Vortrag vor den Geiseln im Seminarium ›Beekvliet‹ in Sint-Michielsgestel, im Juni 1942
Meine Herren,
Bevor ich mit meinem eigentlichen Thema anfange, möchte ich einige erklärende und beruhigende Worte bezüglich des Titels meines Vortrags an Sie richten. Wie Sie bemerkt haben, hat eine hilfsbereite Hand auf der schwarzen Tafel angekündigt, dass ich heute Morgen über Het Proces von Franz Kafka sprechen werde. Das ist tatsächlich die richtige Übersetzung von Der Proceß (wie das Buch heißt). Nun möchte ich nicht bestreiten, dass man in dieser Zeit kein Purist zu sein braucht, um ein niederländisches Wort einem deutschen vorzuziehen: Aber – und das ist die Beruhigung, die ich Ihnen versprach – in Kafkas Fall können wir doch ruhig von Der Proceß sprechen, unübersetzt; denn Kafka war ein Jude, sogar ein Prager Jude – und ein Vertreter des ›guten‹ Deutschland, dem wir ohne Vorbehalt unser Vertrauen schenken können. Kafka ist sogar so ›gut‹, dass die Verhältnisse, in denen wir hier leben, für mich der unmittelbare Anlass waren, mich mit seinem Roman zu beschäftigen, und das schon seit den ersten Tagen, da ich mit Ihnen diese zweideutige Unterkunft, irgendetwas zwischen einer Haftanstalt und einer Ferienkolonie, habe teilen müssen.
Mir fiel sofort Kafka ein, als es für mich darum ging, einer ungewöhnlichen Erfahrung Widerstand zu leisten. Er war mir beim Ordnen meiner Eindrücke behilflich, er war mir eine moralische Stütze. Nicht weil er sich, wie wir, dem Nationalsozialismus widersetzt hätte, denn den gab es zu seiner Zeit noch nicht, sondern an erster Stelle einzig und allein deswegen, weil es meiner Meinung nach Übereinstimmungen zwischen unserem Aufenthalt hier in Sint-Michielsgestel und gewissen Situationen und Geschehnissen in seinem Roman und schließlich der gesamten Idee seines Romans Der Proceß gab. Bei zwei Gelegenheiten wurde mir das bewusst, und ich möchte sie Ihnen sofort nennen, sozusagen als Ausgangspunkt meiner weiteren Darlegung.
Das erste Ereignis, auf das ich mich beziehe, spielte sich vor der Ankunft der indischen Gruppe aus Haaren ab. Sie erinnern sich alle an die ziemlich verwirrenden Umstände, unter denen hier ein sogenannter ›Appell‹ abgehalten wurde, bevor diese Anordnung durch Zutun der Haarener (wenn ich mich nicht irre) abgeschafft wurde. Dieses ›Appell-Abhalten‹ glich am meisten einer Posse, einer Parodie oder einer Operette, die immer auf andere und oft sehr überraschende Art und Weise aufgeführt wurde, ohne dass deutlich wurde, welche Absichten dahinterstanden. Man erhielt den Eindruck, dass diese Appell-Variationen an erster Stelle dazu dienen sollten, uns Zerstreuung zu verschaffen. Andere wiederum behaupteten, es geschehe, um uns zu ›plagen‹. Übrigens waren die Appelle immer schnell vorbei. Das Unangenehme daran bestand nicht so sehr im langen Stehen oder in der unbeweglichen, strammen Haltung, die von uns verlangt wurde, als vielmehr in der Erkenntnis der völligen Sinnlosigkeit dieser Anordnung. Wir standen zum Appell auf dem Innenhof, zum Appell in den Sälen, angezogen und ausgezogen, zum Appell nach Blöcken, zum Appell nach alphabetischer Reihenfolge der Namen – genug, ich werde Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen. Ich möchte Sie nur noch an diesen einen dunklen, regnerischen Abend erinnern, als man den Appell im Theatersaal abhielt. Dieser Theatersaal war zu dieser Gelegenheit nicht beleuchtet. Beinahe fünfhundert Mann drängten sich in diesen Saal, nicht einmal nach Blöcken oder alphabetisch geordnet, sondern im größtmöglichen Durcheinander. Zaghafte Rufe der Blockältesten wurden laut, um die hergebrachten Gliederungen zu formen. Schließlich erkannten wir die Hoffnungslosigkeit des ganzen Unternehmens, und wir kehrten in unsere Kammern zurück, ohne dass ein Appell abgehalten worden war. In diesem Augenblick nun, in diesem dunklen Saal, in diesem Gedränge von Menschen, Menschen, die für irgendetwas gekommen waren, auf Befehl, unter Zwang für irgendetwas gekommen waren, dessen Verwirklichung nicht möglich zu sein schien, musste ich an eine bestimmte Situation in Franz Kafkas Der Proceß denken – ich werde Ihnen sogleich sagen, um welche Situation es sich handelt.
