhängt.

 

 

Maria Hummitzsch: Liebe Fiona, wie schön, dass wir uns nun auf diese Weise noch einmal austauschen können. Und was für eine gute Idee des S. Fischer Verlags, das Erscheinen deines Romans Jahreszeiten mit Hintergrundinformationen und Bildern zu begleiten. Ich bin gern dabei! Fangen wir an:

Dein Debüt The House of Broken Bricks ist im Januar 2024 bei Faber & Faber erschienen. Herzlichen Glückwunsch! Was für ein kluges und sprachlich sattes Buch! Ende März ist es nun in meiner deutschen Übersetzung im S. Fischer Verlag herausgekommen, wo es von Max Farr lektoriert und betreut wurde.

In Deutschland ist es üblich, Menschen bei der ersten Begegnung zu fragen, was sie machen. Die Frage wird verkürzt bzw. vage gestellt, zielt aber darauf, was eine Person beruflich macht. Bei genauerer Betrachtung ist es eine interessante Frage, denn die Antwort – ich mache eine Ausbildung, ich studiere, jobbe, arbeite als XYZ, arbeite gerade nicht, nehme eine Auszeit etc. – verweist auf Aspekte wie Bildungsbiographie, soziale Zugehörigkeit, gesellschaftlichen Status, Lebensstandard und andere mehr, die man niemals direkt erfragen würde. Viele Leser:innen werden Dir jetzt zum ersten Mal begegnen. Welche Frage würdest du dir statt dieser Frage von ihnen wünschen? Was sollten sie über Dich erfahren?

 

Fiona Williams: Liebe Maria, wie schön, von Dir zu hören. Was für eine spannende Idee! Mir gefällt der Gedanke, dass wir uns hin und her schreiben, somit ein echtes Gespräch führen und sehen, wohin es uns trägt.

Deine erste Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn ich bin oft eher schüchtern, wenn ich fremden Menschen zum ersten Mal begegne, weshalb ich im Grunde dankbar bin, wenn mein Gegenüber direkt einsteigt und mich dazu bringt, dass ich mich öffne und erzähle. Hinzu kommt meine Wertschätzung anderer Kulturen. Ich würde nicht wollen, dass sich jemand meinetwegen anders verhält als gewohnt. Wenn mir also die in Deutschland häufig gestellte Frage nach dem, was ich mache, begegnen sollte, würde ich antworten, dass ich aktuell im Fach Kreatives Schreiben an der Universität Exeter promoviere, was auch mich selbst noch immer erstaunt, da ich nicht damit gerechnet habe, an die Uni zurückzukehren. Ich nähere mich dem Ende meines zweiten Jahres als Promovendin, es ist also eine recht trubelige Zeit, in der ich mit dem Schreiben, akademischer Forschung, verschiedenen Veranstaltungen zu meinem Buch und familiären Verpflichtungen jongliere. Meinen ersten akademischen Abschluss habe ich vor vielen Jahren in Biologie gemacht, danach habe ich lange Zeit als Medizinjournalistin für die Pharmaindustrie gearbeitet. Ich hatte das große Glück, dass mir eine erfolgreiche Laufbahn ermöglicht hat, viel zu reisen und in anderen Ländern zu leben, aber je älter ich werde, desto mehr reizt es mich, kreativ zu arbeiten, weil ich diese Arbeit als sinnstiftender und befriedigender empfinde. Ich war schon immer eine begeisterte Leserin, aber selbst zu schreiben, ist noch immer ungewohnt für mich und ich experimentiere sehr gern mit verschiedenen narrativen Formen und zwinge mich dazu, meine Komfortzone zu verlassen.

Maria, es ist mir ein absolutes Rätsel, wie Du einen Text nicht nur durchdringen und übersetzen, sondern ihm dabei auch neues Leben einhauchen kannst, sodass er etwas Einzigartiges und Eigenes bekommt. Mich interessiert, wie Du zum Übersetzen gekommen bist und wie Deine Arbeit als Übersetzerin neben der als Autorin steht?

