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100 Jahre Zauberberg: Claudius Seidl »Thomas Manns bester Film«

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Die Erfindung des Kinos war ein Schock, der die Künstler aller Sparten erfasste, traf und verstörte – aber die Schockwellen erreichten nicht alle Künste zur selben Zeit, und die Literaten, die seit jeher damit beschäftigt sind abzuwarten, bis das Vergangene sich weit genug entfernt hat, dass man seine Formen und großen Linien erkennen und vermessen kann, die Literaten wurden, wenn überhaupt, sich erst Jahrzehnte später der Wirkung jener Schocks bewusst, die doch längst ihr Schreiben radikal verändert hatte.

      Das Kino war kaum älter als zehn Jahre, da konnte, wer genau hinsah, die Antwort auf die grotesk verformten Körper in den grotesken Filmen des Georges Meliès und auf die Brutalität, mit welcher der damals neuartige Filmschnitt die Räume zerhackte und neu zusammensetzte, in den kubistischen Gemälden der manischen Kinogänger Georges Braque und Pablo Picasso betrachten. Wenig später erkannten die klügeren unter den Surrealisten in den komplett verrückten, grausamen und jeder narrativen Logik spottenden Slapstickfilmen aus dem frühen Hollywood die Geistesverwandtschaft, wenn nicht sogar den wahren und perfekten Surrealismus. Und die Bilder der Neuen Sachlichkeit versteht man besser, wenn man entdeckt, dass deren gewaltsam aus der Umgebung herausgeschnittene Bildformate auch nur das tun, was die Cadragen der Kameras mit den Szenen der Großstadt und der Großstädter machten: sich auf Fragmente konzentrieren, weil das große Ganze für ein einziges Bild zu groß und unübersichtlich geworden war.

      Die Erzähler durften warten, bis auch die Filme das Erzählen lernten. Bis also das erste Staunen über die Tricks und Zauberkünste, die man mit der Kamera veranstalten konnte, vorüber war. Und sich, von Amerika aus, jenes Prinzip durchsetzte, wonach man im Kino, mal mehr, mal weniger wirklichkeitsnah, der Zeit beim Vergehen zuschaut. Und den Menschen dabei, wie sie sich durch diese Zeit bewegen. Und was die Zeit mit ihnen macht. Es war wohl in den späten zehner und frühen zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, zu der Zeit also, da das Kino, um sich seriöser zu geben, immer mehr Dramen verfilmte, als den ersten Schriftstellern auffiel, dass das Kino viel besser episch als dramatisch erzählen könne; dass es also dem Roman verwandter als dem Bühnenstück sei.

      Auch Thomas Mann sah das so. Aber er zog daraus nicht die Konsequenz, die so vielen seiner Kollegen, vor allem den Amerikanern, im Lauf der folgenden Jahrzehnte immer zwingender erschien: Es gibt ganz sicher auch andere, literarische und außerliterarische Ursachen und Auslöser für den lakonischen, coolen, nur Handlungen registrierenden und Dialoge protokollierenden Stil, der fortan populär wurde und die Welt und die Menschen des 20. Jahrhunderts angemessen zu beschreiben versprach. Für die Prosa von Dorothy Parker oder John Dos Passos, Cornell Woolrich oder Ernest Hemingway, der vielleicht nicht der beste, aber der coolste von allen war.

      Ein Auslöser war aber ganz sicher auch eine Erkenntnis, die man wohl so beschreiben darf: dass da jemand ins Kino geht und irgendwann bemerkt, dass die Kamera nichts als zuschauen kann. Sie kann nicht nachdenken, nicht werten oder urteilen, schon gar nicht kann sie hineinschauen in die Köpfe und dort die Gedanken lesen, die Motive entschlüsseln, die Wünsche aufspüren. Sie bleibt an den Oberflächen, sie nimmt nur auf, was ist und sich zeigt. Und trotzdem ist die Wirkung überwältigend. »Sagen Sie mir doch, warum man im Cinema jeden Augenblick weint oder heult wie ein Dienstmädchen«, schrieb Thomas Mann 1928, wobei für ihn das Dienstmädchen eben den Unterschied zu dem von ihm avisierten Publikum bezeichnete. Während es den volksnäheren unter seinen Kollegen mehr um die Stärke des Gefühls ging, das man evozieren konnte, ganz ohne beim Schreiben selbst gefühlsduselig zu werden.

