Neue Rundschau

Ganz Ohr

Ein Artikel von Kathrin Röggla

Magazinteaser Neue Rundschau Röggla

Geht es Ihnen auch so: Sie können nicht mehr zuhören? Es fällt Ihnen zunehmend schwerer. Die Ohren bleiben einfach nicht offen, Sie schalten immer mehr ab. Zumindest mir geht es derzeit so, d. h. es sind mehr Szenen des Zuhörens, die mich irritieren, als die des Zusehens. Da stehe ich beispielsweise mitten in einer ethnologischen Sammlung in Köln und finde eine künstlerische Installation, in die man hineingehen kann, einen white cube. Außen steht, dass sie sich dem Thema »Vorurteil und Kolonialismus« widmet. Drinnen sehe ich Schrift und Bild, aber ich nehme vor allem eine Stimme wahr. Eine junge Frauenstimme, die über das angekündigte Thema spricht und die mich sofort in eine Falle bugsiert. Ich frage mich, wem höre ich mehr zu? Der Stimme, die betont leise und zurückhaltend etwas vorträgt, oder ihrem Vortrag, der eine Kritik neokolonialer Haltungen ist, eine Fürsprache der Unterdrückten. Eben gerade weil ich dieser Stimme und ihrem Duktus so viel zuschreiben möchte, in sie alles Mögliche hineinlegen – da sehe ich eine behütete junge gebildete Frau vor mir –, gerade weil die Stimme mir in ihrer Materialität mehr Bildlichkeit gibt als der Inhalt, gehe ich sofort in die Vorurteilsrichtung: Sicher biodeutsch, sicher aus wohlhabenden Haus, denke ich mir. Der Inhalt des Gesagten wirkt wie auswendig vorgetragen, er ist ihr und mir wohlbekannt. Es sind nicht wenige Auswendigkeiten, die uns gerade umgeben, gerade bei den brennendsten Themen. Es bleibt für mich unklar, ob es eine persönliche Neuralgie ist oder eine allgemeine. Warum aber will ich, dass man die Dinge immer neu überlegt, damit ich zuhören kann?

     Ein anderes Mal passiert es in jenem verdunkelten Theaterraum, der pandemiebedingt zu einem Fernsehstudio umgebaut wurde, und ich sehe neben mir dem Regisseur Milo Rau beim Zuhören zu. Ich ahne, er hört präziser und deutlicher zu, als ich das je könnte. Er ist sozusagen ganz Ohr. Er scheint auch alles zu verstehen, was gesagt wird, immer wieder nickt er zustimmend. Dann stellt er seine Fragen. Sie wirken stets relevant. Sein Gegenüber muss überlegen. Die Antwort wird auch erstaunlich sein. Obwohl klar ist, dass der Regisseur seine Fragen schon sehr oft gestellt haben muss, dass ihm das überhaupt nicht neu sein kann, was da formuliert wird, wirkt es in jedem seiner Gespräche verblüffend erfrischend und anders. Man kann nun wirklich nicht sagen, er ist ein Zuhörerdarsteller. Doch gibt es die überhaupt? Denken Sie an gewisse Fernsehmoderator:innen, deren Professionalität schon etwas abgeschliffen ist? Gegenüber in Interviews, die schon zu lange auf Sendung sind, Behördenmitarbeiter, die das Gehörte gleich wegordnen. Es gibt die Konkurrenz der Rede, aber selten eine Konkurrenz des Zuhörens. Einen Wettkampf, wer das jetzt besser macht, wer hat das schon erlebt? Und doch begegnen wir nicht selten einem ausgestellten Zuhören. Das sind die etwas überschießenden Inszenierungsgesten, das erwähnte Nicken, die Augenbrauen, die hochgezogen werden, die abwehrenden Handgesten. Es ist ein Zuhören, das mit Gesten mitreden will. Man fällt nicht ins Wort und zeigt doch einen Response. Zeigt, dass man noch da ist.

     Bin ich noch da? Nein, ich werde schon von der nächsten Szene des Zuhörens unterbrochen. Das bin jetzt schon ich selbst. Sehen Sie, wie ich da vor dieser Gesprächspartnerin sitze in jener Rechtsanwaltskanzlei?1 Eine Nebenklagevertreterin hat sich bereiterklärt, mit mir ein Gespräch über ihre Arbeit im NSU-Prozess zu führen. Dauernd will ich was sagen. Ich will dazwischenfahren. Ich weiß immer schon, wie der Satz ausgehen wird, ja ausgehen muss, den sie gerade bildet. Habe ich die Anwältin überhaupt zu Wort kommen lassen? Ich behaupte, Fragen zu stellen, aber vielleicht tue ich nur so? Klar ist, das Gefühl, nichts mehr erfahren zu können, kann sich erst im Gespräch einstellen und nicht schon davor, oder? Was ist los? Warum fallen mir in diesen letzten Begegnungen von vorneherein dauernd die Ohren ab?