 

M.: Ich danke Dir für Deine Eindrücke und Gedanken. Und was für ein Abenteuer. Ich bin ein großer Fan positiver Überforderungen, also dem Verlassen von Komfortzonen, dem Lernen neuer Dinge, dem Entdecken neuer Schichten und Versionen des Selbst. Ich finde es bewundernswert, dass Du genau das tust. Niemand hat nur ein Talent, nur ein Interessengebiet, nur die Eignung zu einer spezifischen Tätigkeit, und Dein beruflicher Weg weist sehr unterschiedliche und trotzdem verbundene Teile auf. Das Reizvolle und Erfüllende am Literaturübersetzen hat viel mit dem zu tun, worüber wir gerade sprechen: Dem Umstand und der Möglichkeit, immerzu seinen eigenen Horizont zu erweitern. Jedes Buch will befragt werden, verlangt nach Recherche und Parallellektüren. Die Übersetzung deines House of Broken Bricks (Jahreszeiten) zum Beispiel, das auf schönste Weise von Natur durchdrungen ist, hat mich gezwungen, in enzyklopädische und lexikalische Nachschlagewerke zu Botanik und Astronomie einzutauchen, den Besonderheiten der jamaikanischen Küche und des britisch-jamaikanischen Patois nachzugehen. Ich habe entdeckt, dass einige der erstaunlichsten Tiere durch die Übersetzung ins Deutsche plötzlich die eigenartigsten und unattraktivsten Bezeichnungen erhalten, bspw. die bezaubernd aussehende Kleinlibellenart common bluet, die im Deutschen zur „gemeinen Becherjungfer“ wird.

Als Literaturübersetzerin lote ich verschiedene, mit dem Übersetzen verwandte Tätigkeiten aus – das Leiten von Workshops, das Moderieren von Lesungen und Podiumsgesprächen, das Lektorieren, das Konzipieren von Veranstaltungen rund um das Literaturübersetzen und anderes mehr. Und ja, als Literaturübersetzerin fühle ich mich als Zweitautorin, Autorin bin ich jedoch nicht. Heute, mit 41 Jahren, existiert auf meinem Computer eine persönliche Liste mit Berufen oder allgemeinen Fachgebieten, die mich schlichtweg interessieren und die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben: Denkmalpflege, Bestattungswesen oder Onkologie finden sich darauf. Als ich mein Abitur machte, hatte ich keine solche Liste. Ich hatte keine genaue Vorstellung davon, was ich machen oder werden wollte, und ich verband einfach das, was aus meinem Leben heraus am naheliegendsten schien: Literaturen und Sprachen. Ich studierte Übersetzung (für Englisch und Portugiesisch), Afrikanistik und Psychologie und machte einen Abschluss als Diplomübersetzerin für Fachtexte. Zugleich habe ich sehr früh im Studium gemerkt, dass mich Fachtexte sprachlich nicht reizen, weshalb ich immerzu nach Wegen ins Übersetzen von Literatur suchte. Während eines Auslandsjahres in Brasilien bot mir eine Professorin an, gemeinsam mit anderen Studierenden an der Übersetzung von Erzählungen für eine Anthologie zeitgenössischer brasilianischer Autorinnen mitzuwirken. Und nach dieser Erfahrung gab es für mich kein Zurück. Auf dem dann folgenden beruflichen Weg bin ich immer wieder klugen, großzügigen und inspirierenden Menschen begegnet, die mich an ihren Erfahrungen und Kontakten haben teilhaben lassen, Türen für mich geöffnet und mir Aufträge zugeschanzt haben. Vor allem aber haben sie mich ermutigt, weiterzumachen, dranzubleiben, nicht aufzugeben. Und das habe ich getan. Zu übersetzen und selbst zu schreiben, ist eine Möglichkeit, mehrere Leben in einem zu führen (das gilt auch fürs Lesen). Neben vielem anderen, was Literatur noch bedeutet.

Was bedeutet das Schreiben für Dich?

 

F.: Danke, dass Du mir so viel über deinen spannenden und inspirierenden beruflichen Weg erzählst. Ich bewundere Deine Arbeit und Deine Fähigkeit, Dich so geschmeidig zwischen Sprachen und Themen zu bewegen, das finde ich wirklich unglaublich. Ich war immer frustriert über meine eigenen begrenzten Sprachkenntnisse. Ich spreche nur Englisch und sehr schlechtes Französisch auf Touristenniveau. Aber auch wenn ich kein Deutsch verstehe, hat es mir großen Spaß gemacht, in den Jahreszeiten zu blättern und mir die Struktur der Sätze und die von dir gewählten Worte anzusehen. Es liest sich, als wäre das Buch verzaubert worden, und obwohl ich weiß, was darin steht, ist es auf schönste Weise in etwas Kryptisches und nicht wieder zu Erkennendes verwandelt worden. Allein der Titel Jahreszeiten klingt magisch, da dieses einfache Wort, das sich auch in meinem Mund so wunderschön anfühlt, auf so Vieles verweist.

