Doch ein genauer Blick auf diese Erzählung lohnt sich sehr. Wissenschaftler:innen und Ortsansässige, die sich mit Abelke Blekens Fall beschäftigt haben, konnten der Erzählung über sie zuletzt ein wichtiges Korrektiv hinzufügen. Das Bild, das sich dabei offenbart, erzählt nicht nur viel über das Schicksal der Hamburger Bäuerin, sondern auch über das vieler anderer Frauen.
Denn ein wesentliches Ereignis unterschlägt die Sage über Abelke fast vollkommen: Im Jahre 1570 wurde ihr Grundstück sowie die Grundstücke weiterer Nachbar:innen durch die vernichtende Allerheiligenflut derart getroffen, dass der angrenzende Deich brach. Abelke und ihre Nachbar:innen waren nach der Katastrophe vermutlich nicht in der Lage, den zerstörten Deich wiederherzustellen, was nach dem damaligen Deichrecht, das in dieser Gegend herrschte, ihre Pflicht gewesen wäre. Eigentlich war es nach solchen schweren Unglücken üblich, dass die Betroffenen Hilfe etwa in Form von zusätzlichen Arbeitskräften bekamen. Ein gebrochener Deich stellte schließlich eine enorme Gefahr für das ganze Land dar, weshalb Anwohner:innen oft zu Gemeinschaftsarbeiten am Deich verpflichtet wurden. Abelke scheint diese Hilfe nicht erhalten zu haben. In ihrer Notsituation war sie gezwungen, ihren Hof abzutreten.
Schon bald nach der Enteignung gingen Abelkes Grundstück sowie das ihres Nachbarn an den einflussreichen Hamburger Ratsherrn Johann Huge, der beide Ländereien zusammenlegte, um ein großes Gut für sich zu schaffen. Angeordnet hatte Abelkes Enteignung der damalige Deichvogt, der dabei mutmaßlich eigene Interessen verfolgte. Es ist anzunehmen, dass sowohl der Vogt als auch der Käufer Johann Huge sich an Abelkes Not bereichert haben.
Auf den ersten Blick mag Abelkes Schicksal wie ein Einzelfall erscheinen, doch Wissenschaftler:innen, wie etwa die politische Philosophin Silvia Federici, sehen Landenteignungen und Hexenverfolgungen als miteinander in Verbindung stehende Ereignisse. Denn zu der Zeit, als Abelke ihr Grundstück verlor, ereilte das gleiche Schicksal Bauern und Bäuerinnen in ganz Europa. Ausgelöst wurde dieser gewaltvolle Prozess von der Feudalklasse, die zu dieser Zeit überall auf der dringenden Suche nach Land war. Mitte des 16.Jahrhunderts kam die Enteignung und Vertreibung von Bauernfamilien von ihren Grundstücken massenhaft vor und zog eine gravierende Neuordnung sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse nach sich. Bauern und Bäuerinnen, die von ihrem Grund und Boden – ihrer Lebensgrundlage – losgerissen worden waren, gehörten nun zu einer neuen Bevölkerungsschicht von Umherziehenden, Tagelöhnern oder Bettlern.
Federici sieht in der Entstehung des Frühkapitalismus und dem Höhepunkt der Hexenverfolgungen in der frühen Neuzeit eine gemeinsame Quelle, die an dem Punkt entspringt, die Karl Marx als ursprüngliche Akkumulation bezeichnet. Mit diesem Begriff beschreibt er den historischen Beginn der Anhäufung von Privateigentum. Für die Feudalklasse, von der die Enteignung ausging, war dieser Schritt durch eine tiefe Krise notwendig geworden: Legitimations- und Machtverluste, eine massive Inflation angesichts immenser Gold- und Silberimporte aus der »Neuen Welt« drängte Stadtbürger und Adel dazu, Land zu kaufen, Ansprüche an Grundeigentum zu stellen, uneinlösbare Pachten von den Bauern zu fordern mit der Absicht, sie zu verjagen, ihre zum Teil uralten Gewohnheitsrechte aufzuheben oder vielfach willkürlich gemeinschaftlich genutzte Flächen einzugrenzen, selbst zu bewirtschaften und in kommerzielle Güter zu verwandeln. Bauern, die durch diesen Prozess ihre Existenzgrundlage verloren hatten, mussten ihre Arbeitskraft nun verkaufen. Sie wurden Landarbeiter:innen für adelige Großgrundbesitzer, auf fremden Höfen, Lohnarbeiter:innen in der Stadt oder wurden zu umherstreifenden Vagabund:innen.
Marx beschreibt die ursprüngliche Akkumulation am Beispiel Englands, wo sie sich in klassischer Form zutrug. Doch Landprivatisierungen wurden zur selben Zeit europaweit vollzogen. In Deutschland war dieser Prozess unter dem Begriff des Bauernlegens bekannt und verbreitet, und verfolgte auch hier den Zweck, größere und profitablere Höfe zu schaffen. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Adel, was schließlich auch einer der mitwirkenden Faktoren für den Ausbruch des Bauernkriegs Mitte des 16.Jahrhunderts war.
Frauen waren von der Kapitalisierung des ökonomischen Lebens am stärksten betroffen, insbesondere, wenn sie älter, alleinstehend oder verwitwet waren – oder wenn sie keine Kinder hatten, die ihnen helfen konnten oder wollten.
Während sich die Grundherren in den meisten Fällen auf ihre Besitzrechte berufen konnten, lag die Sache in den Marschlanden anders: Bauern und Bäuerinnen in der Marsch hatten eine besondere Stellung, denn ihre Grundstücke waren nicht gepachtet, sie gehörten ihnen. Für Fremde war es nicht einfach, einen solchen Hof zu erwerben. Es ist also gut vorstellbar, dass es einer besonderen List oder Seilschaft brauchte, um Abelke Bleken ihren Hof zu entziehen, damit der Hamburger Ratsherr Huge ihn kaufen konnte.