     Vielleicht liegt es ja am Stoff? Zur Tür komme ich noch herein mit vollem Schwung, setze mich, aber in dem Moment, in dem ich die Ohren aufsperren sollte, höre ich mich immer noch selbst reden. Mein Gegenüber scheint meinen Einführungsvortrag nicht weiter schlimm zu finden, es braucht ihn ja, um mein Interesse zu verstehen. Aber mich erinnert diese Szene trotzdem an jene in Alexander Kluges Chronik der Gefühle, in der ein Bundeskanzler seinem Referenten etwas über – ich glaube, es war die Braunkohleförderung – erzählt, von dessen aktueller Situation er eigentlich nichts wissen kann und ja auch deswegen zum Referenten gekommen ist. Kluges paradox anmutende Erklärung ist das Nichtzuhören des Kanzlers aus Zeitnot. Er hat zu wenig Zeit und beschließt, seinem Referenten lieber selbst zu erzählen, was dieser wissen muss. Habe ich Zeitnot? Diese Art der Zeitnot? Immer. Die Zeitnot der Bundeskanzler hat sich bekanntermaßen überallhin übertragen, mittlerweile selbst auf das schriftstellerische Gewerbe.

     Vielleicht ist es der Stoff?, frage ich mich ein zweites Mal. Die Rechtsprechung, die Justiz ist ein Bereich, da möchte man eben nicht dauernd zuhören. Es ist der Ort des Herrschaftswissens. Mitten im Zwangsjackensystem. Verregelt. Autonom. Schwer durchschaubar. Also Abwehr meinerseits. Zu viel gefühlte Erkläropas und Erklärtanten haben mich in den letzten Jahren unterbrochen und haben gesagt: »Das ist aber nicht so, weil in Paragraph schlagmichtot steht das und das.« – »Bei Gericht läuft das nicht so, da geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern um Regeln.« – »Es werden doch alle enttäuscht vom Gericht, das ist nun mal so. Naiv der, der etwas erwartet.« Usw. und so fort. Warum sonst bleibe ich auch hier erst einmal stecken bei der Erläuterung des Kontexts meiner Fragen, bei der Aufbereitung des Terrains, bleibe sozusagen hängen auf meiner Platte. Als ob ich den Moment, in dem ich etwas erfahren könnte, hinauszögern wollte und mir so Zeit verschaffen. Nur wozu? Was soll in der Zeit erledigt werden? Die Ohren sind fest zugesperrt, währenddessen erzähle ich der Anwältin, wen ich alles schon gesprochen habe. Bin ich etwa ein Gespenst geworden? Zum Gespenst passt, dass ich in diesem Zuhören noch schneller meine, alles bereits zu wissen. Zum Gespenst passt, dass ich gleichzeitig nicht das Gefühl habe, irgendetwas zu überblicken. Dieser Stoff hat mich bereits erschlagen. Nur wann? Schon vor langem, vor zwei oder vor fünf Jahren oder von vorneherein? Dieses Gespenst, das heimsucht, muss allerdings harmlos sein, entdecke ich an den Reaktionen meiner Gegenüber, gut einzuordnen in die Reihe anderer Gespenster, und dennoch nicht so schlimm. Verschwörungstheoretiker, Irrläufer, Menschen, die plötzlich aufspringen und erzählen, dass sie das Terrortrio schon lange kennen und ihnen alles klar war, Menschen, die vom Zeugensterben zu erzählen beginnen, den Verfassungsschutz erwähnen, um bei irgendwelchen Verschwörungsmythen zu landen. Das mache ich nicht, habe ich mir zumindest vorgenommen. Keine leichte Aufgabe bei einem Prozess, der mehr Lücken offenbart als geschlossen hat.

     Sind Sie noch bei mir? Ich stelle mir vor, dass sie meine oder eine mir zuzuschreibende Stimme hören, wenn Sie das lesen. Und mir ist dabei klar, zum Zuhören gehört, dass man dem folgen kann, was da von vorne kommt. Dass die Ordnung verständlich sein muss. Zuerst die Erklärung, wo man ist, dann, mit wem man es zu tun hat, und schließlich, was überhaupt passiert ist. Das Gericht hat die Anklageschrift zur Hand, um das zu klären. Die Anklageschrift schafft die grundlegende Ordnung, nach der ein Prozess zu erfolgen hat, was mehr bedeutet, als Gerichtslaien klar ist. Nun ist aber das Erstaunliche, dass das eigentlich nicht funktionieren kann bei einem Geschehen dieser Größenordnung. 13 Jahre lang sind Terroristen durch Deutschland gezogen und haben zehn Menschen brutal ermordet, weitere verletzt, Bombenanschläge durchgeführt, Banken ausgeraubt, vermeintlich unbeobachtet. Das ist ein derart langer Zeitraum, der das »Wer« der Täterschaft zu einem umstrittenen Punkt macht und auch das »Was« der Taten – sind sie alle erfasst? Gibt es nicht noch zahlreiche falsch zugeordnete Verbrechen? Zudem ist die Sache schon eine ganze Weile her, also wird es mit der Wahrheitsfindung schwierig. Wie oft werden Zeugen ihre polizeilichen Aussagen von damals vorgehalten, und man nimmt ihnen ab, dass sie keine Ahnung mehr haben können?