Mein zweites Kafka-Erlebnis hier im Seminarium fand einige Zeit später statt. Man hatte mir erzählt, dass auf einem Dachboden Brettchen lagen, die man zum Brotschneiden benutzen konnte. Also ging ich auf den Dachboden; ich erwartete, einen leeren, staubigen Raum mit wertlosem Gerümpel zu betreten. Zu meinem Erstaunen jedoch stieß ich auf eine funkelnagelneue ›Abteilung‹ der Haarener, die in manchen Punkten zwar einigermaßen von den mir bereits bekannten Abteilungen abwich – es war dort durchaus ›gemütlicher‹ –, die aber doch die merkwürdige Illusion einer Geschlossenheit hervorrief, die bis unter die Hahnenbalken reichte, und welche den Lesern von Der Proceß wiederum nicht fremd sein mag.
Nach dieser Einführung scheint es mir ratsam zu sein, Ihnen ein kurzes Resümee dieses Romans zu geben, wobei ich dafür Sorge trage, Ihnen die Parallele mit den beiden soeben genannten Vorkommnissen annehmbar zu machen; andere Entsprechungen werden Ihnen ohne weiteres klar sein; wenn nötig, werde ich sie hervorheben. Die Hauptperson in Der Proceß, ein Beamter, den Kafka »Josef K.« nennt – K. als Initiale von »Kafka«; diese Figur ist also offensichtlich der Autor selbst, wenn auch das Buch nicht in Ichform geschrieben ist –, dieser Josef K. wird eines Morgens verhaftet, ohne dass er sich auch nur des geringsten Vergehens schuldig gemacht hat. Die beiden Büttel, die in sein Zimmer eindringen, sind keine gewöhnlichen Polizeibeamten, sondern gehören irgendeiner geheimen Organisation an, die in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt ist, und, lassen Sie mich das gleich sagen, die auch das ganze Buch hindurch in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt bleibt. Was wir über diese Organisation in Erfahrung bringen, ist allein dies: Dass sie eine gewisse hierarchische Struktur aufweist, mit sehr hohen Richtern an ihrer Spitze, die niemand, sogar die unteren Richter und die anderen Beamten nicht, kennt; dass diese Organisation es sich zur Aufgabe gemacht hat, Anklage gegen ahnungslose Bürger zu erheben, der ein ›Prozess‹ folgt, der jahrelang dauert und der eigentlich nie zu einem ordentlichen Ende geführt wird; schließlich, dass es buchstäblich keinem gelingt, sich der suggestiv wirkenden Autorität von Leuten, die selbst am wenigsten ein untadeliges Leben führen, zu entziehen: Jeder, der in Der Proceß für schuldig erklärt wird, fühlt sich allmählich auch schuldig, und handelt dementsprechend ...
Um Missverständnisse zu vermeiden, weise ich nachdrücklich darauf hin, dass wir in Kafkas Werk keine politische Persiflage sehen dürfen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass wir für uns selbst diese Parallele nicht ziehen dürfen, zumal die symbolische Bedeutung von Der Proceß am wenigsten feststeht und dieses Buch verschiedene, sehr unterschiedliche Interpretationen zulässt: religiöse, philosophische Interpretationen, juristische Interpretationen und so weiter. Jedenfalls ist die Übereinstimmung zwischen der richterlichen Organisation in Der Proceß und der totalitären Staatsform ganz und gar zufällig; es geht selbst zu weit zu sagen, dass Kafka den Totalitarismus vorausgeahnt oder ihn ›vorweggenommen‹ habe, wie zum Beispiel Jules Verne bestimmte moderne Erfindungen vorwegnahm.
