Neue Rundschau

Einige ungeordnete, mitunter widersprüchliche Gedanken zur Frage »Wer darf wie über die Vergangenheit schreiben?«

Ein Text von Julia Schoch

Neue Rundschau Julia Schoch

1. Wir bewohnen unsere Vergangenheit, wie man Träume bewohnt.

2. Die Literatur ist nicht der Ort, an dem wir versuchen sollten, verlässlich in Erfahrung zu bringen, wie etwas gewesen ist. Wobei die Betonung auf verlässlich liegt.

3. Es geht nicht um Rekonstruktion. Selbst wenn man sich darum bemühte, es wäre vergeblich: Keine einzige erinnerte Version der Vergangenheit stimmt mit der eines anderen Menschen überein.

4. Historisch genau recherchierte, zutreffende Details machen einen Roman nicht automatisch zu einem gelungenen.

5. Die vielgerühmte Fiktionalität von Literatur ist kein Freifahrtschein, wenn es um historische Ungenauigkeiten in einem Text geht. Ob ein Text ungenau sein darf oder historisch korrekt sein muss, geht aus ihm selbst hervor, das heißt aus seinem »Anliegen«. Das »Anliegen« bewohnt den riesigen Raum zwischen zwei Polen: Versuch einer Rekonstruktion und Eingeständnis des totalen Nichtwissenkönnens.

6. Die moralische Verantwortung einer Autorin oder eines Autors gegenüber der Leserschaft besteht allein darin: die Triftigkeit in Bezug auf das eigene Vorhaben sprachlich wie inhaltlich einzuhalten.

7. Ob ein Erzähltext als »historisch ungenau« wahrgenommen wird, hängt von Fragen ab, die ihm mehr oder weniger explizit eingeschrieben sind und deren Antworten sozusagen »unter der Hand« mitgeliefert werden:
      Soll eine vergangene Zeit auf historisch-dokumentarische Weise abgebildet werden, um anderen klarzumachen, wie »es einmal gewesen ist«?
      Geht es um Veranschaulichung und Information oder sogar Warnung?
      Ist man ästhetisch und / oder erinnerungstechnisch genau auf der Höhe, auf der auch der Roman spielt, so als wäre bis zum Moment des Losschreibens keine Zeit vergangen?
      Steht eine Atmosphäre im Vordergrund?
      Steht ein (ewiges) Thema im Vordergrund? Wird eine bestimmte Zeit/ein Ereignis/eine Epoche benutzt, um dieses Thema zu verhandeln, einfach, weil es sich besonders gut in dieser Zeit darstellen lässt?
      Soll der Leserschaft klargemacht werden, dass man von heute aus über den imaginären Ort Vergangenheit schreibt, also aus einer von Recherche bereits angereicherten Erinnerung heraus, einem Danach?
      Muss der Text Ungenauigkeiten und blinde Flecken selbst ansprechen, weil er es »nicht besser weiß« und die Unwissenheit eines seiner Themen ist?
      Leugnet man als Autorin bzw. als Autor jegliche Möglichkeit, die Vergangenheit überhaupt wiederauferstehen lassen zu können durchs Schreiben, und erzählt dennoch (und dementsprechend)?

8. Vermutlich lassen sich Bücher keiner dieser Fragen exakt zuordnen und ist ihre Beantwortung den meisten Autoren und Autorinnen (erst recht den Lesern) egal.

9. Als Autorin oder Autor sollte einem die Beantwortung dieser Fragen nicht egal sein.

10. Was mich angeht: Von jeher fasziniert mich der Unterschied von Wirklichkeit und der Erinnerung an sie, von Gegenwart und der Zeit, wenn es vorbei ist und nur noch die Erzählung existiert. Oft springe ich schon im Moment des Erlebens zu jenem Augenblick, an dem sich die Erinnerungen an ihn sortiert haben werden. In der Faszination für diese Spanne bündelt sich vielleicht sogar das Hauptthema meiner Bücher. (Wie lässt sich das Verfließen von Zeit sichtbar machen?)

11. Alles Erzählen ist nur eine Annäherung. Über die Geschichte (Historie), über die Beweggründe von Menschen, sogar über die eigenen Erinnerungen lässt sich nur schwer Gewissheit erlangen. Gleichzeitig ist da ein unstillbares Verlangen, es immer wieder zu versuchen – dennoch.

