Ich bin wieder fünf Jahre alt, in der Küstriner Straße, unser Wohnzimmer ist voller fremder Leute. Männer bauen große Lampen auf, Scheinwerfer nennen sie das, die sind hell und heiß. Die Männer verstellen sie immerzu und fragen eine Frau, ob das so in Ordnung ist. Die hält einen Fotoapparat fest in den Händen und knipst meine Eltern und mich immer wieder. Der Apparat ist groß, sogar größer als Vaters surrende Kamera, mit der er uns gern überall filmt. Ich sitze auf dem Schoß meiner Mutter, auf dem Sofa, mit der Püppi im Arm, der ich ihre Lieblingssachen angezogen habe. Mein Vater ist dicht neben uns, in weißem Hemd mit Schlips, wie immer, wenn Besuch da ist. Ich unterhalte mich mit meinen Eltern, besser gesagt: Ich erzähle, und sie hören zu, fragen nur ab und zu etwas nach. Die fremden Leute gucken und lächeln, aber ich beachte sie nicht weiter. Ich bin froh, die Eltern den ganzen Tag lang für mich zu haben, meistens sind sie arbeiten und ich im Kindergarten, von früh bis spät.
Auf den Besuch heute haben mich meine Eltern vorbereitet. Es werden Leute kommen, zum Fotografieren, das wird ein bisschen dauern, sagten sie. Jetzt dauert es schon viel länger als ein bisschen. Aber danach fahren wir mit dem Trabi weg, erst zum Tierpark und auf dem Rückweg zu dem Restaurant, das über der Erde schwebt, in dieser breiten hellen Straße. Dort gibt es Pommes frites für mich in einer silbernen Schale mit silbernem Deckel, die so gut schmecken, wie nie wieder Pommes frites auf der Welt geschmeckt haben. Die Frau fotografiert uns immer noch, und ich finde, es wird Zeit, dass die Leute gehen.
»La petite est fatigué«, sagt Mama leise zu Papa.
Heute kommt mir dieser Tag vor wie der letzte Tag in meinem Leben, an dem wir zu dritt beisammen waren, meine Eltern und ich: unzertrennlich. Nicht lange danach, eines Abends, mein Vater war schon im Pyjama, kamen ein paar Männer in Anzug und Schlips zu uns. Sie waren von der Botschaft der Demokratischen Republik Vietnam und sprachen lange mit ihm. Er blieb freundlich, aber ich spürte, dass er diesen Besuch nicht mochte. Natürlich sprachen sie Vietnamesisch. Ich saß derweil mit dem jungen Chauffeur in der Küche, eine Weile lächelten wir uns zu. Beide waren wir unbeschäftigt. Schließlich vertrieben wir uns die Zeit, indem er mir vier oder fünf Wörter Vietnamesisch beibrachte.
Ich wusste nicht, dass mein Vater da drinnen im Zimmer mit der Weltpolitik kämpfte. Darum kämpfte, nicht gehen zu müssen in das von der US-Armee zunehmend bombardierte Hanoi. Ich wusste nichts von dem Druck, der auf ihm lag, nichts von Pflichten als Patriot, auf die ihn die Männer an jenem Abend wohl nachdrücklich hinwiesen. Was heißt das schon, Genosse, deine Familie hier in Ostberlin, was Facharztarbeit in einer liebevollen Brigade der Charité, was bedeuten Tierpark, Karl-Marx- Allee, Restaurant Moskau und 8-mm-Filme, wenn die Heimat bedroht ist?
Eines Tages ging mein Vater fort, an einem Tag im Februar.