      Man würde Thomas Mann sicher mutwillig missverstehen, wenn man in der verschärften, oft bis zum Äußersten getriebenen und dabei sich selbst ironisch betrachtenden Ironie, wie er sie im Zauberberg praktiziert, ja zelebriert, nur seine, eben ganz andere Antwort auf die Herausforderung des Kinos und des filmischen Erzählens erkennt – zumal er diese Herausforderung ja nie als eine solche beschrieben hat. Aber das perfekte Gegenstück zum lakonischen, kinogeprägten Schreiben ist sie schon – und wenn man als Gegenstand dieses Schreibens nicht bloß die Sprache mit ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten betrachtet, wenn man ganz brav und realistisch sagt, dass der Gegenstand des Zauberbergs die Patienten und Gäste eines Sanatoriums in den Schweizer Bergen, ihre Handlungen und Konflikte und dann und vor allem ihre Gedanken und Gefühle seien: Dann gleicht Thomas Manns Verhältnis zum Gegenstand nicht den coolen Oberflächenbeschreibern unter seinen Zeitgenossen. Vielmehr ist es so anmaßend und fast größenwahnsinnig, wie es damals die despotischen Regisseure des deutschen Kinos waren, Fritz Lang und Ernst Lubitsch vor allem, die von ihren Regiestühlen aus ganze Statistenheere durch den märkischen Sand oder das Studiogelände von Potsdam-Babelsberg herumkommandierten und dabei den Anspruch hatten, ganze Welten und Epochen in ihren Filmen erstehen zu lassen.

      Natürlich wusste Mann, als er den Zauberberg schrieb, dass die Zeit der allwissenden, der gottesgleichen Erzähler vorüber war. Aber wenn er einen Erzähler erfand, der mit ihm, dem Autor, nicht verwechselt werden will, weshalb er dauernd in der ersten Person Plural von sich spricht, gern mit der Ortsangabe »wir hier oben«; wenn dieser Erzähler, einzig dadurch, dass er sich selbst ins Spiel bringt, der Objektivität des auktorialen Erzählens seine Subjektivität und damit seine Fehleranfälligkeit, Unzulänglichkeit, gelegentliche Willkür oder auch Unlust, auf manche Dinge einzugehen, gegenüberstellt: dann ist plötzlich wieder alles möglich, und der Autor muss nicht einmal dafür haften. Dann kann dieser Erzähler alles wissen und zugleich so gut wie nichts; dann kann die Prosa mal spöttisch und mal liebevoll von Hans Castorp berichten und sich im nächsten Absatz jeden Urteils enthalten; dann kann sie behaupten, alles zu wissen und wenig später ahnungslos zu sein; dann kann sie meinen, was sie sagt, und auch wieder nicht; dann kann sie die Zeit raffen, dehnen, anhalten und wieder in Schwung bringen. Dann kann sie nach den höchsten Abstraktionen sich strecken und gleich danach sich herablassen zu den kleinen Running Gags über das Aussehen, den Habitus und die Ausdrucksweise des Personals. Kurzum, dann kann diese Prosa etwas, was das Kino nicht kann, und es gibt allen Grund zu der Vermutung, dass das Thomas Mann auch bewusst war. Als Leser kann einem ganz schwindelig werden von dem Vergnügen, das man dabei hat.

