Natürlich ähnelt Clawdia Chauchats Methode in keiner Weise jener der offiziellen »Pädagogen« Settembrini und Naphta. Sie bedient sich nicht des Vortrags, der ausgeklügelten, selbstgefälligen Darbietung von Gedanken in Form eines nicht enden wollenden, mit vollkommener Selbstsicherheit artikulierten Redestroms. Obwohl Settembrini und Naphta aus dem Augenblick heraus zu sprechen scheinen, steht im Vorfeld bereits alles fest. Es gibt keine Überraschungen. Ihre Ideen sind unveränderlich, und so leidenschaftlich und eloquent die Worte, mit denen diese zum Ausdruck gebracht werden, auch sein mögen, ihre Unveränderlichkeit wird dadurch nur noch unmissverständlicher. Hans Castorp spürt sogar, dass Sprache für Clawdia Chauchats Methode entbehrlich sein könnte. Dass er zögert, sie anzusprechen, geht auf sein Gefühl zurück, »daß gesellschaftliche Beziehungen zu Clawdia Chauchat, gesittete Beziehungen, bei denen man ›Sie‹ sagte und Verbeugungen machte und womöglich Französisch sprach, nicht nötig, nicht wünschenswert, nicht das Richtige seien ...«. Sie kommuniziert wortlos, durch ihre unverwandten Augen, das Lächeln, den finsteren Seitenblick.
Hier nun folgt eine der vielen außerordentlichen Passagen, in denen Hans Castorp sie aufmerksam betrachtet:
Noch niemals hatte er Frau Chauchats Gesicht so nahe, so in allen Einzelheiten klar erkennbar vor sich gehabt: er hätte die kurzen Härchen unterscheiden können, die sich aus dem Geflecht ihres blonden, ein wenig ins Metallisch-Rötliche spielenden und einfach um den Kopf geschlungenen Zopfes lösten, und nur ein paar Handbreit Raum war gewesen zwischen seinem Gesicht und dem ihren in seiner wundersamen, ihm aber von langer Hand her vertrauten Bildung, die ihm zusagte wie nichts in der Welt: einer Bildung, fremdartig und charaktervoll (denn nur das Fremde scheint uns Charakter zu haben), von nördlicher Exotik und geheimnisreich, zur Ergründung auffordernd, insofern ihre Merkmale und Verhältnisse nicht leicht zu bestimmen waren. Das Entscheidende war wohl die Betontheit der hochsitzenden Wangenknochenpartie: sie bedrängte die ungewohnt flach, ungewohnt weit voneinander liegenden Augen und trieb sie ein wenig ins Schiefe, während sie zugleich die Ursache abgab für das weiche Konkav der Wangen, das wiederum, von seiner Seite und mittelbar, die leicht aufgeworfene Üppigkeit der Lippen bewirkte. Dann aber waren da namentlich die Augen selbst gewesen, diese schmal und (so fand Hans Castorp) schlechthin zauberhaft geschnittenen Kirgisenaugen, deren Farbe das Graublau oder Blaugrau ferner Berge war, und die sich zuweilen, bei einem gewissen Seitenblick, der nicht zum Sehen diente, auf eine schmelzende Weise völlig ins Schleierig-Nächtige verdunkeln konnten, – Clawdias Augen, die ihn rücksichtslos und etwas finster aus nächster Nähe betrachtet hatten und nach Stellung, Farbe, Ausdruck denen Pribislav Hippes so auffallend und erschreckend ähnlich waren!
Obwohl diese Passage ohne wörtliche Rede auskommt und sich stilistisch deutlich von Settembrinis und Naphtas pädagogischen Monologen unterscheidet, ähnelt sie diesen in ihrer Funktion und Struktur auf bemerkenswerte Weise. Die Ausgestaltung der Leitmotive – Haare, Augen, Wangenknochen – stehen in keinem direkten Bezug zur Handlung. Zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat geschieht in dem geschilderten Moment nichts, nur dies eine: dass uns, unter Hans Castorps aufmerksamem, fasziniertem Blick, Clawdia Chauchats »wundersame[s], [...] aber von langer Hand her vertraute[s]« Gesicht so fremd wird, wie es ihm bereits ist. Von diesem Blick geleitet, widmet er sich in rascher Abfolge erst einfachen, dann komplexen geistigen Operationen: Wahrnehmung, Erkenntnis, Schöpfung. Er zählt die kurzen Härchen, die sich aus ihrem Zopf lösen, oder stellt sich vor, sie zu zählen, misst, wie viel Handbreit ihre Gesichter voneinander trennen, kategorisiert ihre Gesichtszüge, beschreibt in der Sprache von Fläche und Volumen ihre Proportionen, die räumliche Beziehung, in der sie zueinander stehen, und beschwört schließlich Texturen und Nuancen (Augen, die sich »auf eine schmelzende Weise völlig ins Schleierig-Nächtige verdunkeln konnten«), Magie und Metapher (»Kirgisenaugen, deren Farbe das Graublau oder Blaugrau ferner Berge«), so dass Verzauberung und wissenschaftliche Betrachtung miteinander verquickt zu sein scheinen. Die Farbe, die in den Formen verläuft. Die fehlende Präzision der Schattierung verhüllt die Präzision der Umrisse. Alles, was fest erscheint, schmilzt »ins Schleierig-Nächtige [...] – Clawdias Augen, die ihn rücksichtslos und etwas finster aus nächster Nähe betrachtet hatten [...]«. Wir sollten die Wechselseitigkeit dieses Blicks – seine Rücksichtslosigkeit ist eine wiederholte Einladung, ihn zu erwidern – nicht unterschätzen. Ihr Gesicht, das ihm, ohne auch nur ein Wort zu sagen, »zusagte wie nichts in der Welt«.