Um aber auf Deine Frage zu antworten: Ursprünglich gab es für mich kein Schreiben. Ich bin nie durchs Leben gegangen mit dem dringenden Bedürfnis zu schreiben. Im Gegensatz zu vielen Autor:innen, denen ich begegnet bin und die sagen, dass sie schreiben, seit sie einen Stift halten können, und dass das Bedürfnis zu schreiben ein unfreiwilliges ist, da es ihre Existenz begründet. Ich habe mich immer in erster Linie als Leserin gesehen. Ich liebe Bücher und betrachte sie oft als meine Freunde – Begleiter, mit denen ich mir die Zeit vertreibe und schwierige Phasen durchstehen kann. Zudem beobachte ich leidenschaftlich gern andere Menschen. Ich finde es spannend, wie andere Menschen leben und miteinander umgehen. Rückblickend denke ich heute, dass ich wohl Anthropologie hätte studieren sollen. Und dann ist da meine Liebe zu Wörtern, ihrer Herkunft und teils jahrhundertealten Begriffsgeschichte, aber auch, wie sie geformt sind. Doch dass ich schreiben kann, wusste ich bis vor kurzem nicht, und es hat mich selbst wahnsinnig überrascht. Wahrscheinlich lässt sich sagen, dass mein Sprung ins Schreiben das Ergebnis einer Midlifecrisis war. Ich stand kurz vor meinem 40ten Geburtstag, musste den Tod meiner Mutter verarbeiten und suchte dringend nach einem Ventil für den Wirbelsturm der Gefühle, der in mir tobte. Ich hatte mich so sehr auf meine Rolle als Mutter junger Kinder konzentriert, dass ich gar nicht mehr genau wusste, wer ich noch war. Das Schreiben hat mir ermöglicht, alles, was ich in meinem Leben gesehen, gehört und gefühlt habe, zu entwirren. Mein jetziges Alter (48) ist ein großer Vorteil, da ich einen ganzen Berg an Emotionen und Erfahrungen angesammelt habe … als Frau, Tochter, Mutter, Ehefrau, und natürlich als eine Person of Color. Ich weiß nicht, ob ich so viel zu sagen gehabt hätte, wenn ich sehr viel früher mit dem Schreiben begonnen hätte. Aber auch wenn ich das Schreiben immer mehr genießen kann, ist es nicht immer einfach. An manchen Tagen muss ich stundenlang kämpfen, damit die Worte so zum Vorschein kommen, wie ich sie haben möchte, und an anderen Tagen gibt es sehr klare Momente, in denen die Worte einfach so aus mir herausfließen und ich bloß mit ihnen Schritt halten muss. Es ist ein unglaublich tolles Gefühl, wenn das passiert. So als ob ich für einen kurzen besonderen Moment ein inneres Bewusstsein angezapft hätte. Als ich The House of Broken Bricks geschrieben habe, ist Sonnys Stimme besonders mühelos aus mir herausgeflossen. In seinen Teilen konnte ich meine Liebe zur Natur und zu Wortspielereien ausleben. Das Schreiben dieses Buchs hat mir erlaubt, so viel von dem zusammenzubringen, wofür ich brenne: meine Liebe zur Tierwelt, zu Botanik, Landschaften und Astronomie, zum Kochen und dem Zusammentreffen verschiedener Kulturen, außerdem zu den alten heidnischen Traditionen und Ritualen, an denen ich durch mein Leben im ländlichen England teilgehabt habe. Sonny ist im Roman mit Abstand die Figur, mit der ich mich am stärksten identifiziere.

Welche Figur im Buch hat Dich am meisten angesprochen?