Um nun zur Verhaftung von Josef K. zurückzukehren, sehen wir zuallererst dieses Befremdliche, nämlich dass der Verhaftete nicht im eigentlichen Sinne ›verhaftet‹, also mitgenommen und eingesperrt wird, sondern dass er einfach in Freiheit gelassen wird, mit dem Hinweis, dass er ›noch mehr darüber erfahren wird‹. Das passt ganz und gar in das System schleichender Angsteinflößung, einer unentrinnbar fortschreitenden Suggestion, die sozusagen bei null anfängt, um dann nach und nach die Daumenschrauben anzuziehen. Wir hier in Sint-Michielsgestel, mit den sehr ausgeprägten Erfahrungen, die hinter uns liegen, sind zumindest geneigt, die rein ›formale‹ Verhaftung von Josef K. in diesem Sinne zu interpretieren. Ohne jetzt behaupten zu wollen, dass diese Auffassung falsch ist, muss ich doch auf eine andere Auffassung hinweisen, die durch den weiteren Verlauf der Geschichte eigentlich annehmbarer gemacht wird, und zwar diese: Hier ist nicht so sehr Berechnung im Spiel, als vielmehr Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit seitens der Beamten, die mit der Verfolgung befasst sind. Auch dieser Aspekt ist uns nicht fremd: Wir alle wissen, dass der Totalitarismus durch seine Massenorganisation einerseits eine maximale Wirksamkeit im Ausführen von Beschlüssen gewährleistet, dass er andererseits aber bedroht wird durch alle Nachteile, die man seit jeher mit der Bürokratie in Verbindung gebracht hat. Und diese zweite Interpretation wird umso wahrscheinlicher, wenn wir sehen, wie in Kafkas zweitem Roman, Das Schloß, diese Bürokratie ganz unverhohlen aufs Korn genommen wird. Hier, in Das Schloß, fehlt das Element der Verfolgung und der Angsteinflößung; aber sonst verhalten sich die Beamten, die in diesem Roman auftreten, auf nahezu gleiche Weise wie die Beamten in Der Proceß.
Wie dem auch sei, es liegt auf der Hand, dass Josef K. nach dem ersten Schrecken geneigt ist, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Er nimmt die Drohung nicht ernst. Dies erklärt auch bis zu einem gewissen Grad, warum er die Polizei nicht ruft, wie wir es alle in seiner Lage – natürlich nicht in unserer eigenen Lage! – gemacht hätten. Auch später geschieht dies nicht; es ist, als ob es die ›echte‹, die offizielle Polizei in Der Proceß überhaupt nicht gibt. Es ist nun einmal das Privileg des Romanciers, und vor allem eines Autors von symbolischen Romanen, gewisse Aspekte der Wirklichkeit zu vernachlässigen; jedenfalls ist es eine Tatsache, dass das Fehlen jeder Möglichkeit, um sich auf normale Weise gegen das »Gericht« – wie Kafka die geheimnisvolle Organisation nennt – zur Wehr zu setzen, vom Leser nicht als störend empfunden wird.
Als Josef K. eine Vorladung erhält, sich eines Morgens zum »Gericht« zu begeben, ist sein erster Gedanke, ihr nicht Folge zu leisten. Schließlich tut er es doch, eher aus Neugierde und um sich selbst zu beweisen, dass er keine Angst hat. Das Haus, wo er sein muss, liegt irgendwo in einem Elendsviertel, und die Erfahrungen, die er dort macht, sind in einer solchen Umgebung nicht ungewöhnlich. Es ist nicht meine Absicht, Josef K.s Abenteuer auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Für uns ist allein das die Hauptsache: Der unvergessliche Kontrast zwischen dem, was er erlebt, und dem, was man aufgrund der Würde dessen, was als ein »Gericht« auftritt und als eine höhere Instanz über Tod und Leben entscheidet, erwarten dürfte. Zwar sind es nur sehr ›niedere‹ Beamte, mit denen er zu tun hat und die ihm einige nichtssagende Fragen stellen, aber das Durcheinander, das im ›Gerichtssaal‹ herrscht, ist vollkommen. Die Anwesenden – Richter, Angeklagte, Publikum, man weiß nicht so recht, wer was ist – benehmen sich äußerst ungehörig, schreien durcheinander, bilden zwei Parteien, für und gegen Josef K., und schließlich kehrt Josef K. wieder nach Hause zurück, voller Verachtung für die Instanz, mit der er sich gegen seinen Willen eingelassen hat.
