Liebe Judith Hermann, ›Aller Liebe Anfang‹ ist Ihr erster Roman. Ich bin immer sehr interessiert an Auskünften zu den handwerklichen Mühen des Schreibens (logische Stimmigkeit, Aufbau, Tempus, Rhythmus etc.). Nun könnte man vielleicht meinen, dass dieser handwerkliche Aufwand bei einem Roman sehr viel höher sein müsse als bei einer Erzählung. (Ich bin mir da gar nicht so sicher.) Möchten Sie dazu etwas sagen? Gab es mehrere Anläufe, bis Sie den richtigen Ton fanden?
Ja, es gab einige Anläufe. Etliche, ich hab sie nicht gezählt. Als wäre der Text eine Person gewesen, für die es nur eine einzige mögliche Frage, ein einzig mögliches Wort der Ansprache gegeben hat; ich habe den Text also im übertragenen Sinne mehrfach angesprochen, und er hat nicht reagiert, oder er hat falsch reagiert, unwillig, gereizt. Ich habe viele Anläufe gemacht, um an den Text heranzukommen. Manchmal bin ich eine ganze Weile lang in die falsche Richtung gegangen, habe weiter geschrieben, obwohl ich eigentlich schon wusste – der richtige Weg, die richtige Form ist es nicht. Im Nachhinein denke ich, dass auch dieses Schreiben in die falsche Richtung zum Text gehört, ich muss es geschrieben haben, um zu verstehen, dass es so nicht gehen kann. Aber ich weiß, dass ich diesen Teil der Arbeit als sehr quälend empfand, jede Umkehr eine Strapaze, jeder Neuanfang oft auch ohne jede Zuversicht, pessimistisch und erschöpft. Und irgendwann gibt es dann aber diese kleine, sehr kleine Zäsur, eine Art unsichtbare Grenze, du gehst darüber hinweg und bist angekommen. Ein Satz oder zwei Sätze, ein Bild und eine Geste sind die richtigen gewesen – Glück gehabt. Vielleicht ist es so. Vielleicht ist es aber auch so, dass die Kapazitäten für die Anläufe begrenzt sind. Dass ich mich irgendwann – einfach – entscheiden musste.
Was war zuerst da in diesem Roman: ein Bild, ein Satz, ein Wort, eine Figur, eine Idee?
Ich würde sagen – eine Figur. Mister Pfisters Figur. Aber natürlich auch ein Bild, vielleicht das Bild von Esther auf dem Rand ihrer Badewanne sitzend? Die Idee von der Liebe als einer Zumutung. Oder all die kleinen Sätze, die das Kind Ava spricht. Möglicherweise war es so. Im Roman kann ich das nicht mehr so einfach auseinanderhalten. In einer Erzählung ist der Initiationsmoment für mich fast immer ein Satz, ein Satz, den jemand zu jemand anderem sagt und der mir wichtig erscheint, doppelbödig, abgründig, ein Satz, den ich in der Geschichte aufheben, zeigen und zugleich verstecken will. Die Erzählung läuft auf diesen Satz zu. Sie fängt ihn ein, verbirgt ihn und geht dann weiter und zu Ende. Im Roman, scheint mir, gibt es so viele dieser kleinen Momente, aber sie dürfen leichter sein, auch bedeutungsloser, sie dürfen mehr Ornament sein? In ›Aller Liebe Anfang‹ habe ich einige Sätze versteckt, die Schlüsselsätze für eine Erzählung gewesen wären. Aber ich habe gleichzeitig gemerkt, dass die Figuren – allen voran Stella und Mister Pfister – mehr Raum brauchen, dass ich deutlich mehr Zeit mit ihnen verbringen muss.
Der Roman ist vordergründig die Geschichte der Nachstellung eines Mannes im Liebeswahn. Aber unter, neben, über und in diesem Erzählvorgang lauern, wie mir scheint, viele andere Motive und Fragen. Darf man sagen, dass von den Formen der Angst erzählt wird, von der Dehnung der Zeit, von der Ordnung und ihrer bedrohlichen und/oder ihrer notwendigen Auflösung und von der Unmöglichkeit, einander wahrhaft zu erkennen? Ich lasse es einmal dabei. Hätten Sie Einwände?