12. Wenn ich als Autorin oder Autor daran glaube, Vergangenheit rekonstruieren zu können (und dieser Glaube ist erlaubt und möglich und nötig!), muss ich recherchieren wie der Teufel. Je ungenauer ein Detail, desto geringer die Chance, dass die Rekonstruktion gelingt. Das historisch korrekte Detail – das kann eine Geste sein, ein Markenname, eine Ausdrucksweise, ein äußerer Habitus, ein amtlicher Vorgang, ein landschaftlicher Eindruck – funktioniert in dem Fall wie ein Tunnel, der den Leser direkt in den richtigen Assoziationsraum führt (es lässt ihm keine Wahl). »Richtig« meint hier: die Wirkung, die die Autorin oder der Autor beabsichtigt.

Was mir noch dazu einfällt:
      Christian Petzolds Film Barbara ist ein »Film über die DDR« nicht dadurch, dass er einen Lada durchs Bild fahren lässt, sondern aufgrund einer atmosphärischen Übereinkunft. Er ist ganz und gar undokumentarisch. Die Flucht über die Ostsee »in die Freiheit« wird als Märchen erzählt: Gänzlich unbehelligt, also auf magische Weise steigt ein Taucher mit einer Rettungskapsel aus dem Wasser, der das flüchtende Kind mitnehmen wird. (Es ist nur für eine Person Platz!) Die Darstellung der Geschehnisse folgt nicht der Realität, nicht mal einer historischen Wahrscheinlichkeit. Stattdessen geht es um die Veranschaulichung eines mythischen Konflikts: Wen rette ich, wenn »nur noch ein Platz auf der Arche frei ist«? Wählt man für sich selbst »die Freiheit« oder den Ort, an dem die Person ist, die man liebt? Barbara ist kein »Film über die DDR«.

      Als der französische Schriftsteller Patrick Modiano Anfang der neunziger Jahre zur Situation der Juden in Paris während der deutschen Besatzung recherchierte, wandte er sich an den Historiker Serge Klarsfeld. Zusammen mit seiner Frau spürte Klarsfeld damals untergetauchte Täter des Holocaust auf und lieferte sie der Justiz aus. Vor allem aber hatte er wie kein anderer über die jüdischen Opfer der Nazis geforscht. Modiano interessierte sich vor allem für das Schicksal einer jungen Frau namens Dora Bruder, über die er einen Roman zu schreiben beabsichtigte, nachdem er in einer alten Zeitung auf ihre Vermisstenanzeige gestoßen war. Aus den Briefen zwischen den beiden Männern geht hervor, dass Klarsfeld zur historischen Aufklärung der Geschichte Dora Bruders tatsächlich sehr vieles liefern konnte: Daten, Namen, Adressen, Aufenthaltsorte ... Als 1997 der Roman Dora Bruder von Modiano erscheint, schickt der Schriftsteller dem Historiker ein Exemplar. Klarsfeld bedankt sich in einem Brief dafür – dann aber macht er seinem Ärger Luft: Er zeigt sich pikiert angesichts der Tatsache, dass er (erstens) als wesentliche Recherchequelle nicht vorkommt im Buch und (zweitens) Modiano aus der historischen Faktenlage die einsame und nahezu aussichtslose Suche eines Ich-Erzählers gemacht hat. Tatsächlich mäandert der Erzähler Modiano im Text, gerät immer wieder in Sackgassen, lässt Fragen unbeantwortet und das Geschehen in der Schwebe ... Die historisch genaue Erinnerung erweckt Dora nicht zum Leben. Ihr ungelüftetes Geheimnis wird sogar als etwas Kostbares beschrieben. In gewisser Weise hat Modiano die recherchierte Historie willentlich vergessen, sozusagen im Namen einer Poetologie der Vergeblichkeit.

Früher war es anders. Jetzt kann ich über solche Fragen fast nur noch innerhalb eines Romans nachdenken.

 

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Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2024/4

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Foto Julia Schoch
© Jürgen Bauer

Julia Schoch

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in Mecklenburg, lebt als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, auch für ihre Übersetzungen französischer Literatur. 2018 erschien ihr Roman »Schöne Seelen und Komplizen«, mit dem sie – wie schon mit ihrem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman »Mit der Geschwindigkeit des Sommers« (2009) – auf Platz 1 der SWR-Bestenliste stand. 2022 wurde ihr die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk verliehen. Im Januar 2025 erscheint nach »Das Vorkommnis« (2022) und »Das Liebespaar des Jahrhunderts« (2023) mit »Wild nach einem wilden Traum« der letzte Teil ihrer Trilogie »Biografie einer Frau« bei dtv.