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Wahlkampfroman von Marlene Streeruwitz

Magazinteaser Marlene Streeruwitz

Am 29. September findet in Österreich die Nationalratswahl 2024 statt. Wie schon zweimal zuvor begleitet Marlene Streeruwitz den Wahlkampf mit einem Fortsetzungsroman im Internet. Die erste Folge wird hier mit veröffentlicht, alle weiteren Folgen finden Sie jeweils ab Donnerstagabend auf www.marlenestreeruwitz.at
 

Die Wahlkampfromane stellen die Fragen zum Politischen auf literarische Weise und können so beschreiben, wie Politik und Wirtschaft auf die Lebenswirklichkeiten der einzelnen Personen eindringen. 

Marlene Streeruwitz
© Wolfgang Paterno / picture alliance

Alle müssen an allen Ressourcen genügend beteiligt werden

Frau Streeruwitz, Sie haben bereits 2006 und 2016 Wahlkampfromane geschrieben. Was war für Sie ausschlaggebend, diese Reihe 2024 fortzusetzen?
Mehr denn je geht es darum, den Politsprech in Politik und Medien den vielen Lebenswirklichkeiten gegenüberzustellen. Damit soll dem immer weitergeführten ideologischen Versuch Einhalt geboten werden, allgemeine Werte als politisches Ziel zu formulieren und damit die Personen selbst dazu zu bringen, ihre eigene Situation diesen Zielen hintanzustellen. Sich also wieder in den Dienst von Singularen wie Volk, Heimat oder Antimigration zu stellen. 

Der Wahlkampfroman erscheint in kurzen Kapiteln jeweils im Wochenabstand. Was gefällt Ihnen an diesem Format?
Ich finde Fortsetzungsromane sind besonders interessant. Es werden doch diese Leben im Roman mit denen der Lesenden parallelgeführt. Das ist eine ganz andere Zeitrechnung als im Roman in Buchform. 

Die Kapitel werden jeweils am Donnerstagabend online gestellt. Warum an diesem Tag?
Wir sind im Jahr 2000 bei den Protesten gegen die Beteiligung der FPÖ an der Regierung am Donnerstag um 19.00 Uhr zu den "Wandertagen" aufgebrochen. In gewisser Weise sind die Folgen des Wahlkampfromans Berichte aus der Wandertagwelt. 

Im ersten Kapitel begegnen wir einer Gruppe von Menschen, die in prekären Verhältnissen leben und sich den Wohnraum teilen. Ist die WG die Wohnform der Zukunft?
Die Sesshaftigkeit, wie wir sie heute kennen, wird sich ändern müssen und Modellen Platz machen, die sich auf den jeweiligen Lebensabschnitt, die Familiensituation in Bezug auf die Ressourcen, beziehen wird. Je früher wir lernen, dass wir einander beistehen müssen und wir unsere »Heimat« füreinander sein müssen, desto leichter wird die Bewältigung der Zukunft vor sich gehen können.

Ihre Figuren sprechen eine Vielzahl an virulenten Themen an: Inflation, Jobverlust, Armut, Feminismus, Post-Corona, Machtmissbrauch etc. Sind es diese Themen, die die Wahl entscheiden werden?
Das scheint mir weltweit der Fall zu sein. Die Personen beziehen sich auf ihre Lebenswirklichkeit, und wenn sie die als subaltern empfinden, dann reagieren sie mit ihrem Wahlverhalten. Es war eben nicht genug, die Personen andemokratisiert immer nur von einem Mangel in den nächsten zu führen. Es geht schon darum, dass alle an allen Ressourcen genügend beteiligt werden müssen. Das gilt für Österreich genauso wie für die USA. 

Was ist Ihr größtes Ziel, das Sie mit dem Wahlkampfroman erreichen möchten?
Die friedliche Mitbestimmung der Vielen.

Es ist nie zu spät.
Wahlkampfroman 2024.

Kapitel 1.