 

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Das kleingehackte Leben

Das Kapitel, in welchem der Zauberberg ins Kino geht, ist »Totentanz« überschrieben; es ist das Kapitel, in dem Hans Castorp, der Held des Romans, sich darauf verlegt, eher aus Neugier als aus tiefempfundenem Mitgefühl, sich ein wenig um die Todgeweihten im Sanatorium zu kümmern, und unter diesen Todgeweihten ist Karen Karstedt eine der traurigsten Figuren, im Grunde so uninteressant, dass Thomas Mann sich selbst beim Erfinden ihres Namens wenig Mühe gegeben hat. Castorp und sein Vetter Joachim Ziemßen führen sie aus, besuchen Cafés und Sportveranstaltungen mit ihr; und dann: »Selbst ins Bioskop-Theater von ›Platz‹ führten sie Karen eines Nachmittags, da sie das alles so sehr genoß.« Es muss fremd und fürchterlich gewesen sein, und der Text lässt aber offen, für wen, außer für Hans Castorp: »eine Menge Leben, kleingehackt, kurzweilig und beeilt, in aufspringender, zappelnd verweilender und wegzückender Unruhe«, was noch einigermaßen ambivalent klingt. Wenig später ist von »schmerzenden Augen« die Rede, weiter unten wird selbst Castorps Mentor, der Humanist Ludovico Settembrini, als Zeuge aufgerufen; »Settembrini, als Mann des Urteils, hätte die humanitätswidrige Darbietung wohl scharf verneinen, mit gerader und klassischer Ironie den Missbrauch der Technik zur Belebung so menschenverächterischer Vorstellungen geißeln müssen, dachte sich Hans Castorp [...].« Und die Abscheulichkeit des Spektakels hat am Ende auch die Zuschauer verdorben: »Das Schweigen der Menge nach der Illusion hatte etwas Nervloses und Widerwärtiges.«

      Es liegt nahe, diese Passage so zu lesen, dass der Erzähler hier, ohne es dauernd explizit zu machen, die Wahrnehmung und die Affekte Hans Castorps referiert, des Hamburgers aus sogenanntem guten Hause, der, neben anderem, auch ein Schnösel ist; und dem schon die schlechte Luft im Kino die Laune verdirbt. Es liest sich aber auch so, als ob der Erzähler hier die Sache nicht viel anders als sein Held betrachte; eine ironische Distanzierung ist nirgendwo zu erkennen. Und es ist jedenfalls nicht sehr weit hergeholt, wenn man hier, ausnahmsweise, auch den Autor in Haft nimmt für die Meinungen seines Erzählers. Was nicht nur daran liegt, dass Thomas Mann diese Passage, quasi als Auskopplung, schon vorab veröffentlichte – so, als hätte er es nicht erwarten können, seine Verachtung des Kinos allseits bekanntzumachen: »Die Hände lagen ohnmächtig vor dem Nichts. Man rieb sich die Augen, stierte vor sich hin, schämte sich der Helligkeit und verlangte zurück ins Dunkel [...].« So spricht der Künstler Mann über etwas, das nicht Kunst sein kann und noch nicht einmal unschuldig-oberflächliche Unterhaltung. Etwas, das offensichtlich eine Gefahr ist, für die Nerven, den Verstand, die Moral.

      Der Thomas-Mann-Experte Christoph Schmidt hat schon 1988 darauf hingewiesen, dass der Film, der im Zauberberg skizziert wird, die »aufgeregte Liebes- und Mordgeschichte, die sie sahen, stumm sich abhaspelnd am Hofe eines orientalischen Despoten«, dass das alles auf Sumurun weist, Ernst Lubitschs Film, den Thomas Mann, während er den Zauberberg schrieb, tatsächlich gesehen hat, im Filmtheater am Sendlinger Tor in München.