Diese Szene nun, die uns einen ersten Blick in die innere Struktur des »Gerichts« werfen lässt, wies für mich eine schlagende Übereinstimmung mit der Appellposse auf, wie wir sie in den ersten Tagen, besonders damals im Theatersaal, erlebt haben. Es gibt natürlich bedeutende Unterschiede, die ich hier nicht näher erläutern muss, aber so viel ist doch sicher, dass in beiden Fällen eine eigenartige Sinnlosigkeit ans Licht kommt, die aufs schärfste mit dem Ernst kontrastiert, der die Situation von Grund auf kennzeichnet. Auch wir sind Gefangene, die eigentlich nicht als Gefangene behandelt werden, genauso wie Josef K. in Der Proceß. Auch wir verfügen über die Freiheit, uns über bestimmte Unzulänglichkeiten des ›Systems‹ lustig zu machen – oder uns zu empören, je nach unserem Temperament. Auch wir werfen einen Blick in das Innere eines Kosmos, eines geschlossenen Gefüges, das unser ganzes Dasein beherrscht und das sich, näher betrachtet, als ein ›Chaos‹ erweist. In gewissem Sinn erleben wir hier eine Operette – dieses Wort benutzte ich schon früher –, eine Operette der Gefahr. Nun kann man jedoch aus dem weiteren Verlauf von Der Proceß lernen, dass unvollkommene Verwirklichung im Kleinen dem Ganzen überhaupt keinen Abbruch tut; und dass die Gefahr nicht weniger groß wird, weil die Büttel des Systems Individuen von niederem Rang sind, meistens käuflich, schlampig, faul und was dies sonst noch sei. Mit anderen Worten: Das »Gericht«, wie Kafka es uns schildert, repräsentiert eine Idee, und eine Idee soll man nie nach ihrer äußerlichen Verkörperung und nach ihren zufälligen Repräsentanten beurteilen, sondern nach ihrem Wesen. Der Gegensatz zwischen dieser Äußerlichkeit und diesem Wesen kann maximal sein, ohne dass Letzteres auch nur im Geringsten berührt zu werden braucht.
Die Fortsetzung des Romans ist in der Hauptsache nicht so sehr der Verfolgung, der Josef K. ausgesetzt ist, gewidmet, als vielmehr der überhandnehmenden Angst und Erschütterung, die diese Verfolgung, deren Sinnloses er selbst einsieht, in ihm auslöst. Die Suggestion wirkt unentrinnbar, und jede Person, die im Roman auftritt, trägt das Ihre dazu bei. So findet schon gleich am Anfang ein Gespräch mit einem Onkel statt, der gehört hat, dass K. verfolgt wird und ›einen Prozess hat‹. Für diesen Onkel versteht es sich von selbst, dass Josef K. dies ernsthaft betreiben und einen Advokaten nehmen muss, was dann auch geschieht. Durch den Kontakt mit dem Advokaten erhält er noch mehr Hinweise zu den juristischen Komplikationen, den ewigen Schikanen und der fundamentalen Sinnlosigkeit, die das »Gericht« kennzeichnen, – einer Sinnlosigkeit, die ihren schrecklichsten Ausdruck in dem Umstand findet, dass ein Freispruch so gut wie unmöglich ist, und dass noch die günstigste Lösung für den ›Angeklagten‹ – der außerdem nie erfährt, worin seine Schuld liegen soll – nur eine endlose Verschleppung der Verurteilung ist, welche durch allerhand Listen, Bestechungen und so weiter wohl immer noch zu erreichen sei.
In derselben Zeit macht Josef K. eine seltsame Erfahrung mit den »Kanzleien«. Das sind die Büros, in denen das »Gericht« und seine vielköpfige Beamtenschar ihren Sitz haben. Diese »Kanzleien« befinden sich nämlich auf den Dachböden in bestimmten Elendsvierteln; hier drängen sich die niedrigeren Richter, die Advokaten, die Kanzleiangestellten; die Angeklagten müssen stundenlang warten, fallen in der stickigen Luft in Ohnmacht, kurzum, dem Bild, das wir uns bereits von der geheimnisvollen Instanz gemacht hatten, werden allerhand charakteristische Züge hinzugefügt, die dieses Bild zwar bereichern, aber es im Grunde unverändert lassen. Dieses Wesen des »Gerichts« ist, wenn ich mich etwas paradox ausdrücken darf, die Wesenlosigkeit – die Wesenlosigkeit, mit der ein schwerfälliges, mächtiges Monster langsam, aber sicher seine Opfer erdrückt, ohne sich auch nur im Geringsten dafür anstrengen zu müssen; die Wesenlosigkeit, mit der das Allgegenwärtige und Alltägliche sich in den Dienst des teuflischen Prinzips stellt – eigentlich ist das schon zu viel gesagt, denn der Idee, die das »Gericht« beherrscht, klebt, außer der Wesenlosigkeit ihrer Verkörperung, auch noch eine höhere Wesenlosigkeit an. Ist dieses »Gericht« teuflisch? Ist es göttlich? Oder ist es etwa neutral in dem Sinn, dass es sich, genauso wie das wirkliche Leben, wie wir es alle kennen, jeder Interpretation öffnet? Wir wissen es nicht. Bis zum Ende bleiben wir im Ungewissen, was das »Gericht« nun eigentlich ist, was es will; das heißt: Wir können zwar einige Hypothesen aufstellen, sie gegeneinander abwägen und eine Wahl treffen, aber der Roman selbst verschafft uns darüber keine zuverlässigen Belege.
