Neue Rundschau

Kommentar zu Simon Vestdijks Vortrag Over »Der Proceß« van Franz Kafka

Ein Text von Gerhard Kurz

Neue Rundschau Vestdijk und Kurz
      Simon Vestdijk
 

Simon Vestdijk zählte zu den bekanntesten niederländischen Autoren im 20. Jahrhundert. Er war von enormer literarischer Produktivität. Um die 200 Bücher hatte er veröffentlicht, Gedichte, Novellen, Romane, Essays, Übersetzungen, dazu zahlreiche literatur- und musikkritische Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften. Nach einer maliziösen Bemerkung eines Freundes schreibe Vestdijk schneller, als Gott lesen könne. Die Essays dokumentieren ein weitgespanntes Interesse an Literatur, bildender Kunst, Musik, Philosophie, Psychologie und Religion. Gedacht als Dissertation für eine Promotion, zu der es allerdings nicht kam, verfasste er nach 1945 die Abhandlung Het wezen van de angst (Das Wesen der Angst; publiziert 1968). Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt. Der auch in Deutschland vielgelesene Maarten t’Hart rühmte ihn als einen »Wortkünstler par excellence«, zu seiner Zeit habe es kein vielseitigeres Genie in der niederländischen Literatur gegeben. Unterbrochen wurde diese Produktivität von oft langen Phasen der Depression.

      Geboren wurde Simon Vestdijk 1898 im friesischen Städtchen Harlingen. Er starb 1971 in Utrecht. Nach dem Schulbesuch in Harlingen und Leeuwarden studierte er Medizin an der Universität Amsterdam und arbeitete danach einige Jahre als Hausarzt und Schiffsarzt. 1932 debütierte er mit dem Gedichtband Verzen (Verse). Ein Vorbild war die Lyrik von Rilke. Danach widmete er sich ganz der Literatur. 1934 erschien sein erster Roman Terug tot Ina Damman. Geschiedenis van een jeugdliefde (Zurück zu Ina Damman. Geschichte einer Jugendliebe). Dieser Roman sollte der dritte innerhalb eines Zyklus von acht Romanen über seine Jugend- und Studienzeit werden. In der Hauptfigur des Schülers Anton Wachter entwarf Vestdijk ein alter ego. Autobiographische Züge charakterisieren auch sonst sein Werk. Prousts Roman À la recherche du temps perdu verdankt sich das zentrale Motiv der Erinnerung, das Vestdijk hier mit der Kunst verbindet. Anton Wachter ist verliebt in seine Mitschülerin Ina Damman. Sie erwidert seine Liebe nicht, seine Liebe vergeht. Das, was bleibt, ist die Erinnerung, die Treue der Erinnerung, wie es in den Schlussworten heißt: »... onwankelbaar trouw [...] aan iets dat hij verloren had, – aan iets dat hij nooit had bezeten.« (unerschütterlich treu [...] zu etwas, das er verloren hatte, – zu etwas, das er nie besessen hatte). Diese Worte können auch verstanden werden als Vestdijks Fassung des künstlerischen, auf Form und Dauer zielenden Aktes.

      In dieser Zeit kam Vestdijk in Kontakt mit dem Kreis um die Literaturzeitschrift Forum, bald wurde er auch ihr Redakteur. Obwohl die Zeitschrift nur auf vier Jahrgänge zwischen 1932 und 1935 kam, gilt sie doch als die wichtigste literarische Zeitschrift im niederländischen Sprachraum zwischen den Kriegen, dem sogenannten interbellum. Gegründet wurde sie von den niederländischen Schriftstellern Menno ter Braak, E. du Perron und dem flämischen Schriftsteller Maurice Roelands. Die Zeitschrift vertrat das Programm einer klassischen, temperierten Moderne, die bei Meisterautoren wie Joyce, Proust, Valéry, Gide, Svevo, Rilke, Thomas Mann, Musil und auch bei Kafka gefunden wurde: intellektueller Anspruch, literarisches Experimentieren und kritisches Traditionsbewusstsein, Sprachskepsis und Erkenntnisskepsis. (Merkwürdigerweise wurde Kafka in der Zeitschrift selbst nicht behandelt.)