      Aus filmhistorischer Sicht meint man, wenn Sumurun erst einmal identifiziert ist, die selbstgefällige Borniertheit der Beschreibungen kaum fassen zu können. Der Text wertet den Film als ein ganz und gar gewöhnliches Spektakel, dabei war Sumurun in jeder Hinsicht ungewöhnlich – nicht nur, weil der Film sehr teuer war, mit ungeheurem Aufwand inszeniert samt orientalischen Straßenszenen und einem beeindruckenden Herrscherpalast, besetzt mit Pola Negri, Harry Liedtke und Paul Wegener, die im deutschen Stummfilm jener Jahre zu den größten Stars gehörten. Ungewöhnlich war auch, dass Sumurun die Verfilmung einer Pantomime war, eines Spiels ohne Worte von Friedrich Freksa, das Max Reinhardt schon 1909 uraufgeführt hatte, womit der Stoff gewissermaßen bildungsbürgerlich und hochkulturell gut abgesichert war. Natürlich sieht, wer Lubitschs spätere Filme kennt, die unerreicht eleganten und intelligenten amerikanischen Komödien, natürlich sieht man von heute aus anders auf Sumurun, als das die Zeitgenossen taten, die noch nicht wissen konnten, was aus Ernst Lubitsch werden würde in Hollywood. Aber der Umstand, dass diese orientalischen Szenen so elegant stilisiert, so präzise choreographiert waren, ja dass eigentlich die Story, als wäre es Oper oder Ballett, weniger die Hauptsache als vielmehr der Anlass für Bewegungsfreude, Tanz, das Spiel der Körper im Raum und miteinander war, das hätte einem aufmerksamen Zuschauer schon damals auffallen können.

      Sumurun kam 1920 in die Kinos, Thomas Manns Kinoszene spielt aber 1908, im zweiten Jahr von Hans Castorps Aufenthalt; damals gab es, wie Peter Zander in seiner gründlich recherchierten Monographie Thomas Mann im Kino schreibt, in Davos zwar ein Kino; es gab aber kein Sumurun, es gab noch überhaupt keine sogenannten abendfüllende Filme; die kamen erst Jahre später auf. Wenn Hans Castorp also damals mit der armen Karen Karstedt wirklich ins Kino hätte gehen wollen, dann hätten sie ein Kurzfilmprogramm zu sehen bekommen, Minidramen, Zauberkunststücke, erste Action womöglich aus Amerika, derbere Vergnügungen, die Hans Castorp und der Erzähler noch heftiger verabscheut hätten.

      Oder man betrachtet diesen Anachronismus so, dass man Sumurun als den falschen Film zur falschen Zeit identifiziert, während die Verachtung und Geringschätzung, das sture Desinteresse an den Eigenheiten der Inszenierung den Stand der Kinodebatte im Jahr 1908 ganz gut beschreiben. Damals war sich das gebildete bürgerliche Publikum tatsächlich zu fein für das proletarische Vergnügen, welches das Kino noch fast ausschließlich war.

      Und so, schlägt Peter Zander vor, sei die Kino-Episode auch zu lesen: historisch; als Skizze, welche die bürgerlichen Urteile und Vorurteile zu jener Zeit beschreiben wolle, als kleiner, aber notwendiger Teil des großen geistig-ästhetischen Panoramas der Zeit. Warum aber Mann, der doch den ganzen Roman als große Reflexion über die Zeit angelegt hat, über ihr Tempo, ihre Langsamkeit und ihre Unumkehrbarkeit, sich hier einen so krassen Verstoß gegen die Chronologie leistet, ist damit nicht erklärt. Schätzte er das Kino so gering, dass er ihm noch nicht einmal eine Entwicklungsgeschichte zutraute; glaubte er also, ein Film von 1908 habe nicht viel anders ausgesehen als einer von 1920? Oder wollte er, quasi umgekehrt, damit sagen, dass die Ressentiments keine Geschichte haben, dass also vor allem die Verachtung, die sich hier artikuliert, dieselbe geblieben war?