Eines der ergreifendsten Momente – ergreifend trotz des unverkennbar Humoristischen dieser Episode – ist Josef K.s Besuch beim Maler Titorelli, eine Art Spezialist im Porträtieren hoher Richter am »Gericht«. Durch diese Beziehungen ist er vielleicht imstande, Josef K. über die Art der Beschuldigungen, die gegen ihn vorgebracht worden sind, zu unterrichten; aber seine Auskünfte sind ziemlich nichtssagend und verlieren sich in allerhand Spitzfindigkeiten über das Verfahren. Nun wohnt Titorelli in einem Dachkämmerchen – einem Kämmerchen mit zwei Türen. Durch die eine Tür ist Josef K. hereingekommen. Als der Besuch zu Ende ist, sagt Titorelli, dass er am schnellsten durch die andere Tür nach draußen kommen könne. Er öffnet die Tür, und da streckt sich ein langer Gang vor ihm aus, den er sofort als einen zur »Kanzlei« gehörigen Gang wiedererkennt. Doch wohnt Titorelli in einem ganz anderen Stadtteil als in dem, in dem er bislang diese »Kanzlei« aufgesucht hatte. Die Bedeutung ist deutlich: Man kann nirgendwo hingehen, ohne auf das »Gericht« zu stoßen. Auf allen Dachböden drängen sich Angeklagte, Beamte, Advokaten – und ich möchte hinzufügen: Internierte! –, die ganze Stadt, ja, das ganze Land, ist eigentlich ein großes Gefängnis. Jetzt verstehen wir auch besser, warum Josef K. zu Anfang des Romans nicht wirklich verhaftet wurde: Dies war ja nicht mehr nötig. Es ist nun einmal nicht möglich, dem »Gericht« zu entkommen. Man ist schon ein Gefangener, auch wenn man meint, noch in Freiheit zu sein.
Wenn man mich nun fragt, was dies alles zu bedeuten hat, diese sonderbare Phantasie, die sich mitten zwischen einer Parodie der richterlichen Macht und einem irrsinnigen Albtraum zu bewegen scheint, dann stehe ich vor einer Schwierigkeit, die damit zusammenhängt, dass, wie ich schon sagte, Kafka selbst jegliche ›Auslegung‹ vermeidet und nur beschreibt, was er sieht – in seiner Phantasie sieht, wohlverstanden. Indirekt kann man wohl einiges über Kafkas Absichten in Erfahrung bringen, indem man zum Beispiel in seinen Aphorismen aufsucht, wie er über das Schuldproblem denkt, – denn es ist wohl deutlich, dass dieses Schuldproblem in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt werden muss, sobald man annimmt, dass Der Proceß nicht ›nur so‹ eine grausige, phantastische Erfindung ist, sondern einen tieferen Sinn hat, der vom Autor mehr oder weniger bewusst hineingelegt worden ist. Es würde zu weit gehen, hier das gesamte Œuvre Kafkas als Zeuge aufzurufen. Ich möchte mich deshalb darauf beschränken, folgende Fragen zu stellen: Ist es Kafkas Absicht, zu zeigen, dass Josef K. schuldig oder dass er unschuldig ist? – Und falls er schuldig ist, worin besteht dann seine Schuld? Und falls er unschuldig ist, was hat dieses Verfahren dann zu bedeuten? Bewusst lasse ich mich dabei nicht auf die theologischen Aspekte des Schuldproblems ein, obwohl diese bei einer tiefergehenden Analyse des Romans selbstverständlich nicht unbesprochen bleiben sollten.