 

M.: Ich danke Dir für dein Vertrauen und dafür, dass Du so viel von dem zeigst, was Dich ausmacht und was Dir wichtig ist. Ich kann sehr viel mit Deiner Sicht auf das Schreiben anfangen, damit, wie im Schreiben vieles zusammenkommt, vor allem unsere Wahrnehmung von dem, was das Leben und das menschliche Dasein, die Beziehungen zwischen Menschen und den Umgang von Menschen miteinander ausmacht, aber auch von dem, wie wir auf Sprache, auf verbale und nonverbale Zeichen zugreifen. Und es gefällt mir sehr, wie Du sagst, dass das Schreiben dir ermöglicht hat, alles, was du in deinem Leben gesehen, gehört und gefühlt hast, zu entwirren. Auch der Bedeutung von Erfahrung kann ich viel abgewinnen – ganz gleich auf welchem Gebiet, in welcher Rolle oder Sache. Erfahrung ist ein schwer ermessbares Gut, aus dem man schöpfen kann. Ich bin froh, dass du mit dem Titel zufrieden bist. Im Normalfall wird die Titelentscheidung nicht von Literaturübersetzer:innen, sondern vom Verlag getroffen. Es gibt verschiedene Gründe, die dazu führen können, dass er geändert wird und vom Originaltitel abweicht. Im Fall von The House of Broken Bricks war es knifflig, denn du hast mit „broken bricks“ eine schöne Alliteration geschaffen, die im Buch auch zu einer Metapher für Max’ inneren Zustand wird und darauf zielt, dass auch Menschen als „gebrochen“ gelten können. Eine wörtliche Übersetzung von „broken“ ins Deutsche hätte entweder zu „gebrochen“, „zerbrochen“ oder zu „kaputt“ geführt. Für „bricks“ hätte ich die Wahl zwischen „Ziegel“ (ein jedoch mehrdeutiges Wort, das auch auf Dachziegel verweisen könnte) und „Backsteinen“ (das recht lang und umständlich klingt, auch sehr technisch, zugleich aber sofort die Farbe Rot evoziert) oder aber schlichtweg „Steinen“ (ein recht allgemeines Wort, das nicht zwingend an ein Haus denken lässt) gehabt. Ganz gleich, wie ich mich entschieden hätte, es hätte sich keine reine Alliteration ergeben. Eine andere, ganz allgemeine Besonderheit beim Übersetzen aus dem Englischen ins Deutsche besteht in der Silbenzahl der Wörter, als dem Unterschied der schieren und für die jeweiligen Sprache typischen Wortlänge, die wiederum rhythmische Folgen hat. Das englische Wort „bricks“ besteht aus einer Silbe, das deutsche Wort „Backsteine“ aus drei Silben, „broken“ hat zwei Silben, „gebrochen“ drei. Die wörtliche Übersetzung des Titels und der Versuch, doch einen Anklang an die Alliteration zu schaffen – Das Haus der gebrochenen Backsteine (durch die Flexion des Adjektivs noch einmal länger, nämlich vier Silben lang)  –, hätte einen Verlust auf sowohl klanglicher als auch rhythmischer Ebene bedeutet, und Genitivtitel sind im Deutschen weder originell noch elegant. Darum war mir, aber auch meinem wunderbaren Lektor Max Farr, schnell klar, dass wir eine andere Titellösung finden mussten. Das hat dann zu dem Titel „Jahreszeiten“ geführt, der darauf zielt, dass alles in der Natur und im Leben des Menschen prozesshaft ist, unterschiedlichen Phasen unterliegt, so auch das Verarbeiten bestimmter Gefühle. Und da dein Schreiben um diesen Gedanken kreist, du ihn im Buch verarbeitest und sogar für den narrativen Aufbau des Buches nutzt, so dass alle Figuren diesen Zyklus und diese Transformation durchlaufen, erschien er uns als gute Wahl. Trotz allem ist es natürlich ein großer Eingriff. Ich glaube jedoch, dass wir deinem Originaltitel durch die Änderung klanglich einen Gefallen getan haben :). Und wenn ich so beschreibe, welche Überlegungen zu der finalen Titelentscheidung geführt haben, denke ich an etwas, das ich am Übersetzen schätze und das sich gut auf das Leben übertragen lässt: auf der Suche nach einer Lösung für ein Problem lohnt es sich oft, einen Umweg zu nehmen – weil man unterwegs so viel sieht und lernt. Es mag länger dauern, bis man ankommt, aber im Grunde ist dieser (Um-)Weg das eigentlich Große daran.