     Diese gerichtliche Aufarbeitung mündete jedenfalls in jenes fünfjährige Hauptverfahren, jenen Mammutprozess, der unter dem Namen erster »NSU-Prozess« in die Geschichte einging und bei dem ich in den letzten beiden Jahren immer mal wieder zugegen war, Gespräche mit Beteiligten geführt und sehr viel gelesen habe. Ich habe mich im Material verloren, habe es wieder vergessen – man kann das auch nicht alles behalten – und bin wieder zurückgekehrt.

     »Warum setzt ihr euch nicht einfach hin und schreibt das Ding runter? Ihr habt ja begriffen, was da los ist«, erinnere ich mich an eine etwas banale Pauschalforderung vom ehemaligen Schaubühnendramaturgen und diskursiven Realismusexperten Bernd Stegemann. Gerade das wollte mir in diesem Zusammenhang nicht gelingen. Schon weil dem die Annahme zugrunde liegt, man müsse etwas vollständig verstanden haben, dann erst könne man darüber schreiben. Das hier war aber nicht vollständig zu verstehen, eine Million Akten sind von keinem Menschen zu verstehen. Und eine Mitschrift, dieser schöne Ausweg bei Überforderung, von Rolf Dieter Brinkmann über Rainald Goetz bis Wolfram Lotz gut eingeübt, kann hier auch nur aus Gerichtsprotokollen bestehen. Zu spät zu spät, hieß es dann. Ich sei zu spät mit meinem Stoff für eine Mitschrift, warum ich nicht über einen aktuell laufenden Gerichtsprozess schreiben wolle? »Das ist doch längst ausdokumentiert.«

     Ausdokumentiert ist einer der schönen Begriffe, die im Register des Nichtzuhörens zu finden sind. Oder aus dem Gespensterbereich. Gespenster sind ja auch immer zu spät, von vorneherein. Sie haben etwas verpasst und müssen jetzt etwas nachholen. Oder etwas ist ihnen geschehen, und sie müssen mahnen, dass es zurechtgerückt wird von anderen. Bei mir ist Ersteres der Fall. Niemand kann es für mich zurechtrücken. Gespenster geistern aber auch durch eine Zeit, die nicht die ihre ist. Ich muss zugeben, so fühlte es sich im Gerichtssaal an. Was habe ich da nicht mitgekriegt von meiner Zeit? Warum gibt es diese Zeugen, die rechtsradikale Äußerungen für normal halten oder meinen, aus der Mitte der Gesellschaft zu sprechen? Sind die meine Zeitgenoss:innen, bzw. wie sieht es mit meiner Zeitgenossenschaft überhaupt aus? Wieso habe ich wie so viele in der Zeit des NSU nichts mitbekommen und die Legende der sogenannten »Döner-Morde« akzeptiert? Nun gut, Gespenster sind nachträglich. Gespenster machen auch keine Erfahrung. Ist das eine Erfahrung, die ich gemacht habe, damals im Winter 2017, als ich zum ersten Mal mit Erstaunen diese seltsamen hoch aufgeladenen Auseinandersetzungen um Fragen der Kopierverordnung und Verschriftlichung im Gericht wahrnahm? Sie wurden mit einiger Erregung vor einem Publikum von rund 200 Leuten ausgetragen. Vielleicht lässt sich das eher als krasse Kollision von Erwartung und Zustand des Prozesses bezeichnen.

     »An diesem Prozesstag wird sich nichts von dem zeigen, um was es eigentlich geht«, hat mich kürzlich ein oberster Richter vom OLG Frankfurt informiert, zu dessen Prozess ich mit Studierenden wollte. Zeigt das nicht jeder Tag? Sind nur die Zeugenbefragungen für Nichtjurist:innen interessant? Die aufgeladenen Formalismen gehörten sehr wohl zum Zustand der NSU-Aufarbeitung. Die affektbesetzten Auseinandersetzungen, die wie die Spitze des Eisbergs etwas über Behördenschlamperei, Nichtzusammenarbeit, Bürokratie und Fehlstellen erzählten, waren sprechend. Dass die Verfassungsschutzakten zunächst für 120 Jahre gesperrt wurden, kann man als deutliches Zeichen verstehen, das vor allem eines erzählt: Quellenschutz geht vor Opferschutz.

     »Das ist doch längst ausdokumentiert.« Richtig, es war der medial am besten aufbereitete Prozess der letzten 20 Jahre. Warum darüber etwas Literarisches machen? Was kann Literatur dem bereits Gesagten hinzufügen? Kaum stelle ich mir diese Frage, werde ich schon von einer Kollegin ausgelacht: Ist das dein Nazistoff? Jede deutsche, jede österreichische Schriftstellerin muss das mal in ihrem Leben machen. Der Gedanke war mir vorher noch nicht gekommen, ich hätte lieber in einem anderen Prozess gesessen, der diese Tragweite hatte, aber leider ist der Nazistoff noch um uns herum.