Nehmen wir an, dass Josef K. schuldig ist, d.h., dass er durch das »Gericht« für ein Vergehen bestraft wird, dann stehen wir nicht so sehr vor der Schwierigkeit, anzugeben, worin dieses Vergehen besteht, als vielmehr vor der Unmöglichkeit, die Grausamkeit der Strafe – Josef K. wird schließlich durch einen Messerstich seines Lebens beraubt – mit diesem Vergehen in Übereinstimmung zu bringen. Natürlich hat Josef K., ein Mensch wie wir alle, wohl etwas auf dem Kerbholz. Vor allem sein Verhältnis zu Frauen, wozu man im Roman einige Hinweise findet, lässt zu wünschen übrig. Aber wie man es auch drehen und wenden will: Diese Strafe für dieses Vergehen bedeutet ein lächerliches Missverhältnis. Da dieses Missverhältnis uns als solches interessiert, wäre es klug, uns gleich der zweiten Hypothese zuzuwenden, der Hypothese nämlich, dass Josef K. unschuldig ist. In diesem Fall ist das Missverhältnis noch deutlicher: Es wird zu etwas Monströsem.
Nun kann man in Der Proceß einen gewichtigen Hinweis dafür finden, dass dies auch tatsächlich Kafkas Meinung ist. Das vorletzte Kapitel ist einem Gespräch in einem Dom zwischen Josef K. und einem Kaplan gewidmet, der ihm seinen Tod ankündigt. Im Laufe des Gesprächs sagt Josef K. die unvergesslichen Worte: »Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein?« – Worauf der Kaplan ihm sofort ins Wort fällt, indem er sagt: »Das ist alles gut und schön, aber so pflegen die Schuldigen zu reden.« Wir haben also die Wahl zwischen den folgenden zwei Möglichkeiten: Entweder ist Kafka mit Josef K. einig und glaubt nicht an seine Schuld – oder sagen wir es allgemeiner: glaubt nicht an die Schuld des Menschen –, oder Kafka ist mit dem Kaplan einig und ist der Ansicht, dass der Mensch doch schuldig ist, auch wenn er sich nicht schuldig fühlt und auch wenn er, nach der Bedeutung, die man gewöhnlich mit diesem Wort verbindet, nicht schuldig ist. Ich kann es natürlich nicht beweisen, aber neige doch zur ersten Unterstellung; jedenfalls meine ich annehmen zu dürfen, dass diese Unterstellung, wenn auch nicht Kafkas völlige Zustimmung, dann doch seine Sympathie hat. So gesehen, haben wir alles Recht, Josef K. unschuldig zu nennen, so dass wir nun eine Erklärung finden müssen für die systematische Verfolgung, der er ausgesetzt ist, und für das grausige Urteil, das sein Leben vernichtet.
Mir scheint, meine Herren, dass wir Zivilinternierte besser als wer auch immer fähig sind, uns in Kafkas Gedankengang hineinzuversetzen, als er, wie wir jetzt unterstellen, einem völlig unschuldigen Josef K. dieses grausige Los zuteilwerden ließ. Auch wir sind unschuldig und trotzdem werden wir hier eingesperrt. Viele von uns wissen nicht einmal, was sie ›verbrochen‹ haben. Andere wissen es nur zu gut; aber an erster Stelle sehen sie ihre Haltung oder ihr Handeln nicht als ein Vergehen; und an zweiter Stelle wird uns gerade versichert, dass wir hier nicht für irgendein Vergehen sitzen, sondern nur weil wir sind, die wir sind. Damit ist alles gesagt: Wir sind, die wir sind, und darum sitzen wir hier. Ich will nicht bestreiten, dass sich unter uns welche befinden können, die diese Gefangenschaft doch noch als eine Art Strafe betrachten, jetzt nicht als eine Strafe für vermeintliche oder tatsächliche politische Sünden, sondern für eine mehr ›private‹ Sünde, wenn ich mich so ausdrücken darf, die das Schicksal uns hier büßen lässt. Als individuelles Verständnis des tieferen Sinns unseres Aufenthalts hier muss dies natürlich ohne Vorbehalt hingenommen werden: Jeder ist frei, seine eigenes Schuldproblem in das Schicksal, das er erleidet, zu projizieren. Aber ich meine doch wohl sicher annehmen zu dürfen, dass