"Es ist viel zu spät." Tilly [1] stellt die Butter in den Eiskasten zurück. "Das hätte vor 30 Jahren begonnen werden müssen."
"Aber wir müssen uns trotzdem eine Zukunft vorstellen können." Christine [2] geht zum Eiskasten und holt die Butter wieder heraus. 
"Ein Verkehrskonzept zwischen Wien und Niederösterreich, und hunderttausend Autos müssen nicht jeden Tag benutzt werden. Aber diese ÖVP-Tante da mit ihren rechten Buberln. Und die Pendlerpauschale? Die sollte mit Nachhaltigkeit verbunden sein. Das ergibt Zukunft."
"Zukunft? Zukunft?", murmelt Hannes. [3] Er kommt im Bademantel in die Küche geschlurft. "Schneid dir doch die Butter ab, die du brauchst, und stell sie wieder in den Eiskasten. Wenn das der Tilly so wichtig ist.", sagt er zu Christine. 
"Die Butter ist seit vorigem Jahr um fast 17 % teurer geworden. Warum muss ich das immer wieder sagen?" Tilly schiebt Christine die Butter zu. "Der Hannes hat schon recht.", sagt sie.
"Wenn ich immer nur so viel Butter nehme, wie ich brauche, dazu muss die Butter vor mir stehen." Christine setzt sich und kratzt mit dem Messer Butter ab und streicht sie auf ihr Brot. "Das ist viel sparsamer." 
Tilly verdreht die Augen. "Bei der Hitze? Ich mach mir einen Kaffee. Wer braucht noch einen." Hannes hebt die Hand und geht daran, sich seinen Haferflockenbrei zu kochen. 
"Der Marwan ist...?" Hannes löffelt Haferflocken in das Reindl mit Wasser und schaut die beiden Frauen fragend an. Christine kratzt an der Butter. Tilly sucht eine Kaffeekapsel aus. 
"Was kann man denn tun?", fragt Hannes.
"MANN gar nichts.", sagt Christine.
"Er war halt schon überall. Und wenn die wirklich zwei Stationen von der Psychiatrie im Sommer schließen. Im AKH. Er wird nicht aufgenommen. Aber das bräuchte er." Tilly hat wieder Wasser in den Kaffeeautomaten eingefüllt. 
"Nimmt er seine Medikamente?", fragt Hannes. Er rührt seinen Brei auf dem Herd. 
"Glaubt ihr, es hat etwas damit zu tun, dass er Palästinenser ist, dass sie ihn immer wegschicken?", fragt Christine. Tilly kommt an den Tisch. Sie nimmt die Butter und stellt sie in den Eiskasten. 
"Eigentlich kann man ihn nicht hier wohnen lassen.", sagt Hannes. "Wirklich." 
"MANN kann schon wieder gar nichts tun.", faucht Christine. Sie patzt sich einen zweiten Löffel Marmelade auf das Brot ohne Butter. 
"Das kann schon sein." Tilly zuckt mit den Achseln. "Er bräuchte einen stationären Aufenthalt, traumatisiert wie der ist. So. Die schicken ihn von einem Spital zum anderen. Denen ist der lästig. Nicht das, was ich mir unter ärztlicher Hilfe vorstelle."
"Könntet ihr leiser sein?" Samira [4] kommt gähnend in die Küche. 
"Da hast du gleich einen Kaffee." Tilly reicht ihr die Tasse, nach der Hannes gegriffen hat. Tilly macht wieder Kaffee. Samira nimmt den Kaffee und setzt sich an den Tisch. "Geht es wieder um den Marwan?", fragte sie. 
"Aber sag zuerst. Wie war es gestern mit deinen Eltern?" Samira wendet sich an Christine.  
Christine verdreht die Augen. Sie setzt sich zurecht. "Meine Tochter! Meine Tochter nennt sich nicht Kommunistin!", macht sie ihren Vater nach. Alle lachen. Tilly stellt Hannes einen Kaffee auf den Tisch. "Der Kaffeepreis ist auch schon wieder um 7% gestiegen." 
"Ach, Tilly!", sagen alle im Chor.
"Ja. Das ist eure eigene und ganz spezielle Mindestpensionistin. Eine einzige Inflationsstatistik.", sagt Tilly und macht einen Knicks dazu. 
"Und was hast du gesagt?" Samira wendet sich wieder an Christine. 