     Insofern: Zurück zu den Ohren! Nichts ist schwieriger als das Zuhören. Wann kann man nicht zuhören? Wenn man wiederholt das Gleiche hört. Wenn man etwas hört, was man nicht hören will. Wenn die Nebengeräusche extrem zugenommen haben, und das haben sie derzeit fast immer, oder? Ist es nicht allgemein so, dass das politische Grundrauschen Hörverhältnisse erschwert, dass das Gehörte so schwer in das Umfeld zurückzubinden ist. Entweder man geht nah ran, um etwas zu verstehen, dann verliert man den Kontext, oder es ist im Rauschen verschwunden. Man hört auch nicht zu, wenn man zu müde ist. Wenn man davon ausgeht, dass das Gegenüber lügt oder Unsinn redet. Wenn man nicht zuordnen kann, was gerade los ist. Wenn man zu viel zu tun hat. Wenn es zu irritierend wäre zuzuhören. Man überhört ja nicht einfach nur, sondern hört auch oft das Falsche, es heißt dann, man hat sich verhört. Manchmal sind das einzelne Buchstaben, die ausgewechselt werden. Manchmal ist es Wunschdenken … Man will endlich etwas anderes hören! Und dann gibt es natürlich Orte des Nichtzuhörens. Von Michel Foucault wissen wir, dass es auf jeden Fall die Disziplinarorte sind, und ich möchte hinzufügen, dass es auch Orte der Zeitnot sind, in denen zu schnell reagiert werden muss, als dass richtig zugehört werden könnte – Börsen? Krankenhäuser, Altersheime? Just-in-time-Gebetsorte, Institutionen, in denen alles so derart auf Kante genäht ist, dass fürs Zuhören keine Zeit bleibt. Zuzuhören benötigt stets mehr Zeit als zuzusehen.

     Zum Zuhören ist nicht sehr viel publiziert worden. Es ist sozusagen noch immer eher unser blinder Fleck als ein tauber. Wir sind auch filmisch mehr umgeben von Talking Heads als von Hörenden, nur selten, in der Traditionslinie von Jean-Luc Godard bis Bruno Dumont, gibt es markant Zuhörende, bei Alexander Kluge sind sie in seinen Fernsehgesprächen wieder verschwunden, wo sie in den Kinofilmen der 70er und 80er so markant da waren. Visionär Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Schon damals, Mitte der 80er, dieser Titel, der in den nächsten Jahren an Geschwindigkeit gewinnen wird. Kluge hat mit seinem Referenten Ersatzzuhörer als neue Kategorie eingeführt. Ich lasse zuhören, und zwar nicht nur meinen Psychoanalytiker, ich kann das Zuhören sozusagen mehrfach auslagern. Die Referenten hören für ihre Ministerin zu, für ihren Staatsanwalt etc. Es gibt aber ein anderes Auslagerungsprinzip: Etwas ist zu groß und zu komplex, als dass ein Mensch den Zuhörjob alleine machen könnte, und so braucht es eben viele. Im Gericht gab es von aktivistischer und journalistischer Seite dieses Hören im Wechsel, das Community-Hören sozusagen, sonst wäre es gar nicht zu schaffen gewesen. Das gemeinsame Hören, das im Gericht eigentlich sowieso Standard ist, denn der Grundsatz der Mündlichkeit benötigt den Grundsatz des Hörens, also der Öffentlichkeit, dieses gemeinsame Zuhören bekam im NSU-Prozess eine Deutlichkeit und eine Professionalisierung, wie ich es zuvor noch nicht erlebt habe. Es waren tatsächlich »Zuschauer with a job«, wie die Rechts- und Kulturwissenschaftlerin Cornelia Vismann die Gerichtsöffentlichkeit bezeichnet hat. »Wer hat die Macht, etwas zu entscheiden, wer hat die Macht, etwas zu wissen?«, ist die darunterliegende Frage. Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist wie der der Mündlichkeit keine unwichtige Nebensache in einem Gerichtsprozess, bei seiner frühen Einführung war diese Vorstellung derart selbstverständlich, dass er sogar ohne Begründung eingeführt wurde. In einem modernen Staat darf das Gericht nicht sich allein überlassen werden, es darf keine Geheimverhandlungen geben. Aber dies beruhte, folge ich Cornelia Vismann hier mit Foucault weiter,2 durchaus nicht nur auf demokratiebezogenen, sondern auch auf disziplinarischen Erwägungen. Die abschreckende Wirkung der öffentlichen Exekutionen habe sich oft in der Identifikation mit den Verurteilten verlaufen. Man wollte sie in den Prozess hineinverlegen, in die Sprache, mit dem Publikum als Adressaten der Botschaft. Die Strafe wird vermittelt. Auch wenn die Zuhörer:innen heute im Saal kein aktives Recht haben, kommt ihrem Beobachterstatus doch eine gewisse aktivierende und eine symbolische Rolle zu. Man spricht anders vor Publikum, auch wenn man eine Behörde ist. Durch die enorme Länge des NSU-Prozesses ist tatsächlich eine merkwürdige Gemeinschaft entstanden da oben auf der Empore, jenem Bereich, der der Öffentlichkeit im Saal 101 zugewiesen ist. Diese erschien mir nicht geschlossen, denn es gab durchaus Fluktuation, Menschen, die nur einmal erschienen, sogenannte Eintagsfliegen, aber es war auch nicht ganz unverbindlich und voller Kommunikation. Das waren Rentner:innen, Studierende, politische Gruppen und vor allem Journalist:innen und Blogger:innen und natürlich Sympathisant:innen, sowohl der Angeklagten als auch der Nebenklage. Immer mal wieder hörte ich allerdings auch die Erklärung, dass hier im Gericht wirklich im Gegensatz zu den Medien nach der Wahrheit gesucht würde, als würde man einem besonders spannenden Krimi folgen.