Du hast mich gefragt, welche Figur des Romans mich am meisten angesprochen habe. Und auch wenn es eigenartig klingen mag, weil ich wiederhole, was auch Du schon gesagt hast, ist es mit Abstand Sonny. Sonnys Wahrnehmung der Welt und die Sprache, die Du für ihn gefunden hast, ist so intensiv, poetisch und oft unvorhersehbar, ist Gefühl ohne Kitsch, ist mitfühlend und anteilnehmend, aber auch kraftvoll und eigen. Im Deutschen eine Stimme für ihn zu finden, war besonders fordernd und zugleich besonders befriedigend. Aber auch Max hat mich angesprochen. Seine Weichheit, Verunsicherung, seine unschuldige Sicht haben mich berührt. Die Kinder des Buchs haben mich also am stärksten beschäftigt. Spannend, oder? Vielleicht weil Kinder, anders als Erwachsene, nicht kalkuliert agieren. Von den insgesamt vier Hauptfiguren ist Richard, der Vater der Familie, wahrscheinlich die Figur, für die ich die längste Annäherungsphase gebraucht habe. Was hat dazu geführt, dass Du dich in seinen Teilen für eine Erzählinstanz in der 3. Person entschieden hast, anders als bei den anderen Figuren? Und was war Dir als Schwarze Frau und Autorin bei der Ausarbeitung von Tess, der Mutter der Familie, besonders wichtig?

 

F.: Danke, dass du einige der Herausforderungen des Übersetzungsprozesses so detailliert mit mir teilst. Für mich ist es faszinierend zu verstehen, wie es zu dem neuen Titel kam und mehr über die Besonderheiten der deutschen Sprache zu erfahren. Deinem Entscheidungsprozess liegen so viele Überlegungen zugrunde, für die ich Dir dankbar bin. Ich stimme Dir völlig zu, dass einem Das Haus der gebrochenen Backsteine nicht so schön über die Lippen kommt wie das Wort Jahreszeiten. Außerdem freut es mich zu hören, dass Sonny Dir als Romanfigur genauso viel bedeutet wie mir. Ihn zu erschaffen, war besonders erfüllend. Ich stimme Deinen Beobachtungen zu den Kindern Sonny und Max voll und ganz zu. Ihre Teile zu schreiben, war besonders befreiend, da ich durch sie so viel über unsere Beziehung zu Landschaft und Familie erforschen konnte. Beim Schreiben der Teile der Erwachsenen habe ich mich merklich eingeschränkter gefühlt und ich habe länger gebraucht, sie so hinzubekommen, wie ich sie haben wollte.

Um Deine Frage zu beantworten: Richards Teile habe ich aus mehreren Gründen in der dritten Person geschrieben. Erstens wollte ich, dass man Richard anders erlebt als die anderen drei Figuren. Als weißer Mann ist er im Dorf zu Hause. Er ist dort geboren und aufgewachsen, wird darum als „Einheimischer“ betrachtet und macht nicht dieselbe Erfahrung der Isolation und Entfremdung wie der Rest der Familie. Diesen Unterschied wollte ich durch die Wahl der Erzählinstanz hervorheben, die ihn eher auf Distanz hält, so dass er in Bezug auf seine Familie ein Othering erfährt, er also zum Anderen gemacht wird. Ich wollte eine Umkehrung der Realität bewirken, der sich Tess und Sonny und in einem geringeren Maß auch Max ausgesetzt sehen, die im Umfeld des Dorfes als die „Anderen“ betrachtet werden. Außerdem half mir die Darstellung von Richard in der dritten Person dabei, seine Rolle im Verlauf der Handlung zu entwickeln, während ich seine Gedanken und Handlungen vor den Leser:innen verborgen halte. Er ist eine komplexe Figur, und ich wollte nicht, dass die Leser:innen vor dem Ende des Romans zu viel über sein Innenleben erfahren.