dieses Verständnis eine Ausnahme bleiben wird, und dass weitaus die meisten unter uns sich nicht schuldig, in welcher Hinsicht auch immer, fühlen und, ich möchte noch einen Schritt weitergehen, dass sie sich, was ihr Privatleben angeht, sogar weniger schuldig fühlen, als wenn sie am 4. oder 5. Mai, oder einige Jahre vorher, nicht verhaftet worden wären. Mit ein paar Ausnahmen befinden wir uns alle im Stadium des Josef K. unmittelbar nach seiner sogenannten Verhaftung. Wir nehmen die Verfahren nicht au sérieux: Wir sehen die lächerlichen Seiten der Situation, in der wir uns befinden; wir halten Appell ab, wie noch nie in der Geschichte der Menschheit und selbst in der Kriegsgeschichte nicht Appell abgehalten wurde – in einem völlig verdunkelten Theatersaal eines Seminariums –; wir amüsieren uns auf den Dachböden mit den überraschenden Verwicklungen, wozu unser Aufenthalt hier führt, kurzum: Wir sind in jeder Hinsicht aufs Zweckmäßigste ausgerüstet, um der Schuldpsychose, die uns bedrohen könnte, die Stirn zu bieten. Dabei vergesse man allerdings nicht, dass wir, aufgrund der kleinen Gemeinschaft, die wir hier bilden, uns in einer unvergleichlich günstigeren Position als Josef K. befinden, der alles allein ausfechten muss. Im Allgemeinen kann man wohl sagen, dass jede Strafe – auch eine unverdiente Strafe – die Tendenz aufweist, Schuldgefühle hervorzurufen, sei es dadurch, dass eine verständliche Niedergeschlagenheit, eine psychische Malaise, sich ohne weiteres in Schuldgefühle umsetzt, oder sei es, dass wir nun einmal finden, unbewusst finden, dass Strafe und Schuld zueinander gehören. Im Falle Josef K.s ist dies besonders deutlich, denn zuerst wird er verhaftet (wenn auch nur pro forma) und als ›Angeklagter‹ behandelt. Danach wird er von seiner Umgebung für ›schuldig‹ befunden und dementsprechend behandelt, und schließlich hält er sich selbst für schuldig.
Schließlich ist dann noch die Frage zu beantworten, aus welchen Motiven die Richter selbst, die Organisatoren des »Gerichts« in Kafkas Roman, dieses grausige Spiel betreiben. Man könnte mir entgegenhalten, dass diese Frage unsinnig ist, weil diese Richter nur die Verkörperung einer Idee sind, – der Idee der Gerechtigkeit oder der Idee der absoluten Schuld oder der Idee der Erbsünde oder wie man noch fortsetzen möchte. Aber wenn wir diese Idee und diese Organisation aus Der Proceß in das wirkliche Leben übertragen, haben wir es doch immer mit wirklichen, lebenden Menschen zu tun, die die Idee verkörpern und der Organisation dienen, Menschen, die ihren eigenen, konkreten Zielen nachstreben und die offensichtlich ihren Vorteil darin sehen, eine Funktion zu erfüllen, die dann, allgemein gesagt, wohl durch die ›Idee‹ bestimmt sein kann, ohne dass dies der Wirksamkeit von mehr psychologischen Triebfedern Abbruch tut. Auf eine dieser Triebfedern weist Kafka in einem Fragment selbst hin, das hinten im Roman abgedruckt worden ist. Josef K. hat dort einen Traum, in dem er sich selbst in der Uniform eines Beamten des »Gerichts« sieht, und sofort ist alle Angst und Beklemmung von ihm abgefallen, und er fühlt sich als ein freier Mann! Umgekehrt ist anzunehmen, dass viele Beamte und Richter, auch hohe Richter, sich in den Dienst der Organisation gestellt haben, um sich letztlich vor Anklagen zu schützen. Dies ist ein wenig edles, aber sehr verständliches Motiv, zu dessen Studium uns auch gegenwärtig in reichem Maße die Gelegenheit geboten wird. Aus dem Roman wird übrigens auch ersichtlich, dass die Richter und Beamten noch allerhand andere Vorteile genießen: materielle Vorteile, Unantastbarkeit, eine gewisse moralische Zügellosigkeit und so weiter.