     Aber zurück zum Hören – jetzt mal konkret! Der Philosoph Jean-Luc Nancy hat sich »Zum Gehör« geäußert, seine Rede hebt an, nicht ohne folgende Vokabeln in Umlauf zu bringen: die Ohren spitzen, an den Ohren ziehen, das Gehör schenken, das Ohr aufspannen, ein offenes Ohr haben, ein Ohr leihen. Er weist auf die Unterschiede zwischen Hören und Vernehmen hin, spricht von der Asymmetrie und der fehlenden Reziprozität zwischen dem Visuellen und dem Akustischen. Es gebe mehr Isomorphismus zwischen Bild und Begriff als zwischen dem Hörbaren und Intelligiblen, man verbindet es nicht so schnell. Hören geht eben auch nach innen. Man hört sich beim Reden. Und Hören als Spüren bedeutet ein Sich-Spüren. Wir sind, auch wenn ich spreche, in einem gemeinsamen Hörraum, weil ich mich selbst reden höre. Innen und außen sind nicht leicht trennbar. Sich beim Wahrnehmen wahrzunehmen kann man nur im Geräusch, ob mit Sinn beladen oder nicht. Jean-Luc Nancy verweist aber auch auf die Spionage, den Lauschangriff und das Horchen auf dem berühmten Horchposten, auf den man sich begeben kann, also dahin, wo ein Geheimnis versprochen wird. Ich höre etwas, was nicht für meine Ohren bestimmt ist. Ich kann aber auch jemanden abhören. Im Gericht ist alles für meine Ohren bestimmt, und ich höre gewiss nicht ab, aber es versteckt sich so vieles in der Rede, dass ich sie extra weit aufspannen muss, um den Subtext und die weitere Bedeutung zu verstehen. Nicht selten brauchte ich dazu die Nachbarohren.

     Ja, schön und gut, sagen Sie sich, das Hören, ganz Ohr sein, aber warum überhaupt das Gericht? Warum ausgerechnet Juristen zuhören? Warum diese Rechtsanwaltskanzleien, diese Untersuchungsausschüsse, gibt es nichts Schöneres, Lohnenderes für die Literatur? Dabei ist meine Hinwendung zur Rechtsprechung durchaus logisch für mein Gewerbe und unsere Zeit. Wer befindet sich in der Epoche der Symbolpolitiken und toxischen Debatten nicht auf der Suche nach Sprachmacht? Hier findet schließlich Handlung mit Sprache statt, sie gilt sozusagen. Im Gericht wird die Wahrheit festgestellt, d. h. sie erhält eine gewisse Gültigkeit mit echten Konsequenzen. Und ist sie einmal festgestellt, ist sie unumstößlich. D. h., wenn das Urteil revisionsfest ist. Dann gilt es auch rückwirkend. Man kann dann als Zeuge der Falschaussage bezichtigt werden, auch wenn man ehrlich ausgesagt hat, also das berichtet hat, was man wahrgenommen hat, weswegen eine meiner anwaltlichen Gesprächspartner:innen mir erläuterte, bei einem Prozess, welcher Verstöße des Demonstrationsrechts zum Gegenstand hat und sozusagen die Aussagen der Polizei gegen die der angeklagten Aktivist:innen stünden, würde sie eher davon absehen, andere Demonstrationsteilnehmer:innen als Zeugen laden zu lassen aufgrund dieser Gefahr der nachträglichen Falschaussage.