Tess zu entwickeln und ihre Teile zu schreiben, war wohl am schwierigsten, obwohl wir viele Erfahrungen teilen. Das Buch ist nicht autobiographisch, aber ich habe einige meiner eigenen Erfahrungen und die anderer Menschen of Color verarbeitet, die auf dem Land leben. Durch Tess wollte ich zeigen, wie kompliziert die Vorstellung von „Heimat“ für Schwarze Brit:innen der zweiten Generation ist. Obwohl ihre Eltern Jamaikaner sind, betrachtet sie sich als Britin, da sie in London geboren ist und ihre Kinder im ländlichen England geboren wurden. Ich wollte kein offenkundig politisches Buch schreiben, aber durch Tess konnte ich mich mit einigen der Fragen beschäftigen, die ich im Zusammenhang mit der Auffassung von Identität habe – wie wir uns selbst identifizieren und wie wir von anderen wahrgenommen werden. Durch ihre Beziehung zu ihrer Mutter und ihrer Schwester wollte ich die Bedeutung des kulturellen Erbes aufzeigen und wie es neben dem „Englischen“ leben und in dieses integriert werden kann, insbesondere über Essen, Kochen und Musik. In Wahrheit sind nationale Identitäten immer im Fluss, und Tess' Herangehensweise an das Kochen mit ihrer unbeabsichtigten Verschmelzung von karibischen und englischen Zutaten verkörpert genau das. Aus der Perspektive einer Frau wollte ich mit Tess die komplizierte Realität der Mutterschaft erkunden und warum Frauen oft ihre Wünsche, ihre Karriere und ihre Handlungsfähigkeit für ihre Familien opfern (müssen).

Neben den Figuren hat es auch Spaß gemacht, verschiedene Dialekte und Sprachvarianten zu erkunden. Durch Tess' Mutter konnte ich mit dem britisch-jamaikanischen Patois spielen und durch die Nachbarn der Hembrys im Dorf konnte ich den Akzent von Somerset abbilden. Ich wollte Dich unbedingt fragen, wie Du an die Übersetzung dieser verschiedenen Varianten des Englischen herangegangen bist und ob es eine besondere Herausforderung war, sie nachzubilden? 

 

M.: Ich bin dankbar für unseren Austausch, durch den ich viele Einblicke in dein Schreiben gewinne und so viel Neues über die Entstehung Deines Buches und die Entwicklung der einzelnen Figuren erfahre. Für mich ist Tess aus all den Gründen, die Du ansprichst, die komplexeste Figur, und es ist nachvollziehbar, dass es Dir schwer gefallen ist, ihre Teile zu schreiben.

Was deine Frage betrifft: Ja, Dialekte und Varietäten, aber auch verschiedene Varianten einer Sprache wie Pidgin, Patois und andere zu übersetzen, ist immer eine große übersetzerische Herausforderung. Würde man sie in Standardsprache übersetzen, würde der Text sehr viel von seiner sprachlichen Färbung und Nuanciertheit verlieren. Dialekt der Ausgangssprache jedoch mit einem Dialekt der Zielsprache zu übersetzen – wie man es in den 50ern und 60ern durchaus gemacht hat – würde den Text völlig anders verorten, weshalb man mittlerweile zu Recht davon ablässt. Welche anderen Optionen verbleiben also? Im Grunde nur wenige Mittel. Man kann mundartliche Stellen zum Beispiel durch starke Mündlichkeit hervorheben, wie ich es beim Übersetzen des West Country Akzents von Somerset getan habe, der bspw. in der Konjugation der Verben viele Spuren des Altenglischen aufweist. Da er im Buch nur in Dialogen, also ohnehin direkt wiedergegebener Sprache auftaucht, wirkt die starke Mündlichkeit natürlich. Die eigentlichen Besonderheiten des West Country Akzents lassen sich jedoch nicht ins Deutsche transportieren, was frustrierend und schade ist. Um das Patois im Text abzubilden, habe ich einen anderen Ansatz verfolgt. Ich wollte keine Kunstsprache für eine existierende natürliche Sprache erfinden. Denn dabei besteht immer die Gefahr – und beim Übersetzen von bspw. African American Vernacular English (AAVE) geschieht genau das sehr oft -, dass die Struktur der Sprache und ihr Vokabular so weit vereinfacht werden, Endungen weggelassen und grammatikalische Besonderheiten so weit heruntergebrochen werden, dass nur noch eine Art Stummelsprache übrig bleibt, die die Sprecher:innen diffamiert und ungebildet statt charmant, cool und rhythmisch definiert klingen lässt. Das wollte ich um jeden Preis vermeiden. Darum habe ich jeden Satz in Patois im Original stehen lassen und ihm eine Variante in Standarddeutsch an die Seite gestellt. Auf diese Weise hat man als Leser:in die Möglichkeit, etwas vom Sound, Rhythmus und der Struktur des britisch-jamaikanischen Patois zu erfahren, ohne inhaltlich etwas zu verpassen. Ich hoffe, diese Entscheidung enttäuscht Dich nicht.