      Es lohnt sich, die Passage ein zweites Mal zu lesen. Die harten Urteile klingen nicht milder dabei, aber man ist jetzt versucht, aus dem ablehnenden Gesamtzusammenhang gewisse Momente des Widerspruchs herauszulösen, Halbsätze, die von staunendem Interesse, ja fast vom kurzen Aufblitzen der Begeisterung zeugen; am Schluss ist gar von »Lust« die Rede. Die »kleine Musik«, die dazu gespielt wird, zieht »alle Register der Feierlichkeit und des Pompes, der Leidenschaft, Wildheit und girrenden Sinnlichkeit«. Und wenn »Pracht und Nacktheit« beschworen werden, »Grausamkeit und Begierde« sowie die »verweilende Anschaulichkeit, wenn es die Muskulatur von Henkersarmen zu besichtigen galt«; wenn, nach dem eigentlichen Film noch »Bilder aus aller Welt« vorgeführt werden, was, wie alles andere, vom Text natürlich missbilligt und zugleich aber fast schwärmerisch geschildert wird, »Hahnenkampf auf Borneo, nackte Wilde, die auf Nasenflöten bliesen, das Einfangen wilder Elefanten [...]« – dann ist es fast so, als lehnte sich der Erzähler gegen Hans Castorps Herablassung und Borniertheit auf; als formulierte der Text seinen Einspruch gegen das, wovon er erzählen soll. Als wäre Thomas Mann hier ganz grundsätzlich nicht einverstanden mit Thomas Mann.

      Und genau so muss man wohl Thomas Manns Verhältnis zum Kino beschreiben: Kompliziert und widersprüchlich war es immer, und meistens ging der Streit, den Mann da mit sich selber austrug, um das Problem, dass er im Kino einerseits die Sinnlichkeit spürte, die Schaulust, dass er die Schönheit mancher Szene, manches Körpers erkannte. Und dass er andererseits über keine Kriterien, keine Maßstäbe und schon gar keine Theorie verfügte, mit deren Hilfe er diese Wahrnehmung, diese Reize hätte ästhetisch einhegen können und einordnen in die Sphäre der Kunst.

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100 Abschweifungen in alle Welt

Peter Zander hat herausgefunden, dass Mann schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in den bayerischen »Censur-Beirat« berufen wurde, ein Gremium, das es streng genommen gar nicht hätte geben dürfen, nachdem die Weimarer Verfassung die Zensur ja abgeschafft hatte, ein Gremium, dessen Existenz allerdings mit der Notwendigkeit, die Jugend vor allem vor der Pornographie zu schützen, gerechtfertigt wurde. Es wurden Künstler und Architekten, Literaten, Lehrer und Geistliche in dieses Gremium berufen, und die Filme, die sie begutachten mussten und dann freigaben oder eben nicht, hießen zum Beispiel Die sich verkaufen oder Anders als die anderen und waren zum Teil gar nicht so gefährlich, wie es die Titel suggerierten oder versprachen. Bei den beiden genannten führte Richard Oswald die Regie, Conrad Veidt und Reinhold Schünzel spielten, und in den Inszenierungen ging es tatsächlich weniger (wenn auch nicht gar nicht) darum, Prostitution oder Homosexualität zur Schau zu stellen, und mehr darum, soziale Brisanz und politische Geistesgegenwart zu behaupten, was in der neuen Freiheit der unmittelbaren Nachkriegsjahre geradezu ein Trend, eine Mode war.