     Ja, im Gericht gibt es das Urteil, eine echte Entscheidung, die aber gleichzeitig dem Verfahren unterworfen ist, das, was Cornelia Vismann als theatrales Dispositiv des Gerichts bezeichnet und für den Soziologen Niklas Luhmann die legitimierende Grundlage der Demokratie darstellt. Und doch finden Entscheidungen auch während des Prozesses statt. Welchem Zeugen, welcher Zeugin glaubt der Richter? Das muss er begründen. Ein Argument in dieser richterlichen Entscheidung ist diesbezüglich das Lebensfremde. Wenn etwas als lebensfremd gilt, hält man es nicht für plausibel, wie bei einem der Angeklagten im NSU-Verfahren. Da sagte die richterliche Instanz plötzlich und unerwartet für alle Verfahrensbeteiligten, es sei lebensfremd anzunehmen, dass er mehr gewusst haben kann. Großes Aufatmen auf der einen Seite, Entsetzen auf der anderen. Im schreibenden Gewerbe wird eher positiv mit der Lebensnähe geurteilt, wenn etwas als besonders glaubwürdig und authentisch erzählt wird. »Aus dem Leben gegriffen.« Ganz so als kennten wir uns aus mit dem Lebensnahen, so wie sich richterliche Instanzen mit dem Lebensfremden auskennen. Dabei lernen wir ja erst mal meist den gegenteiligen Effekt kennen. Schreibt man das auf, was direkt aus dem Leben kommt, wirkt es unglaubwürdig und erfunden. So it goes, würde Kurt Vonnegut in Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug sagen. Ein Beispiel, ein Beispiel, rufen Sie aber schon, noch bevor ich ausführen kann, dass Vonneguts Buch den Zweiten Weltkrieg, das Bombardement Dresdens und die Entführung des Protagonisten durch Aliens zum Gegenstand hat.

     Ja, was kommt direkt aus meinem Leben, und man glaubt es nicht? Ich hatte Beispiele für Sie, habe sie aber alle wieder aus diesem Text gestrichen, weil sie mir nicht gut erschienen sind. Um ehrlich zu sein, die »das glaubt mir jetzt keiner, wenn ich das jetzt aufschreibe«-Beispiele schreibt man dann eben nicht auf, weil sie im Text schal wirken oder eben zu einfach unglaubwürdig. Es sind Beispiele, wenn die Zufälle zu groß sind oder die Verwicklungen zu abwegig und drastisch. Man sagt dann, man traue den eigenen Ohren nicht mehr …

     Ja, zurück zu den Ohren! Alle reden, als würden sie ewig Zeit haben, niemand hört zu, als würde er oder sie ewig Zeit haben. Merkwürdig, nicht? Man müsste Zuhören als Kunstform unterrichten. Nur wie? Indem man Gesprächsaufnahmen nur nach dem Zuhören beurteilt? Das wäre schon wieder absurd. Es ist ja nichts Objektives, was man da feststellen kann. Das fürs Schreiben produktive Zuhören hat mehr mit einer inneren Reibung und Resonanz zu tun.

     Wie kann man sich zudem sicher sein, den Richtigen zuzuhören? Es wäre ja möglich, dass ich diesbezüglich gerade mit den Falschen das Gespräch suche. Mit großer Sicherheit sind es die Falschen, denn ich höre Menschen zu, mit denen ich einig bin. Linke Anwälte, Nebenklagevertreter:innen und Verteidiger linker Aktivist:innen oder Menschenrechtsanwält:innen. Wie können die falsch sein? Gerade weil es sich um die handelt, deren Motivation und Erfahrung ich verstehe. Weil ich ihre Haltung und ihre Kritik am Gericht schätze, und ihren Ansatz »Mit Recht gegen die Macht« unterstützen möchte. Andauernd möchte ich unterstützen, mich solidarisieren. Aber daraus wird noch keine Literatur, schon gar keine Sprachkritik. Ich müsste mit meiner Art zuzuhören mich eher an die Gegenseite halten oder an gewisse technokratische Gerichtsfanatiker, die offiziell die reine Autonomie des Gerichts vertreten, und hinterrücks im politischen Atem der Bundesregierung agieren. Ausübende des Paragraphen 129, wenn er denn passt. (Spoiler: Bei Rechtsextremen passte er lange eher weniger und bei der Polizei schon gar nicht.) Ich müsste denen, die immer schon recht haben, zuhören. Die sich immer im Recht befinden und wissen, wie es zu steuern ist. Denen das System gehört gewissermaßen. Systemeigner:innen. Aber um ehrlich zu sein, ich würde es nicht aushalten. Mich macht diese Form des Rechthabens und Im-Recht-Seins wahnsinnig. Könnte ich dem überhaupt etwas entgegensetzen? Mit meiner Art zuzuhören wird es schwierig, denn ich muss immer etwas hineingehen in die Welt des Gegenübers, um dann umso mehr hinauszugehen, ich muss mich verstricken in seiner Sprache und darin plötzlich etwas finden, was mich wieder hinauskatapultieren kann. Es sind ja Affirmationsohren, die ich aufspanne, Ohren, die von den Unterschieden leben. Von der Reibung. Die Innen und Außen in Spannung versetzen. Die Erwiderungsenergie anheizen. Aber das würden die nicht zulassen. Die Energie, recht zu haben, ist bei gewissen Anwält:innen sehr ausgeprägt und entspricht nicht meinem Modus des Tastens, des Irrtümer Besuchens, sie ist eigentlich undialogisch. Kunst hat aber nicht recht. Man kann das Rechthaben nicht mit ästhetischen Rahmen versehen, es übersetzen in Wahrnehmungsformen, was nicht heißt, dass Kunst interesselos ist. Und dennoch will ich nicht zu einig sein. Ich brauche zumindest bei einigen Gesprächspartnern den Dissens im Gespräch. Ich möchte dekonstruieren, die Rede der anderen als eine mögliche meinige begreifen, um sie dann zu überschreiben, weil ich es nicht aushalte. Ich verhandle Sprache in mir.

