Auf dem Höhepunkt der Debatte um die Lieferung von Kampfpanzern in die Ukraine, am 20. Januar 2023, bekam einer der beiden Autoren dieses Textes eine E-Mail aus der Redaktion der Welt mit der Bitte, sich zum gerade veröffentlichten ARD-Deutschlandtrend zu äußern. Dort ging es um die Meinung der Bevölkerung zur Lieferung von Kampfpanzern, und interessant schien dem Absender, dass 52 Prozent der jüngeren Deutschen (zwischen 18 und 34 Jahren) dagegen waren, womit sie die relativ stärkste Gruppe der Ablehnenden stellten. Dieser Sachverhalt zog die folgenden journalistischen Fragen nach sich, die man zu beantworten bat: »Wie sollte die Konsequenz aus diesem Dissens zwischen Jungen und Alten sein? Muss die Politik, müssen Medien den Jüngeren nur ›besser erklären‹, warum Leopard-Lieferungen nötig sind?«
Unschwer erkennt man an diesem Beispiel, dass der Absender so wenig Zweifel an der Notwendigkeit der Lieferung von Kampfpanzern in die Ukraine hegte, dass ihm völlig aus dem Blick geraten war, dass der journalistische Auftrag eigentlich nicht darin liegt, anderen Menschen zu erklären, warum sie falscher Meinung sind. Allerdings, und davon wird in diesem Text noch die Rede sein, lässt sich im deutschen politischen Journalismus eine solche Einhelligkeit in Fragen des Ukrainekrieges beobachten, als sei tatsächlich die Funktion des Journalismus für die moderne demokratische Gesellschaft, für richtig Erkanntes unters Volk zu bringen, auf dass dieses es gleichfalls als richtig erkennt.
Genuin war die Aufgabe des Journalismus einmal anders definiert (siehe auch den Beitrag von Michael Haller in diesem Heft) – nämlich die in »vielfältige Interessen differenzierte Gesellschaft« abzubilden,1 insbesondere auch deshalb, weil die politischen Institutionen erhebliche Repräsentationslücken aufweisen und bestimmte, besonders auch marginalisierte Gruppen geringere Chancen haben, ihre Auffassungen politisch zur Geltung zu bringen. Schaut man sich die Zusammensetzung des aktuellen Deutschen Bundestags an, fällt nicht nur auf, dass zwei Drittel seiner Mitglieder Männer sind, sondern auch, dass 87 Prozent einen Hochschulabschluss haben; im Bevölkerungsdurchschnitt trifft das auf nur 20 Prozent der Leute zu. Unter den Abgeordneten haben nur sechs Prozent eine abgeschlossene Berufsausbildung als höchsten Bildungsabschluss, in der Gesamtbevölkerung dagegen die Hälfte. Gerade zur Korrektur solcher parlamentarischer Missrepräsentationen sind die Medien in der Demokratie da, insbesondere die öffentlich-rechtlichen, um eine angemessene Urteilsbildung zu relevanten Geschehnissen überhaupt zu ermöglichen.
Aber viele Beobachtungen und Umfragen zum gesunkenen Medienvertrauen und zu den Veränderungen im Mediengebrauch aus den vergangenen Jahren legen den Verdacht nahe, dass sie diese »Integrationsfunktion«, die ihnen neben der Informationsfunktion zukommt, kaum mehr wahrnehmen. Im Gegenteil legt der »Regierungsfliegerjournalismus« von in Talkshows überpräsenten Alpha-Journalistinnen wie Melanie Ammann vom Spiegel, Robin Alexander von der Welt oder Gregor Peter Schmitz vom Stern eine Verdoppelung des Elitenproblems nahe: Politischer Journalismus scheint zu einer Form des freiwilligen Embedded-Journalism geworden, dessen Statusmerkmale die intime Einbezogenheit in die Kommunikationen im »politischen Berlin« (Robin Alexander) und das Mitfliegen bei Staatsbesuchen sind.
Das ist aber keineswegs eine Geschmacksfrage, denn der politische Journalismus schrumpft auf diese Weise von der Analyse und Vermittlung der gesellschaftsrelevanten politischen Anforderungen und Entscheidungsprozesse auf eine kleinteilige Exegese politischer Ränke – am liebsten zwischen Angehörigen von Koalitionen. Solcherlei Journalismus zu – nationaler – Politikerpolitik ist aber gerade in dem Sinn etwas anderes als politischer Journalismus, weil er nicht informiert und aufklärt, um eine empirisch grundierte Meinungsbildung zu ermöglichen, sondern weil er nach den Konjunkturen in der Ökonomie der Aufmerksamkeit jene Konflikte und Konkurrenzen besonders gern ausstellt, die skandalisierbar sind und großen »Wallungswert« (Roger Willemsen) haben. Da schreibt man probaterweise auch Ministerinnen aus dem Amt oder heizt Konflikte zwischen Koalitionären so auf, dass sie womöglich zu Regierungskrisen führen, über die man dann wiederum aus ganz intimer Sicht berichten kann. Auf diese Weise transformiert sich der politische Journalist zum politischen Akteur – freilich ohne dafür in irgendeiner Weise mandatiert zu sein.