       Die Rezeption Kafkas in den Niederlanden
 

Kafka wurde im niederländischen Sprachraum früh, seit dem Anfang der 1920er Jahre, gelesen und bewundert. Journalistische und literarische Verbindungen mit Berlin hatten diese einzigartige Rezeption gefördert. Der flämische Avantgardedichter Paul van Ostaijen, der von 1918 bis 1921 in Berlin lebte, übersetzte kurz nach Kafkas Tod fünf seiner Erzählungen aus dem Band Betrachtung. Intensiviert wurde diese Rezeption, wie dann auch bald weltweit, durch die drei (unvollendeten) Romane, die Max Brod aus dem Nachlass herausgegeben hatte: Der Proceß (1925, Titel von Brod, entsprach wohl Kafkas Absicht), Das Schloß (1926, Titel von Brod, entsprach wohl Kafkas Absicht) und Amerika (1927, Titel von Brod, der spätere Titel Der Verschollene entsprach wohl Kafkas Absicht). Dazu kamen schließlich 1935 die ersten vier Bände der Gesammelten Schriften Kafkas, herausgegeben von Brod und Heinz Politzer noch in Deutschland im Schocken-Verlag. Die restlichen zwei Bände erschienen wegen der politischen und kulturellen Unterdrückung dann im Prager Verlag H. Mercy Sohn.

      Kafkas Werk, vor allem Der Proceß, von vielen als sein Hauptwerk angesehen, provozierte theologische, philosophische, politische und psychoanalytische Interpretationen. Die frühen deutschen Rezensionen enthielten schon Leitmotive seiner Rezeption. Bewundert wurde die klare, sachliche und zugleich rhythmische, musikalische Prosa. Verglichen wurde sie mit der Prosa Kleists, Flauberts und Robert Walsers. Die Darstellung wurde als eine Durchdringung von Realität und Irrealität, Sachlichkeit und Phantastik, Rationalität und Mystik beschrieben, die ergreife und zugleich irritiere und die unabsehbare Bedeutungen erahnen lasse. Immer wieder wurde die »Angstwelt« (Siegfried Kracauer, 1925) des Proceß-Romans mit einer Traumwelt verglichen.

      Von großer Bedeutung war natürlich das öffentliche Eintreten des Freundes Max Brod für Kafka. Brod scheute sich nicht, Kafka einen »der größten Dichter und reinsten Menschen aller Zeiten« (1921) zu nennen. Als Kafkas »Hauptthema« bezeichnete er schon vorher (1916) die Trennung des modernen Juden von seiner religiösen Gemeinschaft, die sich als Schuldbewusstsein äußere. In seinem Essay Der Dichter Franz Kafka, 1921 in Die Neue Rundschau erschienen, weitete er dieses Thema aus. Kafka beschreibe »neben allgemeiner Menschheitstragik insbesondere das Leid seines unglücklichen Volkes, des heimatlosen, gespenstischen Judentums«. Sein schöner Sprachstil erzeuge einen »doppelten Boden«: Die Oberfläche sei »kristallklar«, doch zögen »Träume, Visionen von unermeßlicher Tiefe« darunter her. Aus diesem doppelten Boden entspringe auch ein Humor in der »Nähe der letzten Dinge«. Der Proceß stelle den »Verzweiflungskampf eines Menschen gegen einen unsichtbaren Gerichtshof« dar, der ihn mit seinem bürokratischen Apparat »an sich lockt, festhält, verurteilt und tötet«. Dieses Verständnis der Handlungsstruktur des Romans erlangte eine kanonische Bedeutung bis in die 1970er Jahre. Dagegen warf Ernst Weiß schon 1925 die Frage auf, ob sich nicht die »Wirrnisse« des Romans darin auflösten, dass hier einer einen Prozess gegen sich selbst führe.