     Mein Recherchefeld ist aber auch nicht einfach zu durchqueren. Man kann schlicht nicht mit allen Parteien und Interessensvertretern sprechen, Richter sind angewiesen, nicht über ihre laufenden Verfahren zu sprechen, dazu kommt, dass die Gräben zwischen den Parteien des ersten NSU-Prozesses tief geworden waren. So hatten sich die Angehörigen und Überlebenden schon lange aus dem Verfahren zurückgezogen, das sie so enttäuscht hatte. Bei den verbliebenen Prozessteilnehmer:innen war klar: Wenn man mit der einen Seite gesprochen hatte, konnte man schlecht mit der anderen sprechen. Die sogenannte Altverteidigung der Hauptangeklagten hatte gar nicht so unfreundlich auf meine Anfrage reagiert, aber ich schreckte vor einer weiteren Kontaktaufnahme zurück. Die Kostümierung wirkte wie ein Panzer, das, was aus den Medien von ihnen zu hören war, ebenfalls. »Alle haben das Recht auf Verteidigung.« Na klar! »Rechtstaatlichkeit!« Na klar. Was sollen die mir schon erzählen? Ihre Positionierungen konnte ich in den zahlreichen Dokumentationen aus dem Gericht mitschreiben. Der Vertreter der Bundesanwaltschaft verwies mich auf den Behördenweg. Die Art und Weise, wie das geschah, schreckte mich ab. Es war eine Geste, die mir verriet, dass mir in dem möglichen Gespräch nur wieder was beigebracht werden sollte. Schwer ist es, jemanden zuzuhören, der immer schon alles weiß.

     Vielleicht steckt ein Prozess ohnehin hauptsächlich in seinen Akten, darüber hinaus gibt es nichts Wesentliches zu erzählen. Die letzten literarischen Veröffentlichungen über Richterinnen ließen das biographische Leben der stets richterlichen Hauptfigur mit dem Gerichtlichen in Konflikt geraten, ob bei Ursula Krechels Landgericht, bei Petra Morsbachs Justizpalast oder bei Lydia Mischkulnigs Die Richterin. Immer die Spur der richterlichen Instanz, als ob eine Zentralperspektive aufs Gericht übertragen werden soll. Zeichen einer institutionellen Krise, so dass man die Zentralperspektive so zentral konstruieren muss? Ganz anders als der furiose Seiteneinstieg von William Gaddis in Letzte Instanz, der noch keinen Grund sah, an dem Gericht als Institution zu zweifeln und umso mehr den Umgang damit zu kritisieren? Weit sind wir weg von der obszönen Behaglichkeit eines Eigentumskonflikts in dessen Buch.

     Ja, es fallen einem grundsätzlich die Ohren ab, finden Sie nicht? Wohin fallen sie? Ich weiß nur, dass ich tendenziell mehr verpanzerten Gesprächspartnern begegne, die nur ihre Fassaden zeigen, die ihre Institutionen, Firmen, Positionen verteidigen, nicht selten aus einer Position der Angst heraus. Dazu kommt, dass meine Auseinandersetzung mit dem Gericht in einem Rahmen stattfindet, in dem man es grundsätzlich verteidigen muss, weil es von rechtsextremer Seite, von Reichsbürgerfronten attackiert wird. Eine Zeit, in der im Gerichtssaal Neonazis saßen und sich über die »Faschingsveranstaltung Gericht« lustig machten. Gleichzeitig irritiert mich in höchstem Maß die Argumentation, die besagt, dass die Verfassungsschutzakten 120 Jahre geheim bleiben müssen, weil sonst Gegner der Rechtsstaatlichkeit daraus Werkzeuge gegen den Staat in die Hand bekämen.