Das ist schon problematisch genug, wird aber geradezu fatal, wenn sich Entwicklungen entfalten, für die weder die Politik noch das mediale Personal ein Skript hat. Krisen haben diese unangenehme Eigenschaft, dass niemand weiß, wie sie sich entfalten werden; das Wissen und die Routinen, die in Zeiten der Normalität erworben wurden, sind hier nur begrenzt hilfreich, aber gerade in Krisenzeiten besteht erhöhter Deutungsbedarf, weil die unsichere Entwicklung ja durchaus als beunruhigend oder bedrohlich empfunden wird. Deshalb kann man in Krisenzeiten mit unklarer Entwicklungsperspektive – oder fehlendem »Skript« – historisch immer wieder eine rasche Verengung des Diskursraums beobachten. Je unklarer und beängstigender eine Situation, desto eindeutiger die normativen Perspektiven und die daraus resultierenden Forderungen an die verantwortlichen Akteure. Es findet eine Komplexitätsreduktion zugunsten von eindeutigen Pro- und Kontra-Haltungen statt.
Auch dieser Sachverhalt steht in Widerspruch zu der schon erwähnten Aufgabe des Journalismus, die informationelle Landschaft ausgewogen und differenziert auszumessen und dabei möglichst viele Perspektiven zur Geltung zu bringen, damit die Rezipienten sich gut begründete Meinungen zum Geschehen bilden können. Dabei ist es auch eine Aufgabe der Medien, die Auffassungen in unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft gerade zu krisenhaften und konsequenzenreichen Geschehnissen angemessen zur Geltung zu bringen. Dies gilt zumal für Krisen, die mit Gewalt und Eskalationsrisiken einhergehen – gerade da wäre es verantwortungsvoll, ein möglichst breites Spektrum von Beobachtungen, Analysen und Einschätzungen zu liefern und bestimmte Perspektiven nicht von vornherein abzuwerten oder gar nicht zu berücksichtigen. So wäre etwa eine gesellschaftliche Stimmungslage, in der die Forderung von verstärkten Waffenlieferungen mit kleinen Schwankungen über die gesamte Kriegszeit von etwa der Hälfte der Bevölkerung unterstützt und von der anderen Hälfte abgelehnt wird, in den Leitmedien mindestens grob abzubilden. Das bedeutet auch die qualifizierte Darstellung von Chancen und Risiken politischer Entscheidungen, deren Bewertung ja erst in der Bevölkerung zu Zustimmung oder Ablehnung führt. Sollte das nicht der Fall sein, könnte man sagen, erfüllen die Medien ihre Rolle in der Demokratie nicht angemessen.
Dass eine solche Vereinseitigung der Perspektive auf den Krieg in dem Buch Die vierte Gewalt von Richard David Precht und einem der beiden Autoren2 dieses Textes behauptet wurde, ja, dass eine starke Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung herrsche, führte im vergangenen Herbst zu einiger Aufregung, zumal der empirische Beleg für diese These damals noch ausstand, wie nicht zu Unrecht moniert wurde.
Der kann nun nachgeliefert werden, und zwar gleich doppelt. Zum einen ist gerade eine klassisch inhaltsanalytische Untersuchung der Berichterstattung und Kommentierung in den acht Leitmedien (FAZ, Süddeutsche Zeitung, Bild, Spiegel, Zeit, ARD Tagesschau [20 Uhr], ZDF heute [19 Uhr], RTL Aktuell [18 : 45]) durch eine Forschungsgruppe um Markus Maurer von der Uni Mainz erschienen, die aber lediglich einen Untersuchungszeitraum vom 24. 2. bis 31. 5. 2022 umfasst; die Otto-Brenner-Stiftung hat den Endbericht am 18. 2. 2023 veröffentlicht. Diese Leitmedien haben auch wir untersucht, aber wir können unsere folgenden Aussagen in Bezug auf den viel längeren Zeitraum vom 1. 2. 2022 bis zum 31. 1. 2023 machen. Unsere empirische Grundlage umfasst 107 000 Texte, die zum Thema »Krieg in der Ukraine« in den Leitmedien über diese Periode hinweg publiziert wurden (mit Ausnahme jener der Zeit, die ihre Artikel für automatisierte Crawling-Prozesse nicht zur Verfügung stellt), dazu konnten wir auch 1,1 Millionen Beiträge aus 140 Regionalzeitungen auswerten. Neben den Texten zum Ukrainekrieg in diesen traditionellen Medien haben wir für diesen Text auch 13,5 Millionen Twitter-Beiträge analysiert, die im selben Zeitraum zum Krieg erschienen sind.