      Seine Deutung im Licht jüdischer Religiosität fasste Brod 1926 im Nachwort zu Das Schloß zusammen. Danach würden in Der Proceß und Das Schloß »je eine der beiden Erscheinungsformen der Gottheit (im Sinne der Kabbala) – Gericht und Gnade – dargestellt«. Andere Deutungen mögen durchaus richtig sein, aber sie würden von dieser »umfassendsten eingehegt«. Diese Deutung wurde übernommen, aber auch entschieden kritisiert. Wie intensiv sich Kafka indes in seinem Werk mit dem Schicksal der jüdischen und christlichen Religion nach dem »Tod Gottes« (Nietzsche) auseinandersetzte, wurde erst in den letzten Jahrzehnten erkannt.

      Die Erfahrung des stalinistischen und nationalsozialistischen Totalitarismus legte es in den 1930er Jahren nur zu nahe, in Kafka einen »Seismographen unsrer Epoche« (Hermann Hesse, 1935) und in Der Proceß eine Prophetie dieses Terrors zu sehen. Diese Deutung findet sich z. B. in Brods Eine Vision Franz Kafkas (1933), bei Klaus Mann (Distinguished Visitors. Der amerikanische Traum, 1940, postum 1992 erschienen), später auch in Theodor W. Adornos Aufzeichnungen zu Kafka (1953). Im Ausgang von England machte seit Ende der 1930er Jahre die Wortbildung kafkaesque/kafkaesk internationale Karriere für das Ausgeliefertsein an eine albtraumhafte, absurde, bürokratische Macht.

      Kafkas Werk, deutsche Literatur überhaupt, konnte in den Niederlanden damals auf Leser rechnen. Die niederländischen Bildungsbürger waren polyglott. Sie sprachen und lasen natürlich auch die Sprache des deutschen Nachbarn, der ja auch ein sprachlicher Nachbar war. Deutsche Literatur und Philosophie gehörten zu ihrem Bildungskanon. Daher konnten nach 1933 auch die emigrierten deutschen Autoren in den Niederlanden Verlage finden, die ihre Werke druckten, wie die Amsterdamer Verlage Querido, Allert de Lange, Van Kampen, und Leser, die sie lasen. Als 1947 die erste niederländische Übersetzung von Der Proceß erschien, konnte Vestdijk in seiner Rezension schreiben, dass jeder, der an Kafka interessiert ist, imstande sein sollte, ihn in seiner Sprache zu lesen, zumal Kafka wegen seiner Prager Herkunft ein besonderes Deutsch schreibe. Wenige Beispiele für diese einzigartige Rezeption:

      Der Theologe Kornelis H. Miskotte diskutierte in seiner Dissertation Het wezen der joodsche religie (Das Wesen der jüdischen Religion, 1932) im Kapitel Extremen Kafka neben Ernst Bloch und Constantin Brunner wegen seines Einsamkeitsbewusstseins und seiner negativen Theologie als eine extreme Figur in der religiösen jüdischen Tradition. Insofern sein Werk die Einheit eines urbiblischen mit einem vereinsamten, »fanatisch-modernen« Lebensgefühl verkörpere, könne in Kafka der Vorbote einer neuen, noch namenlosen Religiosität zu sehen sein. Er bewundert Kafkas Kunst, in den Dingen des Alltäglichen ein »Mystisches« erscheinen zu lassen. Stilistisch erinnert ihn Kafkas Werk an Flaubert, Fontane und Stifter, theologisch an Kierkegaard und Karl Barth, in seinem Humor und seiner Ironie an Chaplin.

      1936 wechselten Hendrik Marsmann und Vestdijk Brieven over literatuur in der Zeitschrift De Groene Amsterdammer. Schon Ende der 1920er Jahre hatte ein Freund Vestdijk auf Kafka aufmerksam gemacht. In diesem Briefwechsel geht es auch um Franz Kafka, vor allem um die Bedeutung der Religion in seinen Werken. Auch sie hielten Der Proceß für Kafkas bedeutendstes Werk. Vestdijk schreibt von seiner Bewunderung für diesen Roman, aber auch von seinem Zorn darüber, dass in der »ergreifenden Parabel« Vor dem Gesetz der Mann vom Lande es nicht wage, in das Gesetz zu dringen. Für Marsmann, der Auslegung Brods und Miskottes folgend, ist der Schlüssel für Kafkas Werk die jüdische religiöse Tradition. Für Vestdijk hingegen geht es um die menschliche Vereinsamung des modernen Individuums, um kollektiven Zwang und individuelle Freiheit. Kafka verteidige die menschliche Freiheit gerade dadurch, dass er ihre Unfreiheit bis ins Unerträgliche steigere.