Entscheidend ist trotzdem, dass Thomas Mann als Mitglied der Kommission eher die zweifelhaften und verdächtigen Filme als ein für den gehobenen bürgerlichen Geschmack vorsortiertes Filmprogramm zu sehen bekam. Und dass diese Erfahrung sein Verhältnis zum Kino prägten. Was ihn ins Kino lockte, blieben die Schaulust und die Sinnlichkeit; auf das Ringen vieler Intellektueller, den Film endlich als Kunst zu etablieren, gab er nichts, die Verehrung für die großen Meister des Zwanziger-Jahre-Kinos, für Fritz Lang oder Friedrich Wilhelm Murnau, interessierte ihn nicht. Und selbst sehr viel später, in Los Angeles, als er zweimal in der Woche ins Kino ging, war Mann von den allseits anerkannten Meisterwerken, von Welles’ Citizen Kane zum Beispiel, nicht sonderlich beeindruckt. Dagegen gefiel ihm Disneys Bambi so gut, dass er sich den Zeichentrickfilm gleich zweimal ansah. Er besuchte Filme weiterhin nach dem Lustprinzip. Er ahnte wohl, dass man mit der alten Genieästhetik, den Der-Künstler-und-sein-Werk-Kategorien die Eigenheit des Kinos nicht zu fassen bekam. Da er, geboren 20 Jahre vor der ersten Filmvorführung, sich von dieser Ästhetik aber nicht einfach verabschieden konnte, zumal ihm sein eigenes Werk auch keinen Grund dafür lieferte, blieb er als Zuschauer und Kritiker des Kinos immer ein Amateur. Was ihn nicht daran hinderte, auf schöne Einnahmen für die Verfilmungen seiner Werke zu spekulieren. Die Tetralogie Joseph und seine Brüder, fand er, eigne sich hervorragend für eine Hollywood-Verfilmung. Jahre der Planungen und Verhandlungen mit Produzenten und Regisseuren liefen allerdings darauf hinaus, dass Harry Cohn, der berüchtigte Chef des Columbia-Studios, nicht einsehen wollte, weshalb er Thomas Mann irgendwelche Rechte abkaufen sollte, wo doch die Rechte an der Bibel frei waren.

      In der Ausgabe vom August 1928 veröffentlichten Schünemanns Monatshefte einen Text von Thomas Mann, der schlicht Über das Kino überschrieben war und den man als Dementi der Kinopassage aus dem Zauberberg lesen konnte. Er war aber eher dessen Komplement, Ausdruck der gleichen, weiterhin zwiespältigen und widersprüchlichen Haltung, nur aus einer anderen Perspektive betrachtet. Der wichtigste Satz über den Film hieß: »Was mich betrifft, so verachte ich ihn auch, aber ich liebe ihn.« Und zu Erläuterung versuchte Mann eine kategorische Unterscheidung zu machen zwischen der Kunst und dem Film, der eben keine Kunst sei. »Die Kunst ist kalte Sphäre, man sage, was man wolle; sie ist eine Welt der Vergeistigung und hohen Übertragung [...] – bedeutend, vornehm, keusch und heiter, ihre Erschütterungen sind von strenger Mittelbarkeit, man ist bei Hofe, man nimmt sich wohl zusammen.« Im Kino dagegen, in der Dunkelheit, lasse man sich gehen, man heule »wie ein Dienstmädchen«, man lasse sich erschüttern, was er aber nicht auf die Dunkelheit zurückführt, in der man sich traut, was man »bei Hofe« unterdrücken würde. Nein, es liege daran, dass man das Kino als »Lebenserscheinung« betrachten und deshalb eher der Sphäre der Wirklichkeit zuordnen solle. Gegen das naheliegende Argument, dass man die interessantesten Filme jenes Jahres, also zum Beispiel Fritz Langs Spione oder Henrik Galeens Alraune, nicht gerade als lebensnahe Werke betrachten würde, setzt Thomas Mann die Beobachtung, dass die Plots noch so albern, sentimental, übertrieben sein können, dass aber im Detail »das Menschliche über die primitive Unwahrhaftigkeit der Gesamtveranstaltung triumphiert«. Womit er, ohne jede filmtheoretische Ambition, eine Einsicht formuliert, die in der Kritik und Theorie des Films erst viel später eine Rolle spielen sollte: dass nämlich das Geschehen, das die Kamera aufnimmt, viel zu komplex ist, als dass sich alles der Fiktion oder auch nur dem künstlerischen Willen eines Autors unterwerfen ließe.

      Seine kategorische Unterscheidung hebt er trotzdem noch im selben Aufsatz auf – wenn ihm auffällt, dass, was ein Spielfilm zeige, ja immer schon vergangen sei; das Kino erzähle also im Imperfekt und sei insofern dem Roman verwandter als dem Drama, was man auch daran merke, dass die Russen, die so gute Erzähler und nicht so gute Dramatiker seien, ein Talent fürs Kino haben. Wenn das stimmt, wird aber das Kino nicht so kunstfern sein, wie im Absatz davor behauptet. Und die Frage, ob jemand, der sich eben doch erschüttern und rühren lässt von der Prosa Thomas Manns, wofür es im Zauberberg ja ganz gute Gelegenheiten gibt – ob so ein Lesen damit die Sphäre der Kunst verlasse: Diese Frage würde Thomas Mann sicher nicht mit einem Ja beantworten.