Aber all dies reicht, das versteht sich von selbst, nicht aus, um das Entstehen einer solchen Organisation zu erklären. Hier muss ein viel mächtigerer und vor allem viel allgemeinerer Impuls dahinterstecken. Denn wir können uns tatsächlich die Bedeutung dieser Organisation, dieses »Gerichts«, nicht allgemein genug vorstellen. Diese Bedeutung überschreitet bei weitem die Grenzen von Kafkas außerordentlicher Erfindung und überschreitet zugleich – es ist schon gut, darauf noch eben zu verweisen – die besondere politische Situation, mit der wir in den letzten Jahren zufällig vertraut wurden.
Das »Gericht«, in seinem allgemeinen, symbolischen Zweck und Sinn, ist zeitlos. Man trifft den Zweck und Sinn, der darin zum Ausdruck kommt, in jeder kollektiven Organisation, in jeder Organisation an, die Macht ausüben will. Es ist gleichgültig, ob diese nun eine religiöse, eine politische, eine juristische oder eine ökonomische Organisation ist. Eine derartige Organisation will Macht über alles ausüben, was außerhalb ihrer liegt, also an erster Stelle über den Einzelnen, der sich vorläufig noch ihrer Macht entzieht, über das freie und autonome Individuum. Und unter den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, dieses Individuum in ihren Machtzirkel zu ziehen, zu etwas zu zwingen, in Angst zu versetzen, zu terrorisieren, muss an erster Stelle der Missbrauch der vagen oder latenten Schuldgefühle erwähnt werden, die jeder Mensch besitzt und die man, vorausgesetzt man verfügt über die richtige ›Methode‹, immer aktivieren und für die eigenen Zwecke ausbeuten kann. Die große Kunst ist es, seinen Mitmenschen in die Position des ›Schuldigen‹ zu drängen. Die große Kunst ist es, ihn zu beherrschen, indem man seine moralische Feinfühligkeit ausnützt. Das heißt, man beherrscht seinen Mitmenschen nicht dadurch, dass man stärker ist als er, sondern dadurch, dass man ihn schwächer macht, als er ist, dadurch, dass man ihn mit Gewissensbissen schlägt, dadurch, dass man auf sein Gewissen spekuliert, kurzum: dadurch, dass man ihm die Schuld gibt, gleichgültig, wovon. Hat man ihm einmal die Schuld gegeben – und wir alle wissen, welche wichtige Rolle dieses ›Schuld Geben‹ beispielsweise unter Schulkindern und unter primitiven Typen spielt! –, dann wird er sich nicht mehr dieser Suggestion entziehen können, denn es ist wohl immer irgendetwas in seinem Leben zu finden, aufgrund dessen er sich tatsächlich für ›schuldig‹ halten kann, und das ihn dann, tausendmal verstärkt durch den moralischen Zwang, den die Organisation auf ihn ausübt, nicht mehr verlässt und ihn bis zu seinem Tode verfolgt.
So haben wir die ›Idee‹ von Der Proceß in letzter Instanz, unter dem Gesichtspunkt des moralischen Zwangs, zurückgeführt auf das Verhältnis zwischen Kollektivität und Individuum. Dies ist eine mögliche Interpretation. Am allerwenigsten behaupte ich, dass keine anderen Erklärungen möglich sind, und ebenso wenig, dass keine andere Sichtweise auf dieses Verhältnis zwischen Kollektivität und Individuum möglich ist. Es ist nun mal keine Gesellschaftsbildung denkbar, ohne dass die Gruppe den Einzelnen mit ziemlich rauen und oft moralisch unzulässigen Mitteln zu etwas zwingt. Indem man dies einsieht, könnte man, als Leser von Kafkas Roman, selbst dazu kommen, Partei für die Organisation und in gewissem Sinne gegen das Individuum zu ergreifen. Aber diese Haltung ist nicht die unsrige, wie mir scheint! Die Verhältnisse, unter denen wir uns hier befinden, führen nun einmal dazu, dass wir, als Leser und Kommentatoren von Der Proceß, keine Partei ergreifen für die Kollektivität und den moralischen Zwang, den sie ausübt, sondern für das Individuum und nur für das Individuum – das freie Individuum, die individuelle Freiheit. Und ist auch dies nicht das Einzige, das Kafka in seinem Buch hat ausdrücken wollen, es ist ganz gewiss ein Gedanke, der ihm nicht fremd gewesen sein kann, und der es also auch aus objektiven Gründen verdient, hervorgehoben zu werden.
Simon Vestdijk
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Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2024/1
In derselben Ausgabe der Neuen Rundschau ist ein Kommentar von Gerhard Kurz zu dem Vortrag von Simon Vestdijk abgedruckt.