Was lernt Hans Castorp vom Anblick der Liebe? Nicht zuletzt, wie man zum Sprechen bringt, was nicht spricht, wie man bezaubert, was unerforschlich, unnachgiebig, verboten und dennoch verlockend ist. Die Objekte wissenschaftlicher Betrachtung, das Gesicht und der Körper des Menschen, nehmen übersinnliche Züge an. Zugleich wird der Zauber des Romans durch positivistische Betrachtungen gesteigert und geordnet. »Wissen kann überhaupt nicht schaden«, sagt Hofrat Behrens zu Hans Castorp, als er dem jungen Mann erklärt, wie er Madame Chauchats Epikanthus-Augen gemalt hat. »Sie müssen die Schiefheit und Geschlitztheit zuwege bringen, wie die Natur sie zuwege bringt, Illusion in der Illusion treiben [...].« Anders als Hofrat Behrens dilettiert unser Held nicht in Öl. Sein Medium ist die Vorstellungskraft, unsichtbar und unverfälscht wie kein anderes, begierig, neue Theorien aufzunehmen und auf seine fieberhaften Wahrnehmungen anzuwenden. In einem der Unterkapitel des Romans, »Forschungen«, liest Hans Castorp zunächst in einem skandalösen Heftchen mit dem Titel Die Kunst, zu verführen und greift anschließend zu mehreren embryologischen und biologischen Lehrbüchern, in die er sich vertieft »mit dringlichem Anteil vom Leben und seinem heilig-unreinen Geheimnis«. Später dann widmet er sich seiner Ingenieurslektüre, Ocean Steamships, legt den Band aber beiseite und denkt stattdessen über die große, alles verändernde Frage der Moderne nach: Was ist das Leben? Und indem der Roman diese Frage mehrfach wiederholt, ruft er Hans Castorps Lehrbuchwissen auf, allerdings in der Sprache des skandalösen Heftchens: ein Wissen über die Entwicklung des Lebens als Vorgang von »süß-schmerzlich-genauer Not«, »Lust und [...] Ekel«, als »wollüstig-verstohlene Unsauberkeit«. Wissenschaft – Atome und Anatomie, anorganische und organische Materie, Gesundheit und Krankheit – ruft Erregung hervor, während Erregung geordnet, systematisiert wird. Auf dem Höhepunkt des Kapitels mündet die Abhandlung über Moleküle, Gewebe und Organe in »das Bild des Lebens, seinen blühenden Gliederbau, die fleischgetragene Schönheit«, Hans Castorp umarmt und küsst. Der Arm aus dem anatomischen Lehrbuch verwandelt sich in einen Arm »von unaussprechlicher Süßigkeit«, Haut in »körnige« Haut, Adern in »die beiden Äste der großen Venen« – Beschreibungen, die uns aus Hans Castorps Betrachtungen von Clawdia Chauchat vertraut sind. Der Roman gewinnt aus der Entstehung und der Pathologie des Lebens den Zauber von Leben und Tod zurück und besteht darauf, dass dieser Zauber als Kunst erlernt werden kann.
Die pädagogische Handlung des Zauberbergs zeichnet anschließend eine Bewegung nach, die uns vom Gefühl zum Gedanken, von den unwillkürlichen Reaktionen des Körpers zu den unwillkürlichen Regungen des Geistes führt. Ihr Zauber entfaltet sich nur allmählich und beinah ereignislos, aber stetig in ihrem Rhythmus und ihrer Logik. Wer aus dem Roman lernen, sich aufs engste mit ihm vertraut machen will, muss ihn mit der gleichen Faszination untersuchen wie Hans Castorp Clawdia Chauchat untersucht, muss ein Verständnis für seine Morphologie, das empfindliche Gleichgewicht seiner vielen beweglichen Teile entwickeln und sich den einzigartigen, sinnlichen Illusionen hingeben, die er erschafft.
»Betrachte die wunderbare Symmetrie des menschlichen Gliederbaus, die Schultern und die Hüften und die blühenden Brustwarzen auf beiden Seiten«, sagt Hans Castorp zu Clawdia Chauchat. »[...] laß mich riechen den Duft der Haut deines Kniegelenks, unter der die kunstreiche Gelenkkapsel ihr schlüpfriges Öl absondert!« Ein ungalanter Appell, antihumanistisch noch dazu, eine Zurückweisung jener »schönen Form«, die Settembrini gepriesen hat, weil sie Kritikern und Liebenden »Nobles« und »Höflichkeit« einschärft. Die Geliebte darum zu bitten, an ihrem Knie riechen zu dürfen, ist alles andere als nobel. Doch wie Clawdia Chauchat zu Hans Castorp sagt: In seiner Abstraktion, seiner Gleichgültigkeit den Menschen gegenüber, sei Settembrinis Humanismus unmenschlich. Seine Moral sei unmoralisch, weil sie sich weigere, das Böse in den Blick zu nehmen. »Wenn dich deine Präzeptoren sähen ...«, ruft sie, während er sie weiter bestürmt. Aber sie scheint zu wissen, dass ihn ihre wortlosen Blicke mindesten genauso viel gelehrt haben wie die Worte, die zwischen ihnen gefallen sind.