      Zum Schluss hin entwirft Mann die Vision einer Verfilmung des Zauberbergs, und vermutlich ist ihm, dem Ironiker, selbst klar, dass er hier eher die Unmöglichkeit als die Möglichkeit, den Roman zu verfilmen, beschreibt: »Kühn angegriffen, könnte das ein merkwürdiges Schaustück werden, eine phantastische Enzyklopädie, mit hundert Abschweifungen in alle Welt [...]. Aber man wird verzichten. Die Aufgabe stellt hohe geistige und moralische Ansprüche.«

      Hans W. Geißendörfer hat es gewagt, im Jahr 1982, und gerade dadurch, dass sein Film so streng nach Werktreue strebte; dass im Off ein Erzähler immer wieder wörtlich Manns Text zitierte; dass zum Teil auch die Dialoge zwischen Ludovico Settembrini und Leo Naphta wörtlich übernommen wurden; dass die Rollen so schlüssig und sorgfältig besetzt waren, weshalb mancher, der den Film gesehen hat, sich Clawdia Chauchat fortan immer als die französische Schauspielerin Marie-France Pisier vorstellen wird – gerade dadurch bewies Geißendörfer nur noch einmal die Unverfilmbarkeit. Sein Zauberberg dauert 153 Minuten und ist trotzdem nur die Kompilation der größten Hits aus dem Roman. Interessant für Leser, die das Ganze noch im Gedächtnis haben; aber der Blick aufs eigentliche Thema des Romans, auf die Frage, was das eigentlich sei, die Zeit; und darauf wie Hans Castorp als quasi unbeschriebenes Blatt nach Davos kommt und dort von dieser Zeit beschriftet wird, dieser Blick wird in Geißendörfers Film nicht geöffnet. Schon weil dieser Zauberberg dann zehn und nicht bloß zweieinhalb Stunden dauern müsste.

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Wie übertrifft man die Kamera?

Es war, ausgerechnet, Jean Améry, Liebhaber des Kinos und Feind aller Filmtheorie, der als Erster darauf hingewiesen hat, dass Thomas Mann »cinégen« schreibe; ein Adverb, das ein bisschen prätentiös klingt und trotzdem ganz gut gewählt ist: weil das Suffix »-gen« hier beides bedeuten kann: dass dieses Schreiben vom Kino erzeugt werde; und dass es Kino entstehen lasse. Dass also die »Lebenserscheinung«, die das Kino ihm war, die Schaulust, zu der er sich ja bekannte, die starken Gefühle, derer er sich schämte, dass all das einfloss in seine Beschreibungen. Und dass dabei etwas entstand, dessen Kino-Nähe, Kino-Ähnlichkeit, dessen kinematographische Qualität sich nicht in leichter Verfilmbarkeit erweise, sondern, ganz im Gegenteil, darin, dass es die Möglichkeiten des Kinos geradezu zu übertreffen versuche. Man könnte es, leicht zugespitzt, auch so formulieren: Man kann den Zauberberg nicht verfilmen, weil der Roman schon seine eigene Verfilmung ist.