Abschließend möchte ich dich fragen, was von all den Reaktionen auf dein Buch, sei es von deiner Familie, Freund:innen, fremden Leser:innen und Journalist:innen, dich am meisten überrascht hat?

 

F.: Wahnsinn, es gibt so viele Aspekte beim Übersetzen eines Romans, die mir gar nicht bewusst waren. Das unterstreicht, wie viel Überlegung und Abwägung in jede Deiner Entscheidungen einfließt. Ich bin froh, dass ich bei diesem Projekt auf Dein Wissen und Deinen Erfahrungsschatz zählen konnte.  Als ich begann, The House of Broken Bricks zu schreiben, hatte ich keine Ahnung, dass das Buch auf diese Wahnsinnsreise gehen würde. Die ganze Erfahrung der Veröffentlichung meines ersten Romans war sowohl nervenaufreibend als auch aufregend. Es war sehr erfüllend, zu sehen, wie viel das Buch den Leser:innen bedeutet. Es war auch eine große Überraschung für mich mitzuerleben, wie unterschiedlich die Erfahrungen der einzelnen Leser:innen mit dem Buch waren. Einige der herzerwärmendsten Reaktionen kamen von Leser:innen, die sagten, dass das Buch nichts sei, was sie normalerweise lesen würden, aber dass sie, nachdem sie es beendet hatten, am liebsten an den Anfang zurückspringen und es noch einmal lesen wollten. Ich glaube, meine Familie und meine Freund:innen waren einfach erstaunt. Sie wussten, dass ich mich mit dem Schreiben beschäftigte, aber keiner von ihnen wusste wirklich, was ich vorhatte. Eine meiner engsten Freundinnen rief mich an, nachdem sie die ganze Nacht aufgeblieben war, um das Buch in einem Zug zu lesen, und sagte, dass sie in einem Moment wie verrückt geweint und im nächsten laut gelacht habe. Sie ist in der Gegend aufgewachsen, in der die Geschichte spielt, und das Buch hat viele Erinnerungen an ihre Kindheit geweckt. Es hat mich sehr berührt, zu sehen, welche Wirkung das Buch auf sie hatte, und mir wurde klar, dass es beim Schreiben um mehr geht als nur darum, Worte auf eine Seite zu setzen. Es geht darum, Menschen emotional zu erreichen.

Ich möchte Dir ehrlich dafür danken, dass Du dich während dieses Gesprächs mit mir beschäftigt hast. Es war eine tolle Erfahrung und hat mich wirklich zum Nachdenken darüber angeregt, warum und wie ich das Buch geschrieben habe. Ich hoffe, dass wir uns eines Tages im wahren Leben begegnen können, denn ich würde Dich gern persönlich kennenlernen!
 
Ich wünsche Dir alles Gute für die Zukunft!

 

Deine Freundin

Fiona

Fiona Williams ist in Südlondon aufgewachsen, hat eine Farm in Australien betrieben, in Singapur gewohnt und lebt mittlerweile mit ihrer Familie in den Somerset Levels, einem Feuchtgebiet im Südwesten Englands. Sie hat Biowissenschaft und kreatives Schreiben studiert. Für »Jahreszeiten« hat sie schon vor Veröffentlichung den renommierten Bridport Prize gewonnen.

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Zur Autorin

Maria Hummitzsch, 1982 in Magdeburg geboren, studierte in Leipzig, Lissabon und Florianópolis Übersetzung, Psychologie und Afrikanistik. Seit 2011 arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Portugiesischen und Englischen, u.a. von Masande Ntshanga, Chinelo Okparanta und Ayòbámi Adébáyò, und regelmäßig als Moderatorin. Von 2017-2021 war sie 2. Vorsitzende des VdÜ. 2015 begründete ...

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