Es freut mich, dass Ihnen das Wort lauern in den Sinn kommt. Ja, es lauern viele andere Motive und Fragen im Text, Motive und Fragen, die ich weiß oder die mir bewusst sind, und andere, die ich beim Schreiben nicht wusste, die der Text einfach mit sich gebracht hat, mit auf den Tisch gelegt hat, und ich kann sie erst jetzt erkennen, Fragmente, unbewusste Entäußerungen. Wenn man im Schreiben über diese Grenze gelangt ist, an der der Text sich verselbstständigt und sich, im allerbesten Falle, für eine kurze Weile wie von alleine schreibt, fügen sich auch die Motive von alleine ein, und wenn das dann gut geht, passen sie zueinander und finden ein fragiles und trotzdem deutliches Gleichgewicht. Der Traum, den Stella am Ende des Romans träumt, der Traum von dem kleinen Wesen in der Puppenstube in ihrem Kinderzimmer, ist mir wichtig, er ist kurz und zentral, und es ist ein Traum, den der Text sich im übertragenen Sinne ganz alleine ausgesucht hat. Das Wort Fabelwesen ist mir wichtig, Stellas Gedanke, dass wir aus dem Menschen, den wir lieben, ein Fabelwesen machen, wir statten ihn mit allem aus, wovon wir träumen, wir belasten ihn mit allen unseren Sehnsüchten, aber wir lassen ihn auch fliegen, er soll frei sein. Die langen Nachmittage und Abende mit einem kleinen Kind sind mir wichtig. Gedehnte Zeit, und wie wehmütig man sich dann später daran erinnern wird. Diese knappen und ja auch eher angedeuteten Sequenzen sind vielleicht wie Vorschläge, Worte, die Assoziationsketten auslösen können, einen vorsichtigen Dialog mit sich selber.
Sie erzählen von dem Einbruch eines Schreckens in eine geordnete Normalität. Ein Reihenhaus, eine Frau, ein Kind, ein Mann (meist abwesend). Ein anderer Mann klingelt an der Tür. Stella (die Hauptfigur) will nicht mit ihm sprechen. Doch er kommt immer wieder, beobachtet sie, hinterlässt Botschaften. Von mal zu mal steigert sich ihre Angst. Allerdings erfahren wir gleich zu Beginn des Romans, dass die Liebe Stellas zu ihrem Mann Jason dereinst auch aus der Angst geboren wurde, in einem Flugzeug, in dem der ihr noch fremde Mann ihre Hand hielt. Gehört die Angst zur Liebe? Zum Anfang der Liebe?
Ja sehen Sie, Fragen dieser Art sind ein sehr schönes Beispiel für die wechselseitige und unbedingte Wirkung von Schreiben und Lesen, Gelesenwerden. Wenn ich nur schreibe, dass Stella und Jason sich in einem Flugzeug kennenlernen, wenn das nur geschrieben wird, bleibt dieses Motiv eindimensional. In dem Moment, in dem es gelesen wird und aus dem Lesen heraus die Frage entsteht, ob die Angst zur Liebe gehört, geht es auf. Es wird lebendig, wirklich. Ich meine, dass ich das nicht weiß, während ich es schreibe. Ich schreibe zwei Menschen in ein Flugzeug hinein, ich ahne, dass das etwas meinen könnte – etwas meinen könnte über die bloße Metapher von der Liebe als Aufbruch, vom »den Boden unter den Füßen verlieren« hinaus – aber ich bin mir nicht sicher, und ich will es eigentlich auch gar nicht so genau wissen. Ich lasse die Augen zu. Ich wünsche mir was. Das Motiv gelangt zum Leser, und Ihre Frage gelangt dann zu mir zurück. Selbstverständlich gehört die Angst zum Anfang der Liebe, aber eigentlich verstehe ich das erst jetzt. Verstehen Sie, was ich meine?
Erzählt wird von dem Liebeswahn eines Fremden, der in Stellas Leben einzudringen sucht. Gehört der unnachgiebige Wunsch, in das Leben eines anderen Menschen einzudringen, positiv formuliert: das Leben eines anderen zu teilen, nicht zu jeder Liebe? Und ist es das, was die Geschichte so bedrohlich macht? Dass das Kranke und das Normale eng beieinanderliegen, ja zuweilen identisch sind?
