Der Thomas-Mann-Experte Christoph Schmidt hat schon 1988 darauf hingewiesen, dass der Film, der im Zauberberg skizziert wird, die »aufgeregte Liebes- und Mordgeschichte, die sie sahen, stumm sich abhaspelnd am Hofe eines orientalischen Despoten«, dass das alles auf Sumurun weist, Ernst Lubitschs Film, den Thomas Mann, während er den Zauberberg schrieb, tatsächlich gesehen hat, im Filmtheater am Sendlinger Tor in München.
Aus filmhistorischer Sicht meint man, wenn Sumurun erst einmal identifiziert ist, die selbstgefällige Borniertheit der Beschreibungen kaum fassen zu können. Der Text wertet den Film als ein ganz und gar gewöhnliches Spektakel, dabei war Sumurun in jeder Hinsicht ungewöhnlich – nicht nur, weil der Film sehr teuer war, mit ungeheurem Aufwand inszeniert samt orientalischen Straßenszenen und einem beeindruckenden Herrscherpalast, besetzt mit Pola Negri, Harry Liedtke und Paul Wegener, die im deutschen Stummfilm jener Jahre zu den größten Stars gehörten. Ungewöhnlich war auch, dass Sumurun die Verfilmung einer Pantomime war, eines Spiels ohne Worte von Friedrich Freksa, das Max Reinhardt schon 1909 uraufgeführt hatte, womit der Stoff gewissermaßen bildungsbürgerlich und hochkulturell gut abgesichert war. Natürlich sieht, wer Lubitschs spätere Filme kennt, die unerreicht eleganten und intelligenten amerikanischen Komödien, natürlich sieht man von heute aus anders auf Sumurun, als das die Zeitgenossen taten, die noch nicht wissen konnten, was aus Ernst Lubitsch werden würde in Hollywood. Aber der Umstand, dass diese orientalischen Szenen so elegant stilisiert, so präzise choreographiert waren, ja dass eigentlich die Story, als wäre es Oper oder Ballett, weniger die Hauptsache als vielmehr der Anlass für Bewegungsfreude, Tanz, das Spiel der Körper im Raum und miteinander war, das hätte einem aufmerksamen Zuschauer schon damals auffallen können.
Sumurun kam 1920 in die Kinos, Thomas Manns Kinoszene spielt aber 1908, im zweiten Jahr von Hans Castorps Aufenthalt; damals gab es, wie Peter Zander in seiner gründlich recherchierten Monographie Thomas Mann im Kino schreibt, in Davos zwar ein Kino; es gab aber kein Sumurun, es gab noch überhaupt keine sogenannten abendfüllende Filme; die kamen erst Jahre später auf. Wenn Hans Castorp also damals mit der armen Karen Karstedt wirklich ins Kino hätte gehen wollen, dann hätten sie ein Kurzfilmprogramm zu sehen bekommen, Minidramen, Zauberkunststücke, erste Action womöglich aus Amerika, derbere Vergnügungen, die Hans Castorp und der Erzähler noch heftiger verabscheut hätten.
Oder man betrachtet diesen Anachronismus so, dass man Sumurun als den falschen Film zur falschen Zeit identifiziert, während die Verachtung und Geringschätzung, das sture Desinteresse an den Eigenheiten der Inszenierung den Stand der Kinodebatte im Jahr 1908 ganz gut beschreiben. Damals war sich das gebildete bürgerliche Publikum tatsächlich zu fein für das proletarische Vergnügen, welches das Kino noch fast ausschließlich war.
Und so, schlägt Peter Zander vor, sei die Kino-Episode auch zu lesen: historisch; als Skizze, welche die bürgerlichen Urteile und Vorurteile zu jener Zeit beschreiben wolle, als kleiner, aber notwendiger Teil des großen geistig-ästhetischen Panoramas der Zeit. Warum aber Mann, der doch den ganzen Roman als große Reflexion über die Zeit angelegt hat, über ihr Tempo, ihre Langsamkeit und ihre Unumkehrbarkeit, sich hier einen so krassen Verstoß gegen die Chronologie leistet, ist damit nicht erklärt. Schätzte er das Kino so gering, dass er ihm noch nicht einmal eine Entwicklungsgeschichte zutraute; glaubte er also, ein Film von 1908 habe nicht viel anders ausgesehen als einer von 1920? Oder wollte er, quasi umgekehrt, damit sagen, dass die Ressentiments keine Geschichte haben, dass also vor allem die Verachtung, die sich hier artikuliert, dieselbe geblieben war?
Es lohnt sich, die Passage ein zweites Mal zu lesen. Die harten Urteile klingen nicht milder dabei, aber man ist jetzt versucht, aus dem ablehnenden Gesamtzusammenhang gewisse Momente des Widerspruchs herauszulösen, Halbsätze, die von staunendem Interesse, ja fast vom kurzen Aufblitzen der Begeisterung zeugen; am Schluss ist gar von »Lust« die Rede. Die »kleine Musik«, die dazu gespielt wird, zieht »alle Register der Feierlichkeit und des Pompes, der Leidenschaft, Wildheit und girrenden Sinnlichkeit«. Und wenn »Pracht und Nacktheit« beschworen werden, »Grausamkeit und Begierde« sowie die »verweilende Anschaulichkeit, wenn es die Muskulatur von Henkersarmen zu besichtigen galt«; wenn, nach dem eigentlichen Film noch »Bilder aus aller Welt« vorgeführt werden, was, wie alles andere, vom Text natürlich missbilligt und zugleich aber fast schwärmerisch geschildert wird, »Hahnenkampf auf Borneo, nackte Wilde, die auf Nasenflöten bliesen, das Einfangen wilder Elefanten [...]« – dann ist es fast so, als lehnte sich der Erzähler gegen Hans Castorps Herablassung und Borniertheit auf; als formulierte der Text seinen Einspruch gegen das, wovon er erzählen soll. Als wäre Thomas Mann hier ganz grundsätzlich nicht einverstanden mit Thomas Mann.
Und genau so muss man wohl Thomas Manns Verhältnis zum Kino beschreiben: Kompliziert und widersprüchlich war es immer, und meistens ging der Streit, den Mann da mit sich selber austrug, um das Problem, dass er im Kino einerseits die Sinnlichkeit spürte, die Schaulust, dass er die Schönheit mancher Szene, manches Körpers erkannte. Und dass er andererseits über keine Kriterien, keine Maßstäbe und schon gar keine Theorie verfügte, mit deren Hilfe er diese Wahrnehmung, diese Reize hätte ästhetisch einhegen können und einordnen in die Sphäre der Kunst.