      Einer der einflussreichsten niederländischen Intellektuellen in den 1930er Jahren war Menno ter Braak. Er setzte sich – auch kritisch – für die deutsche Exilliteratur ein und gehörte 1936 zu den Gründern des Comité van waakzaamheid van anti-nationaal-sozialistische intellectuelen, das zur Wachsamkeit vor der Gefahr des Nationalsozialismus aufrief. Vestdijk gehörte zu den Unterzeichnern. Den Nationalsozialismus deutete Ter Braak in seinem Essay Het nationalsocialisme als rancuneleer von 1937 mit Nietzsches Psychologie des Ressentiments als Aufstand der »rancune«, des Ressentiments. Am 14. Mai 1940, am Tag der niederländischen Kapitulation, nahm er sich aus Verzweiflung das Leben. Auch er bewunderte Kafka. Über ihn konnte er schreiben, dass seine Werke den Eindruck erweckten, als seien sie vom Himmel gefallen. 1937 erschien der erste Teil seiner Rezension der Gesammelten Schriften unter dem Titel Over Franz Kafka. Een joodsch schrijver van den eersten rang (Über Franz Kafka. Ein jüdischer Schriftsteller ersten Ranges), ein Jahr später der zweite. Beide Teile veröffentlichte er dann unter dem Titel Decadent zonder decadentie (Dekadent ohne Dekadenz). Kafka steht für ihn einerseits für das »Ende« der Dekadenz mit ihrer »Überempfindlichkeit und Müdigkeit«, andererseits für einen »Anfang« zu etwas Neuem, das sich in einer Schlichtheit, einem zum Ernst veredelten Humor offenbare. 1937 rezensierte er die kurz zuvor erschienene Kafka-Biographie Max Brods ziemlich kritisch. Brods Pietät dem Freunde gegenüber gehe einher mit Eitelkeit und Annexionsdrang. Ähnlich kritisch äußerte sich Vestdijk in einer anonymen Rezension 1938. Auf Kafka geht Ter Braak auch im Essay De joodse geest en de literatuur (Der jüdische Geist und die Literatur) von 1939 ein. In diesem Jahr traf er sich mehrmals mit Dora Diamant, Kafkas letzter Freundin, in Den Haag, wo sie auf der Durchreise nach London bei Verwandten wohnte. Den »jüdischen Geist« Kafkas diskutierte er nicht aus der Tradition jüdischer Religiosität, sondern im Blick auf das politische und literarische Klima Europas in den 1930er Jahren. Im »ontzag voor de Wet«, in der Ehrfurcht vor dem Gesetz und in der Einheit von Ratio und Mystik in Kafkas Stil machte Ter Braak ein jüdisches Erbe aus, das aber von Kafka verallgemeinert, »europäisiert« werde.