Diese Wünsche, die Mister Pfister hat, die Forderungen, die er stellt, sind ganz normal, der Wunsch nach einem Gespräch, der Wunsch, den anderen anzusehen, der Wunsch, mit dem anderen einfach zusammen zu sein, was immer das dann in der Wunscherfüllung heißen mag; das einfache Zusammensein kann ja ganz entsetzlich werden. Normal ist das, solange es bei der einmaligen, einfachen Äußerung bleibt, wenn sich dieser Wunsch zwanghaft wiederholt und die Reaktion des anderen ignoriert, den anderen paradoxerweise ausschließt, dann wird es wohl krank, oder zumindest ungewöhnlich, anormal. Mister Pfisters Wunsch ist ja letztlich fast billig – ich möchte nur mal mit jemandem reden, es ist auch das, was uns in dieser Welt, in der wir leben, unentwegt vorgegaukelt wird, du musst jemanden haben, mit dem du reden kannst, rede mit jemandem, rede nur mal mit jemandem, sprich dich aus. Es scheint so einfach zu sein. Aber eigentlich ist es schwer, es ist das allerschwerste. Und Mister Pfister scheint das zu wissen – er behauptet ja nur, er imaginiert nur, er schreckt vor der Begegnung mit der wirklichen Stella zurück. Wahrscheinlich, weil er etwas besser weiß. Weil er ahnt, wie schwierig Nähe sein kann, was für Enttäuschungen das mit sich bringen wird – dieses Teilen des Lebens, der Versuch der Empathie.
Es gibt in dem Roman nicht nur die obsessive Liebe des Mister Pfister zu Stella, sondern auch die Liebe zwischen Stella und Jason. Die scheint im Vergleich zu Mister Pfisters heftigen Gefühlen eher kühl. Ist das die notwendige Erscheinung der Liebe, wenn sie in den Alltag kommt? Wird hier gefragt nach der Möglichkeit einer wohltemperierten Liebe? Kann es sie geben? Soll es sie geben?
Ich glaube, mir erscheint die Liebe zwischen Stella und Jason gar nicht so kühl. Sie scheint mir vorsichtig, zurückgenommen – vielleicht höflich? Es ist eine höfliche Liebe, eine Liebe, die den anderen eigentlich in Ruhe lassen will, dem anderen einen Raum geben will. Mag sein, dass das der Alltag mit sich bringt? Dinge, die man irgendwann über den anderen weiß, und die Erkenntnis, dass es genauso viele Dinge gibt, die man niemals wissen wird. Stella ist nicht unbedingt unglücklich in ihrem Leben mit Jason. Sie ist wohl manchmal ratlos. Oder erstaunt – welche Gestalten eine Liebe annehmen kann im Laufe der Jahre, mit wie wenigen Gesten man wie viel sagen kann. Nehme ich deine Hand, nehme ich deine Hand nicht. Am Anfang einer Liebe ist dieses Hand-in-Hand eine von unendlich vielen Gesten. Am Ende oder – nach einer Weile wird es eine zentrale Geste. Trotz all ihrer Reflexionen über ein Leben mit oder ohne Jason ist Stella für mich doch an seiner Seite. Sie empfindet eine heftige Liebe für Jason, und sie hält diese heftige Liebe zurück. Vielleicht tut sie das, weil sie befürchtet, Jason zu verschrecken? Ihm mit ihrer Liebe einen Schreck einzujagen, eben den Schrecken, den Mister Pfister ihr selber einjagt.
Das Auftauchen des Mister Pfister bedeutet für Stella eine radikale Veränderung ihres Lebens. Geht es in dem Roman nicht auch sehr grundsätzlich um die Frage, wie viel Veränderung im Leben wir vertragen oder uns wünschen müssen?
Ich selber bin jemand, dem Veränderungen sehr schwerfallen. Ich bin auf eine sicher pathologische Weise an feste Verhältnisse gebunden, es fällt mir schon schwer, ein Buch in meinem Bücherregal von einem in ein anderes Fach zu stellen, Stühle zu verrücken, eingeübte Abläufe zu unterbrechen. Ein egozentriertes Motiv aus ›Aller Liebe Anfang‹ ist diese meine persönliche Schwäche, der Satz »Veränderung ist kein Verrat« ist ein Satz, den ich mir selber sagen möchte, den ich selber einsehen will. Schreiben bedeutet natürlich ein Einkreisen, Umschreiben der Dinge, die den Schreibenden sehr beschäftigen. Stella wird durch Mister Pfister aus ihrem Leben gerissen, ihr Leben wird von Mister Pfister eingerissen. Aber am Ende der Geschichte bekommt sie dafür eine Art – Erkenntnis geschenkt. Am Ende kann sie die Veränderung annehmen, akzeptieren, sie kann sich stellen. Ich habe das so geschrieben, weil ich mir das für mich selber wünschen würde? Oder damit Stella diese Erkenntnis – statt meiner – leben kann.