Ich hatte keine Vorstellung davon, wohin er ging. Was das ist: Vietnam. Vietnam war das Geheimnis, aus dem mein Vater kam und in das er wieder ging. Wo er dann täglich unter den vielen Bomben seinen Dienst in einem Hanoier Krankenhaus tat, ganz in der Nähe des Hoàn-Kiê ́m-Sees, den er mochte. Nach der Schicht ging er zu Fuß in die Hang-Bai-Straße, in sein Zimmer, das er mit weißen Fensterläden verschloss, gegen die Hitze, gegen die Welt. Wo er eine nach der anderen rauchte und viele Briefe an uns schrieb. An meine Mutter auf Französisch, an mich auf Deutsch. Ich schickte anfangs nur selbstgemalte Bilder, dann konnte auch ich schreiben. Mein Vater war begeistert. Wie klug du bist, meine Tochter. Wann kommst du wieder, Papa? Telefonate waren nicht möglich, es gab nur die Briefe. Aus der Ferne suchte mein Vater den Kontakt mit mir zu halten, wollte weiter Anteil an meinem Kinderleben nehmen. Er ermahnte mich, fleißig zu sein und der Mama im Haushalt zu helfen. Sittsam solle ich sein, ein Wort, das er in Grimms Märchen Dornröschen aufgeschnappt hatte und das niemand benutzte außer ihm. Erziehung aus der Ferne, schwierig.
Fotos von ihm trafen ein. Wie er am Schreibtisch sitzt, umgeben von unseren Bildern. Wie schön du bist, mon Papa, wie traurig. Ahntest du schon, dass du in keiner dieser Welten mehr ein Zuhause finden würdest? Gesellte sich zu deinem persönlichen Kummer die Trauer um dein Land? Mischte sich in dein Entsetzen über das Massaker von My Lai die Furcht, die Täter könnten nie bestraft werden? Hieltest du für möglich, dass euer einstiger Widerstand mit Ho Chi Minh im Dschungel von Viet Bac und der sagenhafte Sieg in Dien Bien Phu gegen die Franzosen bald keine Rolle mehr spielten? Dass dieser neue Krieg nur Verlierer haben wird?
Gingst du manchmal in deinem Viertel einkaufen, gab es überhaupt noch richtige Läden? Wie viele Tote und Verletzte nach einem Bombenangriff hast du gesehen in Hanoi? Gingst du trotzdem manchmal zum See, und freuten sich deine Geschwister, dass sie dich wieder bei sich hatten? Und halfst du, wenn es passte, deine kleinen Nichten und Neffen in die umliegenden Dörfer zu evakuieren, während dein eigenes Kind in Sicherheit war?
Bahnbrechende Ereignisse wie meine Einschulung fanden ohne dich statt. Geburtstage, Weihnachten ohne dich. Von den stets starrenden Blicken der anderen Familien auf uns, von den Angriffen in der Schule auf mich bekamst du nichts mit.
Où t’es, Papa, où t’es? Inzwischen kämpfte Mama um deine Heimkehr, schrieb 100 Gesuche an Behörden in beiden Bruderländern. »Behörde« war ein Wort, das in mir regelmäßig Alarm auslöste.
Unerwartet kamst du eines Tages zurück aus dem Krieg, standest vor uns wie der Mann in Repins Gemälde mit einem Blick von einem anderen Stern. Ich war vier Jahre älter geworden und sah auf dich, erschrocken, fiel nicht in deine Arme. Heimkehr wohin? Verbannung hier, Verbannung dort. Exilé. Lưu đày.
Was die Leute damals mit ihren Scheinwerfern eigentlich von uns wollten und warum die Frau uns fotografierte, erfuhr ich erst viele Jahre später. In einem Karton im Keller fand ich eine DDR-Illustrierte aus dem Jahr 1966. Als Titelfoto die Großaufnahme eines ernsten Kindergesichts unter schwarzem Pony, darüber der Satz: »Helft Vietnams Kindern«. Ich sah geradewegs in meine eigenen Augen.
Jetzt wurde klar, dass die Fotografin die ganze Zeit darauf aus gewesen war, mich mit dem Teleobjektiv von meinen Eltern zu isolieren. Das unbeschwerte Kind in einer ostdeutschen Altneubauwohnung sollte ein traumatisiertes Kind im kriegsgeschüttelten Vietnam darstellen.
Ich jedoch war glücklich damals und wollte partout nicht traurig sein. Die Fotografin konnte warten. Beobachtete mich durchs Objektiv und fand den Bruchteil einer Sekunde, da ich ernst genug dreinschaute und drückte ab. Dann packten sie zusammen, verschwanden endlich.
Papa, Mama? Fahren wir jetzt los? Ja, petite, allons.
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Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2024/4