      Anfang 1939 veröffentlichte Vestdijk drei Studien über Kafka, die er im selben Jahr unter dem Titel De realiteit bij Franz Kafka in seinem Essayband Lier en lancet (Leier und Lanzette) vereinte. In Kafkas literarischer Welt, heißt es darin, erweise sich die Realität als unzugänglich, unberechenbar in »Wesen, Schein und Erscheinung«. Dies führe, beabsichtigt oder nicht, zu einem besonderen Effekt dieser Literatur. In einer Volte gegen die Zuschreibung einer negativen Weltsicht schreibt er Kafkas Werk einen positiven Effekt zu: Indem die Welt schwieriger und wertloser gemacht werde, als sie in Wirklichkeit ist, schenke sie dem Leser die Überzeugung, dass die Wirklichkeit einfacher und wertvoller ist, als sie scheint. Die Motive Gewissen, Schuld, Schuldgefühle, Erbsünde, Strafe analysiert Vestdijk im Horizont von Nietzsches Psychologie in Zur Genealogie der Moral. Josef K. baue seinen »Fehler« des Egoismus und der Liebesunfähigkeit zu einer »kolossalen Schuld« aus, um sich nicht ändern zu müssen. Daher könne das Gericht in Der Proceß als »Projektion oder Objektivierung eines Schuldgefühls« verstanden werden.
      1942 dann hielt Vestdijk vor den Geiseln im Lager Sint-Michielsgestel seinen Vortrag Over Der Proceß van Franz Kafka.

      Das Geisellager Sint-Michielsgestel
 

Im Mai 1942 richtete die deutsche Besatzung im katholischen Seminarium Beekvliet in Sint-Michielsgestel ein Geisellager ein. Prominente Niederländer aus der Politik, darunter zwei zukünftige Ministerpräsidenten, Wirtschaft, darunter der Unternehmer Philips, Verwaltung, Justiz, Kirche, Wissenschaft, darunter der Historiker Huizinga, und Kultur, die der Sympathie für die Widerstandsbewegung verdächtigt wurden, wurden hier interniert, anfänglich etwa 1200, insgesamt 1900 Geiseln, »Zivilinternierte« in der Besatzungssprache. Bei Anschlägen des Widerstands sollten Geiseln erschossen werden. So wurden im August fünf Geiseln erschossen, im Oktober drei. Danach fanden keine Exekutionen mehr statt, da sie als wirkungslos eingeschätzt wurden. Das Geisellager war kein Straflager. Die Geiseln waren in einer privilegierten Lage – aber mit der Exekutionsdrohung im Hintergrund! Die innere Organisation lag in ihren Händen. Sie veranstalteten Vorträge, Diskussionsrunden, Filmvorführungen und Konzerte. Pläne für die politische Zukunft nach der Befreiung wurden gemacht. Im Vortrag nennt Vestdijk das Lager eine zweideutige Unterkunft »zwischen einer Haftanstalt und einer Ferienkolonie«.

      Vestdijk war vom Mai 1942 bis Januar 1943 im Lager interniert. Er hatte als verdächtig gegolten, er hatte sich in Ter Braaks Comité van waakzaamheid engagiert, sich auch nicht bei der Kultuurkamer offiziell angemeldet, wie es nötig war, und er galt nach dem Tod von Ter Braak, Du Perron und Jan Jacob Slauerhoff als der wohl bedeutendste lebende niederländische Schriftsteller – als Geisel eine Beute! Trotz der privilegierten Situation des Lagers versuchte er, sich aus ihr zu befreien. Er wurde entlassen. Freunde hatten sich für ihn eingesetzt, er hatte sich bereit erklärt, sich bei der Kultuurkamer anzumelden. Die formelle Anmeldung vollzog er jedoch nicht. Unter dem Eindruck der Exekutionen hatte er eine Reihe Gedichte unter dem Titel De uiterste seconde (Die äußerste Sekunde) verfasst. Das erste Gedicht, De vogel, beginnt mit den Versen: »De dood, de scherpe dood, die als een kogel/Doorboort al wat hij op zijn weg ont- moet ...«(Der Tod, der scharfe Tod, der wie eine Kugel / Alles durchbohrt, was ihm auf seinem Weg begegnet ...) Insgesamt schrieb er im Lager mehr als dreihundert Gedichte. Sie erschienen 1949 unter dem Titel Gestelsche liederen (Gestelsche Lieder). Daneben verfasste er Essays und arbeitete an einem Roman. Im Vortragsprogramm hielt er acht Vorträge über Wesen und Handwerk der Poesie, veröffentlicht 1950 unter dem Titel De glanzende kiemcel (Die glänzende Keimzelle). Und er hielt den Vortrag über Kafkas Der Proceß.