Stella schreibt in einem Brief an ihre Freundin Clara, dass ihr Leben nun in etwa so aussieht, wie sie es sich zehn Jahre zuvor ausgemalt hatte: Mann, Kind, Häuschen. Ist das eine glückliche Vorstellung? Wurde Mister Pfister gar herbeigesehnt? Ist er, der Störer, zugleich ein Erlöser?
Was Stella da meint, ist vielleicht so etwas wie die Melancholie der Ankunft, die Traurigkeit in der Wunschvorstellung. Es ist alles da, was sie sich gewünscht hat – und etwas Entscheidendes fehlt, und es gibt den Gedanken, dass das womöglich immer so ist, dass etwas Entscheidendes immer fehlen wird, dass das Fehlen zum Leben dazugehört. Mister Pfister bricht das natürlich auf, für einen kurzen Moment werden die Verhältnisse aufgebrochen. Wie sie sich dann wieder zusammenfügen werden, bleibt dem Leser überlassen; der Aufbruch der Verhältnisse hat etwas Schreckliches, aber zugleich etwas Erlösendes an sich. Stella schließt Türen hinter sich. Lässt etwas zurück, sie schreibt in einem letzten Brief an Clara, sie werde sich, wenn sie gehe, nicht noch einmal umdrehen, es gebe keinen Blick zurück. Es gibt wenige Momente im Leben, finde ich, in denen das möglich ist, wir sind einen großen Teil der Zeit doch damit beschäftigt, zurückzusehen. Die Ereignisse zu ordnen, neu zu bedenken, zu befragen, wir kommen zu keinem Schluss. In der Zerstörung dieser Konstellation – Mann-Kind-Haus, ein abgeschlossenes Leben – liegt dann plötzlich der Moment der Befreiung, wenn ich dieses große Wort benutzen will. Und heute, Monate nach der Arbeit an diesem Buch, denke ich plötzlich, vielleicht hat es diesen Störer und Erlöser Mister Pfister nie gegeben, vielleicht ist er nur Stellas Wunschvorstellung gewesen, der krasse Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Veränderung.
Stella arbeitet bei einem Pflegedienst. Die hinfälligen Alten, um die sie sich liebevoll kümmert, sind Botschafter der Sterblichkeit. Ihr Kind zeigt das ungebrochene Vertrauen in eine Zukunft an. Ist das die Rahmung unseres Lebens? Und sind diese Formen der Liebe, die Liebe zum Kind und die barmherzige Hinwendung zu den Leidenden, die reinen Formen der Liebe?
Es gab eine erste Version des Textes, in der Stella einen anderen Beruf hatte, einen völlig anderen Beruf. Dieser Beruf war das Gegenteil vom richtigen Wort, der richtigen Geste, ich habe mich – und die Figuren – trotzdem mit diesem Beruf einmal durch den ganzen Text gezwungen, erstaunlich eigentlich, dass das durchzuhalten gewesen ist. Dann war der Text endlich fertig, und ich konnte sehen, dass er vollständig falsch war. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass das Falsche an Stellas Beruf lag, dass sie einen Beruf braucht, der ihr all das möglich macht, was ihr ja eigentlich doch irgendwie schwerfällt – Berührungen, Gesten, Zärtlichkeiten, Hinwendungen, einfache Sätze, keine Reue, schlichte Akzeptanz der Bedingungen. Als ich das einsah, kamen Esther, Walter und Julia von ganz alleine. Sie waren, wahrscheinlich, schon lange da gewesen, ich hatte sie nur übersehen. In den Szenen mit diesen alten Menschen sind die Verhältnisse klar. Eine Berührung ist eine Berührung, sie geschieht, wenn sie geschehen muss, sie meint etwas, und sie meint nichts, sie ist gleichermaßen bedeutungsvoll und bedeutungslos. Wenn Stella Esther berührt, ist das zärtlich und neutral zugleich. Es ist so, wie Walter denkt – die Dinge stehen niemals im Verhältnis zueinander, nimm es hin, lerne, damit umzugehen. In den Beziehungen zu den alten Menschen zeigt sich eine Form der Liebe, in der Liebe zum Kind eine andere, und die dritte zeigt sich in Stellas Gefühlen für Jason und in der Schwierigkeit, für diese Gefühle eine Sprache zu finden.
Interviews
Judith Hermann im Gespräch mit Silvia Bovenschen
›Aller Liebe Anfang‹ heißt der erste Roman von Judith Hermann. Auf die Fragen von Silvia Bovenschen gibt sie Auskunft über ihren Schreibprozess, versteckte Sätze und die Formen der Liebe, die sie in diesem Roman gefunden hat.