      Es ist ja nicht so, dass der Ironiker Thomas Mann seine lustvolle und zugleich anstrengende Uneigentlichkeit über 1000 Seiten durchhalten könnte. Es gibt, gewissermaßen, scharfe Schnitte, und dann beschreibt der Text, was wir Leser quasi sehen sollen, und nur manchmal meint man, einen leichten Neid auf die Kameras zu spüren, die, wenn sie die Schauplätze, die Personen, die Gesichter abtasten, dafür nicht nach frischen Begriffen und unverbrauchten Adjektiven suchen müssen. Umso reizvoller, scheint aber der Autor sich selbst zu sagen, kann es sein, im viel umständlicheren Medium der Sprache nach ähnlichen Effekten zu streben. Es fängt schon an, wenn Hans Castorp zum ersten Mal durch die Flure des Sanatoriums geht und es kommen ihm ein Priester und Ministranten entgegen auf dem Weg zu einem gerade Verstorbenen. Man meint da, nicht etwa Geißendörfers harmlose Interpretation der Szene zu sehen, sondern spürt einen Schauder, wie in Kubricks Shining. Es geht weiter, wenn Castorp zum ersten Mal den Speisesaal betritt und das Auge des Textes noch das kleinste Detail der Ausstattung genau betrachtet, als gelte es, ein für alle Mal jenen Satz Tschechows ad absurdum zu führen, wonach ein Gewehr, das erwähnt werde, irgendwann abgefeuert werden müsse. Es gibt Großaufnahmen der Gesichter, Panoramaschwenks durch den Saal; der ganz und gar französische Dialog zwischen Castorp und Madame Chauchat ist in seiner herrlichen Umständlichkeit und Begriffsverliebtheit reinste Nouvelle Vague, avant la lettre, Jean Eustache oder Eric Rohmer. Und wenn die Einladung auf ihr Zimmer sich ausgibt als die Mahnung Claudia Chauchats, er, Castorp, möge nicht vergessen, ihr den Stift zurückzubringen, und mehr gibt es in diesem Kapitel, in dieser Szene dazu nicht zu sagen: Dann ist das eine Ellipse, so elegant und subtil erotisch, wie sie Ernst Lubitsch dann, später in Hollywood, in seinen wunderbaren Komödien inszenierte.

      So könnte man sich durch den ganzen Roman arbeiten und fände Dutzende von Szenen, die ein Drehbuchautor ohne weitere Bearbeitung einfach übernehmen könnte. Die Figuren stellt man sich, schon weil Manns Prosa die Großaufnahme so gut beherrscht, ohnehin leinwandfüllend vor. Nur dass es dabei nichts zu gewinnen gäbe, weil es nur die Rückübersetzung der Kunst in die »Lebenserscheinung« wäre und eine Missachtung der Schönheit, die hier ja dadurch entsteht, dass die Sprache sich mit den Bildern zu messen versucht.

      Erschwerend kommt hinzu, was Thomas Mann anscheinend erst ein paar Jahre später bewusst wurde, als er, in dem kleinen Essay Über das Kino, sich ein paar Gedanken über die mögliche Verfilmung machte. Und schnell merkte, dass dieses Unternehmen letztlich unbezahlbar würde: dass nämlich Romane keine solchen Budgetprobleme haben; und dass eine Passage, in der die Kutschen durch den Wald holpern, ein Wasserfall lärmt oder der Blick über einen Speisesaal voller Menschen streift, beim Schreiben nicht mehr kostet, als es ein paar Seiten tun, in denen der Erzähler sich nur seine eigenen Gedanken macht: Was dann tatsächlich der Triumph des Schriftstellers über »die beschränkten Mittel« (wie es im Zauberberg heißt) des Kinos ist.

      Die einzig angemessene Verfilmung des Romans wäre also womöglich nicht die pompös teure Superproduktion. Sondern ein kleiner Film mit einem so kleinen Budget, dass seine Fertigstellung sich über Jahre zöge. Ein Film, in dem der Darsteller Hans Castorps am Schluss sieben Jahre älter wäre, als er es am Anfang war.

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Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2024/3

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Claudius Seidl

Claudius Seidl, geboren 1959 in Würzburg, war in den 1980er Jahren freiberuflich vor allem als Filmkritiker tätig. Ab den 1990ern war er Redakteur erst beim Spiegel, danach bei der Süddeutschen Zeitung und bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Von 2001 bis 2020 war er Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Heute ist er dort als Autor tätig. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt »Helmut Dietl. Der Mann im weißen Anzug. Die Biografie« (2022) und »Anstiftung zum Bürgerkrieg. Überwiegend politisches Feuilleton« (2024).