     Wir leben in einer Zeit großer Institutionenkrisen. Die, in die ich alltäglich Einblick habe, haben Probleme mit Krankenstand, Überforderung, sehr genauer Öffentlichkeitsplanung, bürokratischer Aushöhlung, einer Gremienarbeit, die Entscheidungen auf sachlicher Ebene erschwert – zu lange Tagesordnungen, zu viele Beteiligte etc. Da ist z. B. ein öffentlicher Rundfunk mit feudalen Strukturen und steilen Hierarchien, eine Kultur der Angst und dessen ständige Infragestellung von außen. In solchen Institutionen hält man potenzielle Kritiker beschäftigt, indem man Scheinverhandlungen durchführt. Aber ich kann diese Angst vor der Abschaffung demokratischer Instanzen nicht einfach verdoppeln, ich kann auch im Gericht dieses Herrschaftswissen nicht einfach imitieren, mich quasi in eine Expertenposition hineinmogeln, sondern muss ja dieses Machtverhältnis, dem auch der »Zuschauer with a job« zu Recht unterliegt, nicht einfach wiederholen, also ist mir in diesem Prozess die Expertenperspektive nicht möglich, sondern die einer rechtsunkundigen Sicht, die der Leute, die dem machtvollen Wissen plötzlich unterworfen sind und es sich aneignen und dabei scheitern müssen. In diesem Sonderfall des NSU-Prozesses kam noch hinzu, dass sich in dem Hauptverfahren mehr Nichtwissen als Wissen gezeigt hat und ich diesen Aspekt nicht einfach durch eine Rekonstruktion wegwischen wollte, sondern wahrnehmbar, ja regelrecht hörbar machen wollte. Aus einer Position, die sich erst einmal orientieren muss, die nicht schon immer alles weiß, ohne das Gericht zu verraten.

     Vielleicht gehört dieses Ohrenabfallen insofern auch zum Schreibprozess. Vielleicht muss ich sie verlieren, bevor ich mich im Text verlieren kann. Vielleicht ist das manische Ohrenaufheben ja mehr ein Vermeidungsvorgang, und wäre durch das Übersetzen des Gehörten zu beheben? Das Problem könnte sozusagen einen Schritt weiter liegen.

     Ich habe diesen Essay vor einem halben Jahr unter dem Titel Der Druck der Ereignisse und die Herrschaft der Echtzeit begonnen, das war sozusagen ein erster Gedanke. Im Gericht haben wir Echtzeit. Der Grundsatz der Mündlichkeit bestimmt diese. Die Mündlichkeit der Zeugenbefragung, der Antragstellungen und Einwürfe. Es gibt zwar mittlerweile das Selbstleseverfahren, z. B. im sogenannten Halle-Prozess, wo man einem Rechtsradikalen keine Bühne geben wollte, aber das meiste ist Echtzeit. Eine, die sich über eine andere Echtzeit des Geschehens legen kann. Rituell betrachtet ist es eine Strategie gegen die Herrschaft der gewalttätigen Echtzeit, und das könnte auch für die Literatur etwas abwerfen.

     Die Herrschaft dieser allgemeinen, medial, technisch und ökonomisch stets drängenden Echtzeit erzeugt auf Ohrenebene, so könnte man sagen: Knalltrauma, Hörsturz und Tinnitus. Tinnitus ist ein Phantasiegeräusch, vom Gehirn erzeugt gegen die Lücken im Frequenzbereich des Ohrs. Wo das Ohr aussetzt, erzeugt das Gehirn eine Ergänzung, die leider unangenehm ist und die Stille ein für alle Mal auslöscht. Das Nichthören, jene Übersetzung des Schweigens und der Stille, ist dann nicht mehr wahrnehmbar. Wenn aber die literarische Übersetzungsleistung ermüdet ist und kaputte Ohren nicht so einfach repariert werden können, wie nicht nur Ärzte wissen, dann müssen wir sie miteinbeziehen. Fiepen, Rauschen, Blurren muss dann ein Teil der schriftstellerischen Arbeit werden. So it goes. Auftritt der Aliens. Wir werden uns also den überspannten Ohren widmen müssen.


1 Man sollte vielleicht an dieser Stelle vorausschicken, dass das Zuhören ein großer Teil meiner schriftstellerischen Arbeit ist, etwas, das selten erwähnt wird. Wie und ob es gelingt, ist dabei erstaunlich überprüfbar, denn ich transkribiere die meisten Gespräche, die ich geführt habe. Beim Abhören wird jedes Zuhören sozusagen betretbar: Warum hast du da nicht nachgefragt? Warum bist du nicht weiter rein? Hier hättest du einhaken können, und wieso hast du das und das überhört? Überhaupt – wo warst du in deinen Gedanken? Scheinbar oft weg.
2 Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung. Hrsg. von Alexandra Kemmerer u. Markus Krajewski. S. Fischer, Frankfurt am Main 2011, S. 131 f.

 

 

Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2023/4

Kathrin Röggla, geboren 1971 in Salzburg, arbeitet als Prosa- und Theaterautorin und entwickelt Radiostücke. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der SWR-Bestenliste (2004), dem Arthur-Schnitzler-Preis (2012) und dem Wortmeldungen-Literaturpreis (2020). Sie veröffentlichte unter anderem die Prosabücher »Niemand lacht rückwärts« (1995), »Abrauschen« (1997), ...

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