      Über Der Proceß von Franz Kafka
 

Wie später berichtet wurde, las Vestdijk den Vortrag schnell und leise vor. Aber die Zuhörer hörten »mäuschenstill« und konzentriert zu. Ganz selbstverständlich setzte er das Verständnis der deutschen Sprache voraus. Die Weise, wie er Kafka einführte, setzte auch voraus, dass Kafka den Zuhörern kein unbekannter Autor war. Zuerst gebrauchte er die niederländische Übersetzung des Titels, dann nur noch den deutschen Titel. Auch das Wort ›Gericht‹ sprach er deutsch aus, wie aus der Schreibung hervorgeht. Die »unvergesslichen Worte« Josef K.s im Dom: »Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein?« und die Replik des Kaplans zitierte er auf Deutsch. Er gibt auch den Grund an, warum er über Kafkas Roman Der Proceß redet: Die Situation des Lagers und seines Landes hatte ihn an den Roman erinnert. Er führt geradezu exemplarisch vor, wie bei einem mächtigen Verständnishorizont und einer ›symbolischen‹, vieldeutigen Romanstruktur ein bestimmtes Verständnis des Romans sich aufdrängt. Es geht in diesem Roman auch um uns Internierte, besagt sein Vortrag. Der Roman half ihm auch, der Internierungssituation zu widerstehen, seine Eindrücke zu ordnen, er war ihm sogar eine moralische Stütze.

      Für einen nachgeborenen Deutschen ist es bewegend zu lesen, wie Vestdijk »in dieser Zeit« Kafka einführt: Kafka ist ein Jude, sogar ein Prager Jude, und er ist ein Vertreter des »guten« Deutschland, »dem wir ohne Vorbehalt unser Vertrauen schenken können«. Er kann Kafka, den Prager Juden, einen Vertreter des »guten« Deutschland nennen, da er Kafka zur deutschen Literatur zählt. Vom ›guten‹ Deutschland spricht er ohne weiteres. Daraus geht hervor, dass seinen Zuhörern die Unterscheidung eines guten Deutschland von einem ›bösen‹, dem Hitler-Duitsland, vertraut war. Sie teilten sie, auch noch nach der Besetzung. Daher gebrauchte auch Vestdijk deutsche Wörter und zitierte deutsche Sätze.

      Diese Einstellung in den Niederlanden und anderen Ländern Deutschland gegenüber geht auch auf die Existenz des deutschen Exils zurück. Die deutschen Exilanten trafen auf die Sympathie vieler Niederländer. Für sich nahm das deutsche Exil in Anspruch, für das »gute Deutschland« oder auch das »andere«, das »wahre Deutschland« zu stehen, und warb für die Unterscheidung. (Für den Exilanten Thomas Mann war dieser Anspruch, war die Unterscheidung eines guten von einem bösen Deutschland fragwürdig. In seiner Rede Deutschland und die Deutschen von 1945 kritisierte er eine selbstgerechte Haltung, sich selbst als das »gute Deutschland« zu empfehlen, »ganz im Gegensatz zum bösen, schuldigen dort drüben«. Denn: »Man hat zu tun mit dem deutschen Schicksal und deutscher Schuld, wenn man als Deutscher geboren ist.«)