"Ich bin weggegangen. Der wird sich schon gewöhnen daran, dass ich da mitmache.", meint Christine und nippt an ihrem Wasser.
"Dein Vater glaubt immer noch, dass deine Mutter zu ihm zurückkehrt? Dass er und sie wieder? Ich meine. Was sagte denn deine Mutter dazu?", fragt Tilly. Christine beißt in ihr butterloses Marmeladenbrot und schaut nachdenklich. Hannes leert seinen Haferflockenbrei in einen Teller und schneidet eine Banane hinein. "Ich gehe heute einkaufen. Gibt es die Liste schon?", fragt er.
"Der Marwan muss ausbaden, was die da in der Pandemie vergeudet haben." Samira rührt ihren Kaffee um. 
"Die Mama findet das richtig. Das mit meiner Politik. Und ich soll mit dem Franz zusammenziehen. Warum warten, hat sie gesagt." Christine lacht. 
"Da hat sie recht. Schaut euch an. Ihr seid alle um die 30 und keiner von euch kann sich eine Familie leisten." Tilly macht den nächsten Espresso.
"Das ist kein Wunder. Wir alle baden das aus, was die da verschleudert haben. Mit ihrer Überförderung von ihren Spezis. Mit dieser Cofag.", sagt Hannes und stellt seinen Teller auf den Tisch. 
"Wenn der eigene Staat die Milliarden verjubelt und damit die Inflation auch noch verstärkt? Und wir sind brav zu Hause gesessen, während die unser Geld unter sich aufgeteilt haben." Tilly holt ihre Tasse Kaffee vom Kaffeeautomaten. 
"Diese Cofag-Sache. Das ist schon ... Überforderung durch Überförderung." Christine schüttelt den Kopf. 
"Ich könnte brüllen vor Wut.", seufzt Tilly. "Bis das Geld da von der Wirtschaft zurückgezahlt worden ist? Da ist das doch längst nichts mehr wert." 
"Überförderung. Ich möchte auch einmal überfördert werden." Samira schaut traurig in ihren Kaffee. "Wie viele Milliarden waren das?", fragt sie.
"400 Millionen. Soviel ich weiß. Kurz und Blümel.", stellt Christine fest.
"Das klingt wie Laurel und Hardy.", meint Hannes.
Christine geht zum Eiskasten und holt die Butter heraus. "Ich kann kein Marmeladenbrot ohne Butter essen.", sagt sie.
"Willst du die Butter oben auf die Marmelade streichen?", fragt Samira.
"Und die ÖMV hat 5 Milliarden Übergewinn aus der Energiekrise.", fügt Christine hinzu.
"Eben.", sagt Samira. "Die Butter oben auf die Marmelade."
"Aber da war schon Butter drunter.", stellt Hannes fest.
"Sehr viel Butter.", sagt Tilly. 
"Stell dir vor. Das als verfügbares Einkommen.", seufzt Samira.
"Na. Dann verstaatlicht doch wieder. Der Macron hat das ja auch gemacht.", meint Tilly.
Christine grinst. "Was wird mein Herr Papa dazu sagen?"
"Kinder. Ich muss langsam weiter.", seufzt Hannes. Er steht auf. Schwemmt seinen Teller ab und stellt ihn in den Geschirrspüler. 
"Willst du nicht noch einmal schlafen gehen?", fragt Tilly Samira. Die schüttelt den Kopf. "Ich muss einspringen. Zwei haben wieder Covid."
"Hört das nie auf?", fragt Christine.

 

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[1] Tilly S. Mindestpensionistin, die die Zimmer ihrer großen Wohnung in der Kaiserstraße vermieten muss, um die erhöhte Miete zahlen zu können. Sie ist Autorin und verdient seit der Pandemie nichts mehr.  
[2] Christine K. Architektin in Bildungskarenz.
[3] Hannes S. Bankangestellter, der mittlerweile Taxi fährt. Er spart auf eine Weltreise.
[4] Samira Z. Sie wurde als Buchhändlerin entlassen und machte eine Umschulung zur Altenpflegerin. 

 

Alle weiteren Folgen finden Sie jeweils ab Donnerstagabend auf www.marlenestreeruwitz.at

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Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen ...

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