      Vestdijk versteht Der Proceß im Folgenden als einen vieldeutigen, ›symbolischen‹ Roman, der religiöse, philosophische, juristische Interpretationen »und so weiter« erlaubt. Er merkt an, dass der Roman keine politische Absicht, keine politische Persiflage enthält. Die Übereinstimmung der Organisation des Gerichts mit der totalitären Staatsform ist zufällig. Auch hat Kafka den Totalitarismus nicht vorausgeahnt oder vorweggenommen. Und dennoch drängt sich für Vestdijk gerade in der Situation des Geisellagers eine solche politische Deutung auf. Denn es gibt Parallelen. Bei vielen Passagen der Rede werden auch die Zuhörer an Parallelen in der politischen Situation ihres Landes gedacht haben: Das ganze Land »ein großes Gefängnis«. »Wir hier« in diesem Lager, mit den Erfahrungen, die hinter uns liegen, sagt er, dürfen »für uns selbst« wegen der offenen, vieldeutigen Struktur des Romans diese Parallelen zur politischen Situation ziehen. Darin erscheint das Gericht als eine terroristische, totalitäre Organisation. Verfolgung und Einschüchterung hier wie dort, Macht und Versagen der Bürokratie hier wie dort, Sinnlosigkeit der Gerichtsszene hier, Sinnlosigkeit der rituellen Appelle dort. In seinem kühlen Blick wird eine »Appellkomödie« aufgeführt, die in scharfem Kontrast zum »Ernst« der Situation der Geiseln steht: »Auch wir sind Gefangene, die eigentlich nicht als Gefangene behandelt werden, genauso wie Josef K. in Der Proceß. [...] In gewissem Sinn erleben wir eine Operette – dieses Wort benutzte ich bereits – eine Operette der Gefahr.« Wie die Situation Josef K.s nach der »sogenannten« Verhaftung ist die Situation im Lager ernst und zugleich lächerlich. Aus der Erfahrung dieser Situation interpretiert Vestdijk die Frage der Schuld Josef K.s als eine Frage nach der Machtstrategie des Gerichts. Josef K. ist für ihn unschuldig. Diese Interpretation nennt er ausdrücklich eine »mögliche«, aber auf Grund der offenen, vieldeutigen Romanstruktur »berechtigt«. (Ab den 1970er Jahren wird darauf hingewiesen werden, dass es auch Josef K. um Macht geht. Soziale und berufliche Beziehungen sind für ihn Machtbeziehungen. Im Grunde weiß er jedoch, dass der Prozess ein Prozess ist, den er gegen sich selbst führt. Gegen Romanende sagt er sich: »Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck.«)

      Wenn Josef K. für Vestdijk unschuldig ist, warum wird er dann verfolgt? Diese Frage können wir »Zivilinternierte«, sagt Vestdijk, besser als andere beantworten. »Auch wir sind unschuldig und trotzdem werden wir hier eingesperrt.« Dahinter macht er eine Strategie des Gerichts aus, mit Verfolgung und Strafe Schuldgefühle als ›moralische‹ Mittel der Unterdrückung zu erzeugen. Schuldgefühle machen den Menschen schwächer, als er ist, dadurch beherrschbarer. In dieser Strategie sieht Vestdijk einen mächtigen allgemeinen »Impuls«, der über den Roman und die gegenwärtige politische Situation hinausgeht: »›Das Gericht‹, in seiner allgemeinen symbolischen Bedeutung, ist zeitlos.« Es geht zuletzt um den »Zusammenhang von Kollektivität und Individuum«. Jede Gesellschaftsbildung übt Macht und »moralischen Zwang« über den Einzelnen aus. Daher kann man in bestimmten Situationen für die Kollektivität Partei ergreifen. Die Verhältnisse, »unter denen wir uns hier befinden«, heißt es dann, führen aber nun einmal dazu, dass »wir« als Leser Kafkas Partei ergreifen für »das freie Individuum, die individuelle Freiheit«. Dieses Wort »Freiheit« hatte für Vestdijk und seine Zuhörer einen besonderen, kostbaren Klang.

Gerhard Kurz

______________________________________________

Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2024/1

 

Dieser Text bezieht sich auf einen historischen Vortrag von Simon Vestdijk und ist in der aktuellen Ausgabe der Neuen Rundschau abgedruckt.

Gerhard Kurz
© Sara Strüßmann

Gerhard Kurz

Geboren 1943 in Heiligenmoschel (Pfalz), lehrte Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an den Universitäten Amsterdam und Gießen. Von 1990 bis 1998 war er Präsident der Hölderlin-Gesellschaft, von 2001 bis 2023 stellvertretender Vorsitzender 195 Die Autor*innen und Übersetzerinnen des Verwaltungsausschusses des Freien Deutschen Hochstifts. Er ist Mitherausgeber der Kritischen Ausgabe der Werke Franz Kafkas.